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Zu sich finden in der Sprache der anderen

Jamaica Kincaid schreibt über Kolonialismus, Schwarzsein und Frausein

Anfang Oktober 2020 wurde gemunkelt, Jamaica Kincaid (Antigua/USA) sei womöglich die nächste Literaturnobelpreisträgerin. Zum letzten Mal war der Preis im Jahr 1992 an einen afrokaribischen Autor gegangen: Derek Walcott aus Saint Lucia. Derek Walcott war indessen vor allem Lyriker. Und ein Mann. Jamaica Kincaid ist Autorin einer Vielzahl von Romanen, Essays, Kurzgeschichten und Non-Fiction. Und eine Frau, die die Black-Lives-Matter-Bewegung unterstützt. Schließlich fiel die Wahl des schwedischen Nobelkomitees letztes Jahr auf die US-amerikanische Lyrikerin Louise Glück. Sollte die langjährige Anwärterin Jamaica Kincaid dieses Jahr Glück haben, würde auch der (Neo-)Kolonialismus aufs Tapet kommen.

Gaby Küppers

Jamaica Kincaid heißt nicht seit ihrer Geburt Jamaica, und sie stammt auch nicht von jener Insel. Auch wenn dieser Name heute sogar in ihrem Pass steht, ist ihr Mädchenname vollkommen anders. Geboren wurde Jamaica Kincaid als Elaine Cynthia Potter Robinson am 25. Mai 1949 auf der karibischen Insel Antigua. Als die junge Elaine zu veröffentlichen begann, sollte die Familie nicht wissen, dass es im Grunde immer um sie ging. Vor allem um die Mutter, die wiederum aus Dominica kam, einer anderen winzigen Karibikinsel des englischen Commonwealth. Wie die Migrantin Jamaica Kincaid mit 16 Jahren in die USA, so ging auch die Mutter schon als junges Mädchen für immer von zu Hause weg – wegen der Enge, wegen des Vaters. Das Pseudonym zielte auf den Schutz der Familienverhältnisse ab, war aber auch aus Selbstschutz gewählt, wegen der Angst vor dem Scheitern, sagte Jamaica Kincaid später.

Angst vorm Scheitern – typisch weiblich, möchte man sagen. Zu schnell geurteilt. Da ist weit mehr. Die Wahl des Autorinnennamens ist auch von der Kolonie her gedacht. Elaine Robinson (ohne Potter, denn der Vater war, wie so oft in der Karibik, bei ihrer Geburt schon nicht mehr Teil der Familie) suchte nach einem Ausdruck für sich als koloniales Wesen, nach einem Namen, der beide Regionen ihrer Herkunft zusammenbringt. Alternativen für den Vornamen waren „Havana“ und „Dominico“ (sic). Für den Familiennamen sollte etwas Englisches oder Schottisches her, und Kincaid hatte einfach einen schönen Klang, so erinnert sie sich später. Bis 1981 war Antigua, heute eine Hälfte des Staates Antigua und Barbuda, noch englische Kolonie.

Jamaica, geborene Elaine, wächst somit als Untertanin ihrer Majestät auf. Als Schwarzes Kind sechseinhalbtausend Kilometer vom weißen „Mutterland“ entfernt. Da alle, außer den Kolonialbeamten und ihren Familien, Schwarz sind, ist die Hautfarbe nicht der Rede wert.

