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Die Zerstreuung der Sporen

Latinx-Diaspora und (trans)nationaler Aktivismus in Deutschland

Sozialer Aufstand in Chile, Proteste gegen Bolsonaro, Nationaler Streik in Kolumbien, all diese großen Bewegungen sind in den letzten Jahren hierzulande stets von aktiven, hier lebenden Lateinamerikaner*innen, der Latinx-Diaspora, begleitet worden. Mit Kundgebungen, Veranstaltungen und Social-Media-Aktivismus wollen die Landsleute über die Situation in ihren jeweiligen Ländern informieren und Protest kundtun. Wir von der ila versuchen natürlich, diese Aktivitäten mitzubekommen und zu unterstützen, punktuell gibt es unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit. Im Vergleich zu unseren Gründungsjahren in den Siebzigern ist die lateinamerikanische Diaspora heute größer, breiter und vielfältiger geworden. Allerdings fragen wir uns immer wieder, warum die Aktionen der unterschiedlichen Communities meistens auf die eigene nationale Zugehörigkeit beschränkt bleiben. Mauricio Isaza-Camacho, ein hervorragender Kenner der lateinamerikanischen Diaspora in Hamburg, sucht nach Antworten.

Mauricio Isaza-Camacho

Die unterschiedliche gesellschaftliche Herkunft der Diasporabewohner*innen, die ich gern auch mal „Sporen“ nenne, wird nur in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Deutschland aufgehoben. Auf Veranstaltungen mit folkloristischen und gastronomischen Angeboten treffen sich Leute, die sich in Bogotá, Caracas, Buenos Aires, La Paz, Tegucigalpa eher aus dem Weg gegangen wären. Frauen aus gutem Hause, Männer, die sich einen Job im Hafen oder in der Fabrik suchen, Angeheiratete aus der Mittelschicht, durchwandernde Lebenskünstler*innen unterhalten sich bei Empanadas und Mojito, Wein oder Caipirinha. Das Lernen der Sprache und die lustigen oder empörenden Eigenschaften der Eingeborenen bieten ein schier unendliches Gesprächsthema.

Im Laufe der Zeit gibt es mehr und mehr Bezüge zur neuen sozialen Umwelt, und sei es nur als eine neue Form, die Einsamkeit zu leben. Feste, Basare und Wohltätigkeitsveranstaltungen werden nicht mehr so regelmäßig besucht. Die anfängliche Gemeinsamkeit ist schnell aufgesplittert und die Einzelnen treffen sich nunmehr zum Beispiel in kleinen und kleinsten Aktionsgruppen. Naturkatastrophen in dem einen oder anderen Land, der Kampf für die Menschenrechte, die Verteidigung des Amazonas und der Widerstand gegen Infrastrukturprojekte, die die Landbevölkerung übel treffen werden, sind die häufigsten Motive für das Zusammenkommen. Einige, aber wenige, verfolgen einen sozialarbeiterischen Ansatz und organisieren beratende soziale, juristische und manchmal auch auf die Arbeitswelt bezogene Angebote.

Diaspora ist Zerstreuung. Viel zu selten werden die Unterschiede der sozialen Herkunft im Mutterland etwa durch eine intelligente Arbeit der Konsulate überwunden. Die Konsulate werden selbst hauptsächlich von Leuten aus der oberen Schicht geführt, deren Hauptinteresse darin zu bestehen scheint, mit angesehenen Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft zu verkehren und den Umgang mit den Bedürftigen aus dem eigenen Land zu minimieren. Die Zerstreuung der Sporen nimmt in denjenigen Gesellschaften besonders zu, die kraft ihrer internen Dynamik schon länger und immer mehr Ausschlussmechanismen und Atomisierung hervorbringen. So lernen die Sporen schnell, dass man die anderen angeblich nicht braucht. Eine eigene Bankkarte, eine Krankenversicherungskarte, notfalls die Anmeldung als Jobsuchende beim Jobcenter und eine Steuernummer sind schon Grundlage genug für ein neues Leben in neuer Autonomie und Mindestsicherheit. in das Getriebe im Hallo-Mechanismus kommt Sand. Meist ist es nur noch fade Unterhaltung, die diejenigen zusammenbringt, die kein gemeinsames weltanschauliches Interesse haben.

Die Peñas, von Anfang an nationalstaatlich orientierte und begrenzte Zusammenkünfte, werden einigermaßen gut besucht; die Länder des Cono Sur, des südlichen Kegels Südamerikas, richten sie aus. Das Publikum besteht größtenteils aus Menschen des jeweiligen Landes. Aber auch bei diesen Festen und Veranstaltungen der jeweils Einheimischen ist das Publikum nach der ersten Viertelstunde in Gruppen zersplittert, die dann in der restlichen Nacht keinen Kontakt mehr untereinander haben werden. Jede Gruppe versucht, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Luft von „es war schön dort, ich liebe mein Land“ eingeatmet werden kann. Die eine oder der andere brüstet sich auch mal gerne damit, in der Aufnahmegesellschaft viele Leute zu kennen oder in deren Arbeitswelt eine gewisse Karriere zu machen.

