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Die rastlose Netzwerkerin und Forscherin ist nicht mehr da

Abschied von Silke Helfrich (1967-2021)

Diesen Nachruf sollte es nicht geben. Nicht jetzt und noch mehrere Jahrzehnte lang nicht. Doch die Nachricht war ebenso unbegreiflich, wie sie nicht ungeschehen gemacht werden kann: Silke Helfrich kam am 10. November 2021 von einer Wanderung in den Liechtensteiner Alpen nicht zurück. Ein tödlicher Unfall setzte ihrem unermüdlichen Schaffen ein abruptes Ende. Sie wurde 54 Jahre alt.

Gaby Küppers

Eine quirlige, energiesprudelnde Macherin ist plötzlich verstummt. Sechs Bücher zum Themenbereich Commons hat sie in den letzten zwölf Jahren als Autorin oder zusammen mit anderen veröffentlicht. Die Wikipedia lehnte sich in ihrem betreffenden Eintrag namentlich daran an. Commons umfassten demnach „Ressourcen (Code, Wissen, Nahrung, Energiequellen, Wasser, Land, Zeit u. a.), die aus selbstorganisierten Prozessen des gemeinsamen bedürfnisorientierten Produzierens, Verwaltens, Pflegens und/oder Nutzens (Commoning) hervorgehen”. Die Bezeichnung Allgemeingüter oder Allmende waren Silke zu statisch. Sie wollte weiterentwickeln, hastete von Workshops zu Tagungen, hielt überall Vorträge. Gleichzeitig koordinierte sie Übersetzungen, auf ihrem Schreibtisch lagen ständig Korrekturfahnen. Wann fand sie dafür noch die Zeit zwischen all ihren Reisen? Für die Commons-Community war sie die Referenz, „die” mit Nachdruck gesprochen. Nach der erschütternden Nachricht ihres Todes drückten viele aus dieser Gemeinde, aber auch viele andere, ihre Trauer angesichts des immensen Verlustes derer aus, die seit Mitte der 00er-Jahre zu ihrer Galionsfigur geworden war. Die Würdigungen, Abschiedsworte und Erinnerungen umreißen viele Aspekte ihres stets strategisch gedachten Engagements.1

Es gibt aber auch eine Silke, die lange vorher auf anderen Baustellen unterwegs war. Schon da war klar: Es war gleich Hochbetrieb, wenn Silke auftauchte.

David Bollier, ihr Forschungs- und Arbeitspartner in der Entwicklung der Gemeingüterdebatte, rekapituliert in seinem Blog nach der Todesnachricht 2 die gemeinsame Arbeit und schildert seine erste Begegnung mit Silke. Sie hatte ihn auf ein Seminar nach Mexiko eingeladen. 2006, da war sie Leiterin des dortigen Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Genauer: Sie baute es gerade auf.

Ihr Studium der Romanistik, Sozialwissenschaften und Pädagogik an der Leipziger Karl-Marx-Universität absolvierte sie zu DDR-Zeiten. Dies sowie das thüringische Dorf mit Blick über den Grenzzaun, in dem sie aufgewachsen war, prägten ihr Leben. Nach der Wende war sie 1996-99 erst Geschäftsführerin des Thüringer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, dann übernahm sie das Zentralamerika-Büro der Stiftung in San Salvador. Partner sowie Sohn Paul reisten mit aus. Silke selbst war hochschwanger, das ging für sie. Clara wurde in San Salvador geboren. In Zentralamerika, wie auch in Cuba, wollte Silke unterstützen, was in der DDR schließlich gescheitert war, eine eigenständige, gleichzeitig weitblickende, sozial-ökologische Entwicklung. In diesem Zusammenhang habe ich sie kennengelernt.

Nach dem Scheitern des Multilateralen Investitionsabkommens in Paris 1998 und dem WTO-Desaster in Seattle 1999 fand sie es wichtig, eine fundierte Diskussion in der Region in Gang zu bringen. Die dortigen Bürgerkriege waren nicht wirklich Vergangenheit. El Salvador war ein heißes, bleikugel-heißes Pflaster. Silke suchte Mitstreiter*innen, um eine Reflexion über eine lokal zentrierte Entwicklung zu unterstützen.