Im Roman „Annie John“ (1985, dt. 1989) findet Annie ein Mädchen namens Ruth in ihrer Schulklasse reichlich blöde. Dass Ruth, Tochter des Pastors aus England, weiß sein muss, wird nicht erwähnt. Man spricht Englisch, man lernt in der Schule Weltgeschichte aus Sicht der Kolonialmacht, man betet einen englischen Gott an und man feiert den Geburtstag einer verknittert aus ihrem Porträt im Klassenzimmer blickenden Königin Victoria, ohne zu wissen, dass sie längst tot ist. Alles ist immer nur Englisch. Ein stetes Thema für Jamaica Kincaid: Keine eigene Sprache zu haben, nur die „des Verbrechers“.1
Sie bewegt sich virtuos in der Sprache der anderen. Aber dennoch: Seit sie Antigua verließ und als Au-Pair in die USA nach Vermont ging2, sind ihre Texte gleichsam ein kreisendes Sich-Ab-Schreiben von den vorgegebenen Formen und Formalien. Den Anfang machte ihre Kurzgeschichte „Girl“ (dt. „Mädchen“). Sie besteht aus einem einzigen Satz und vereint alle Vorschriften, die ein im Sinne des „Mutterlandes“ wohlerzogenes Mädchen verinnerlichen soll. Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln und nur ja keine Schlampe sein. Der Text ist wie von der Mutter gesprochen. Aber auch wie von der Tochter gehört. Mit dieser kunstvollen O-Ton-Verdichtung machte sich Jamaica Kincaid in der Wochenzeitschrift New Yorker bekannt und sollte fortan deren Kolumnistin sein. Wie sie es geschafft habe, bei so einem berühmten Blatt anzuheuern, wurde sie später gefragt. Weil ich den Sohn des Herausgebers, Allen Shaw, geheiratet habe, antwortete sie. Understatement, und ebenso kokettes Spiel mit dem Klischee.

„Mädchen“ steht am Anfang der ersten Buchveröffentlichung, dem Erzählband „Am Grunde des Flusses“ (1983, dt.1986). Ins Deutsche wurde er von Sarah Kirsch übertragen – wohlgemerkt: nicht übersetzt. Und so ist es: Aus dem einen Satz sind 54 geworden (wenn ich richtig gezählt habe). Die bunt durcheinander gewürfelten Anweisungen bringen auch zerhackt gut die Zurichtung des Mädchens zum Ausdruck. Aber auch gut genug? Jahrzehnte vor der Diskussion um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht „The Hill we climb” bei Joe Bidens Amtseinführung (und ohne die klare politische Positionierung der ehemaligen DDR-Autorin Sarah Kirsch schmälern zu wollen) drängen sich zwei Fragen auf: Sollte Jamaica Kincaid damals durch eine bekannte Autorin für ein deutsches Lesepublikum „aufgewertet” werden? Und: Wie weit darf eine Übersetzung interpretieren und vom Original abweichen?
Im Jahr 1985 veröffentlichte Jamaica Kincaid ihren ersten Roman, „Annie John“ (dt. 1989). In der Knaur-Taschenbuchausgabe steht dann nur noch klein und versteckt im Klappentext: „Aus dem Amerikanischen von Barbara Hennings“. Einen weiblichen „bildungsroman“ (mit kleinem „b“) nannte ihn eine US-amerikanische Kritikerin. Eine männliche Gattung auf weiblich gewendet? Eher eine weibliche Auseinandersetzung mit Kolonialismus. Annie John spricht selbst. Wie sie aufwächst, in Schulen mit englischem Lehrplan kommt, Freundschaften schließt, krank wird, einen schwierigen Ablöseprozess von der geliebten Mutter durchmacht und am Ende nach England für eine Krankenschwesterausbildung geht. Verlassen (müssen), nicht Sich-Einfügen, das steht also am Ende. Der Bildungskanon aus England hat nicht funktioniert. Annie schafft es bei all ihrem Talent nie, die Weltkarte nach Vorgabe abzumalen, und verweigert sich damit der Übernahme des eurozentrischen Blicks. Bei Aufsätzen glänzt sie in der Schule, doch im Zeugnis steht, außerhalb des Schulgebäudes sei sie wild und ungezügelt. Ihre beste, heimliche (!) Freundin ist das „Rote Mädchen“, das Mädchen, das keinen (englischen) Namen hat wie alle anderen, das schmutzig (pfui) herumläuft und mit dem sich Annie heimlich in einem Leuchtturm trifft. Als das Rote Mädchen fortziehen muss, träumt Annie, wie sie mit ihm am Strand mit Steinen nach Schiffen wirft, diese kentern und die Mannschaften elend sterben. Ein Traum vom Sieg über die englische Besatzungsmacht. Das anziehendste Bild in Annies Geschichtsbuch ist „Kolumbus in Ketten“. In der Schule schreibt sie einen ihr passend scheinenden Satz darunter, den sie ihre Mutter über deren Vater hat sagen hören: „Der große Mann kann nicht mehr scheißen.“ Die Lehrerin war not amused.
„A Small Place“ („Nur eine kleine Insel“,1990) erschien 1988, eine wütende Abrechnung mit Bilderbuchvorstellungen über Antigua durch die Gegenüberstellung mit der Realität einer herrschenden, den kolonialen Vorbildern Englands und den heutigen USA abgeschauten Kleptokratie. Doch dieses „wütend“ würde Jamaica Kincaid nicht gelten lassen, da damit keine literarische Kategorie gemeint sei. Das Schreiben von Schwarzen werde stereotyp als „wütend“ charakterisiert, als sei das Sich-Wehren gegen Unterdrückung das einzige Schreibmotiv von Schwarzen, gleichsam der erschöpfende Oberbegriff für deren schriftstellerisches Vermögen. Der schmale Band ist eine vollendete Persiflage auf die Art von Sprache, die in Reiseprospekten benutzt wird und die Erwartungen von Sonne, Leben fast umsonst und landestypischen Speisen bedient. Jamaica Kincaid kontrastiert diese mit Beschreibungen realen Elends hinter Hochglanzfassaden und einer dritten Ebene von Fakten und Analysen von korrupten Regimes, Banken, Autofirmen sowie der Umweltzerstörung im vorgegaukelten Ferienparadies. Rassismus und Schwarzsein werden hier erstmals im Werk Jamaica Kincaids deutlich genannt. Die Übersetzerin Ilona Lauscher, deren Name auch in diesem Band wieder nur versteckt im Klappentext auftaucht, hat sich dafür entschieden, das englische „you“ mit „Sie“ in der Ansprache an Tourist*innen nach Art von Urlaubsbroschüren zu übersetzen. Außerdem kommt der Tourist nur in der männlichen Form vor, während das englische „tourist“ geschlechtsunspezifisch bleibt. Nun mag frau das mögen, weil die angesprochenen Touristen fies sind. Ein kumpelhaftes „du“ macht sich erst allmählich in deutschen Prospekten breit, seit Telekom und Facebook dies über Internet hoffähig machen. Wofür hätte sich Jamaica Kincaid wohl entschieden, für Abstand-Sie oder locker-flockiges Du?