Sehr ähnlich verhält es sich auf den vielen „Backenzahnfestivals“ Festivales de la Muela, den gastronomischen Events, deren Anzahl in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Im Unterschied zu den Peñas sind sie zu Beginn offener. Auf einem Platz oder in einer großen Location werden Stände aufgestellt, das gemischte Publikum teilt sich erst langsam in die nationalstaatlichen Zugehörigkeiten auf. Etwa nach der ersten Dreiviertelstunde aber hängen die Menschentrauben an den jeweiligen nationalen Ständen, an denen die landestypischen alkoholischen Getränke und die angeblich identitätsstiftenden Speisen angeboten werden. Fortan werden sich die Gruppen an diesem Abend nicht mehr mischen, nur eine Tanzshow oder eine besonders auffällige musikalische Gruppe wird sie für eine Viertelstunde kurz wieder mit den anderen zusammenbringen.

Als Randerscheinung wirken auf solchen großen Veranstaltungen die kleinen Treffen einzelner Hobbygruppen und Aktivist*innen, die sich für eine Sportart oder eine gesellschaftliche oder politische Sache interessieren, die von der Nationalität unabhängig ist. Eher am Rande kommen so einige Salsa- oder Tangotänzer*innen zusammen, Fußballsüchtige, Menschenrechtsaktivist*innen, in letzter Zeit vermehrt Frauen aus der einen oder anderen Gruppierung der migrantischen Frauen in Aktion. Es kann auch vorkommen, dass einige dieser Aktivist*innen einen Tisch aufstellen, auf dem mit Flugblättern und anderen Veröffentlichungen auf ein gesellschaftliches oder politisches Problem aufmerksam gemacht wird. Diese Tische werden aber weitestgehend ignoriert und in den Gesichtern der daran Vorbeigehenden lassen sich häufig Missfallen, zuweilen auch ein bisschen Ekel beobachten. Nur um die Tische, die von Rechten aufgestellt werden und bei denen beispielsweise gegen die venezolanische oder nicaraguanische Regierung gehetzt wird, stehen für einige Minuten lachende Frauen und abwesend wirkende Männer.

Die Pandemie hat diese Zusammenkünfte nun sowieso zunächst weitestgehend aufgelöst, nur kleinste Gruppen haben sich weiter getroffen, um Fußball zu spielen oder an einem Nachmittag in einem Salon eine Veranstaltung abzuhalten, bei der Gelder gesammelt werden zur Finanzierung der Begräbniskosten für eine Person, die sich um Vorsorge niemals Gedanken gemacht hatte.

Die Kontaktmöglichkeiten verlagerten sich größtenteils auf den kybernetischen Raum. Ende März 2020 schon war der digitale Raum zentral für die Versuche, Kontakte aufrechtzuerhalten. Darin zeigten sich dann bald die Zersplitterung und Privatisierung seitens der Privatpersonen selbst. Ja, nicht nur der neoliberale Staat privatisiert dies und das, auch die Privatpersonen selber zersplittern und atomisieren alles, was sie können, und das Atomisierte wollen sie dann auch noch vor anderen verschließen. Man erhält den Eindruck, sie übten da etwas aus, was sie für ein Recht, für eine Form der Freiheit halten. Die Befreundeten tauschen sich ein bisschen aus.

Die Gruppen, Kolumbianer*innen in Hamburg, Argentinier*innen in München, Brasilianer*innen in Köln, Latinxs in Bielefeld, Chilen*innen in Berlin, Peruaner*innen in Frankfurt/Main und so weiter, sind die Verkörperung dieser Atomisierung. Jeder ignoriert jeden. Schon anfänglich, als der Durst nach Kontakt und Austausch noch groß und die Desillusionierung noch nicht eingetreten war, schnürte es einem die Kehle zu, wie auf der Startseite eines gewissen sozialen Netzwerks bis zu 50 Leute täglich etwas posteten und niemand die Posts der anderen beachtete. Man stelle sich eine Straße mit 50 kleinen Geschäften vor, die alle um das Überleben kämpfen, deren Besitzer*innen sich aber nicht einmal „hallo“ sagen. Das kommt selbst bei realen Geschäftsbetreiber*innen nicht vor. In jeder Straße in Deutschland lässt sich leicht beobachten, wie sich der albanische Besitzer des Hausgeräteladens, hauptsächlich Waschmaschinen und Kühlschränke. – bei einem Pappbecher Kaffee mit dem türkischen Besitzer einer Trödelkiste und der deutschen Inhaberin des Fischladens unterhält.

Nicht so in den sozialen Netzwerken. Diese „gemeine Individualität“ (Byung-Chul Han) scheint sich als die Normalität durchzusetzen. Der Post von den Machern einer Radiosendung, die seit über 15 Jahren in Hamburg ausgestrahlt wird, wird von den „eigenen“ Leuten niemals mit „Gefällt mir“ markiert, geschweige denn mit einem Kommentar beglückt. Das wird sich nicht mehr ändern. Die „virtuelle Welt“ ist eine bloße Fortsetzung der realen, wobei sie sich dann alle wieder auf ein Glas Wein treffen und gegenseitig versichern werden, die Menschlichkeit sei das Wichtigste, man sei bloß nur so beschäftigt und Pipapo.