Ihre Sicht auf Antigua von außen und innen – was feministische Kritikerinnen als weibliche Schreibweise der Ausgeschlossenen kennzeichnen – brachte Jamaica Kincaid fünf Jahre Einreiseverbot auf die Insel, wegen Rufschädigung. Aber auch schon zuvor hatte sie Schwierigkeiten mit ihrem US-Verleger.

In den meisten ihrer Schriften ist Jamaica Kincaids Bezug zu den Protagonist*innen weitaus direkter, wenn auch Antigua als Heimatinsel durchaus Hautnähe bedeutet. Dass sie wesentlich autobiographisch schriebe, findet sie allerdings unsinnig. In jedes Schreiben flössen persönliche Erfahrungen ein, insofern sei Literatur immer autobiographisch. So schöpft das frühe „Mädchen“ zweifellos aus allem, was zu ihrer Zeit Mädchen in den Kolonien aufoktroyiert wurde. „Annie John“ hat viel von Jamaica Kincaids Mutter, „Mr. Potter“ (2002) ist eine Art Auseinandersetzung mit dem Vater, den sie als Kind nicht kannte. „Die Autobiographie meiner Mutter“ (1996, dt. 2013) bringt die Paradoxie ihres Schreibens im Titel auf den Punkt: Die Tochter könnte nur eine Biographie ihrer Mutter herausgeben.
Jamaica Kincaid selbst hatte übrigens zwei Söhne. Und wurde, so sagt sie, deswegen zur Jüdin. Im Jahr 1993 konvertierte sie zum Judentum, der Religion ihres Mannes, von dem sie sich 2002 scheiden ließ. Sie würde sonst auf einem anderen Friedhof beerdigt als ihre Kinder, gab sie als Grund an. Jüdische Kreise wurden auf sie aufmerksam als Minderheit in der Minderheit. Im Jahr 2017 erhielt sie den Dan-David-Preis. Nach Israel reist sie oft, ihre Interviews dort sind immer kritisch gegenüber der dortigen Besatzungs- und Sprachpolitik. Nach ihrer Identität gefragt, sagt sie: „Schwarzsein ist ganz offensichtlich ein soziales Konstrukt ... Frausein [aber] prägt wirklich deine Gedanken.“3 Gar nicht schlecht als Zusammenfassung der Essenz ihrer Literatur!