Das zumeist niedrige Organisationsniveau der verschiedenen Diasporas in Deutschland hat sich nicht verändert. Das hat sehr viel mit dem ungeheuer großen Verlust an erfahrbarer Selbstwirksamkeit der Leute zu tun in einem Land, in dem sie mit den meisten ihrer Ideen und Unternehmungen ins Leere fallen oder gegen eine Wand rennen. Sei es, dass sie von den Einheimischen hören „bei uns macht man es nicht so“ oder „das ist eigentlich nett, aber wir haben viel zu tun“; sei es, weil sie, die Ausländer*innen beziehungsweise Migrant*innen, sich in einem eigenen inneren Motivationsloch befinden und, wie die Einheimischen manchmal sagen, „den Arsch nicht hoch kriegen“; sei es schließlich, weil sie das eigene Projekt zwar irgendwie durchziehen, aber das inländische und ausländische (!) Publikum die Veranstaltungen nicht besucht und es keinerlei Rückmeldungen gibt, was in der Folge die Motivation weiter unterminiert. Das ist fast die Regel und kommt sogar in der AG Migration jeder politischen Partei vor: AGens, in denen die meisten Mitglieder Deutsche sind, die in der Partei mit den Themen der Migrant*innen Karriere machen wollen, aber für die Ideen und Vorschläge der Migrant*innen selbst keine Geduld, kein Gehör, kein Verständnis haben. Meistens verlassen die Migrant*innen solche AGens nach dem ersten Jahr und schleppen fortan ein vermindertes Selbstvertrauen mit sich herum.

Nichtsdestotrotz gibt es in jeder deutschen Kommune einige Vereine, die sich ins Vereinsregister eingetragen und anschließend bei der Polizei als „ausländische Vereinigung“ angemeldet haben. Die meisten dieser e.V.s betreiben in den Herkunftsländern der Mitglieder Assistenzialismus. Sie unterstützen die Opfer einer Naturkatastrophe oder die Infrastruktur von Subsistenzprojekten in der Großstadt oder auf dem Lande. Einige, vielleicht ein Drittel der Gesamtzahl, engagieren sich direkt für einzelne politische Themen: Menschenrechte, Indigenenrechte, Frauenrechte, Kinderrechte. Erinnerungskultur, Antikolonialismus und Erhalt des Amazonas sind die Themen, an denen Latin*as mit sozialem und politischem Bewusstsein in Deutschland arbeiten. Häufig ist ihr Aktivismus einer der Fußgängerzone: Mit Transparenten und Megaphon stehen sie da und wollen die Passant*innen auf die Existenz der Problematik aufmerksam machen. Dabei ist es schon ein Erfolgserlebnis, wenn mal 15 Passant*innen stehenbleiben, sich die Ansprache anhören und ein Flugblatt mitnehmen. Dieselbe Aktivist*innengruppe wird ein anderes Mal eine Veranstaltung mit etwas Gastronomie und Musik organisieren, um Gelder für die Protestierenden in Kolumbien, für die Landlosen in Brasilien, für die HIJOS in Argentinien (die Organisation der Kinder der unter der Militärdiktatur Verschwundenen), für die Protestierenden in Nicaragua, für die Indigenen in Ecuador zu sammeln. Merkwürdigerweise, bedauerlicherweise besuchen sich diese Gruppen meistens nicht gegenseitig. So handeln sie letztlich nicht anders als die Gruppen der Mehrheitsgesellschaft, die immer nur Zeit für die eigenen Projekte haben.

Abschließend möchte ich hier die meines Erachtens zwei größten Projekte erwähnen, die zur Zeit in Deutschland mit Lateinamerikabezug laufen: „Cuba Sí“ bewegt ständig vieles, um auf die Illegalität des Embargos der US-Regierung gegen den sozialistischen Staat aufmerksam zu machen. Darüber hinaus üben sie praktische Solidarität mit sozialistischen Initiativen auf Cuba. Und dann unterstützt erstaunlicherweise ein deutsches, staatliches Projekt eine Nation auf einem Weg zum Frieden: Die kolumbianische Wahrheitskommission für die Aufarbeitung und juristische Bearbeitung des bewaffneten Konflikts ist in Deutschland präsent und aktiv über ein Büro des deutsch-kolumbianischen Instituts für den Frieden (CAPAZ, Instituto Colombo-Alemán para la Paz), das vom DAAD unterstützt wird und an dem mehrere deutsche Universitäten beteiligt sind. In Deutschland lebende Menschen, die mit Folgen des Konflikts zu tun oder als Militärs, Paramilitärs, Gueriller*as involviert waren, konnten vor geschultem Personal aussagen. So konnten sie die Institutionalität des Friedensprozesses, der von den Rechten immer so heftig angegriffen wird, bestärken und zum künftigen Frieden in Kolumbien beitragen.