Vom Norden her winkten seit Anfang der 90er-Jahre die USA mit NAFTA, der 1994 geschaffenen Freihandelszone mit Kanada und Mexiko, und ALCA, dem gleichen Konstrukt für ganz Lateinamerika, das dann 2005 scheiterte. Die Europäische Union entwickelte Pläne, Lateinamerika ebenfalls mit regionalen Freihandelsabkommen zu überziehen. Silke wollte ein Empoderamiento, neudeutsch Empowerment, in Zentralamerika, konkret eine Antwort auf die Frage: „Welche Handelspolitik nützt uns?” Im Jahre 2000 organisierte sie dazu Seminare und gab einen Sammelband heraus, der längst vergriffen ist, seinerzeit aber selbst im salvadorianischen Fernsehen debattiert wurde.

Wenn Silke nach unweigerlich ellenlangen Bürotagen und ihrer Spezialität Teamsitzungen die Stiftung verließ, drehte sie nochmal auf. Dann powerte sie sich spätabends mit Salsa auf den Tanzflächen der Kneipenzone in San Salvador aus. So war sie.

Gleichzeitig ging es bald schon neben all den Projekten, die Silke beharrlich in Zentralamerika anschob oder weiterführte, um den Aufbau eines Stiftungsbüros in Mexiko. Das Land und auch die Karibik ließen sich nicht mehr von San Salvador aus einfach mitbeackern. Silke suchte und fand ein Haus im Stadtteil Roma. Wie darin Mexicanidad ausdrücken? Silke hatte eine Idee, machte einen Fliesenleger ausfindig und ließ ihn das Wahrzeichen des Hauses schaffen: Auf dem Boden des Erdgeschosses liegt seither eine buntkachelige lange Eidechse im mexikanischen Stil, die mit Schwanz und Beinen alle Zimmer, also alle Mitarbeiter*innen mit ihren unterschiedlichen Thematiken und Aufgaben, verbindet. Das war im Kern schon ihre Herangehensweise an die Commons. Das Miteinander-in-Beziehung-Setzen war ihr wichtiger als die ökonomische Theoriebildung. Auf dem Dach entstand Platz für – natürlich! – Diskussionsgruppen. Da wohl hat der oben genannte David Bollier Silke kennengelernt und beide erweckten die Eidechse zum Leben.

Nachdem ihre Zeit in El Salvador abgelaufen war, wechselte Silke offiziell als Büroleiterin des Böllstiftungsbüros nach Mexiko. Anfangs hieß das noch dauerndes Hin- und Herfahren.

Für die Vorbereitungen von Veranstaltungen zum Gipfel der WTO (Welthandelsorganisation) im mexikanischen Cancún 2003 saßen wir rundum auf einer Wiese im Garten eines Hotels in Mexiko-Stadt und konzipierten tagelang. Sie liebte das gemeinsame Ideenerstellen im Kreis, sinnbildlich auf einer Ebene. Zeit spielte keine Rolle. Alles lief bestens, bis sich die mexikanische Regierung ausdachte, eine neue Art Visum für alle Ausländer*innen zu fordern, die nicht-regierungsakkreditiert nach Cancún reisen wollten. Auch so kann man versuchen, Protest zu ersticken. Das gelang nicht. Aber die andere Hürde war schwieriger zu überwinden. Cancúns Hotel- und Konferenzzentrum liegt auf einer schmalen Landzunge um einen Binnensee, außen das Meer. Wunderbar für Tourist*innen, aber auch für eine Regierung, die Demonstrierende fernhalten will. Um die absehbaren Absperrungen zu umgehen und auch die Einheimischen in Cancún einzubinden, hatte Silke für ihre Veranstaltungen einen Konferenzraum gleich neben, aber außerhalb dieser Landzunge gemietet. Das Problem: An entscheidenden Tagen wurde frühmorgens der Zugang zum Ort Cancún martialisch verbarrikadiert. Um zu den Böll- (wie auch vielen anderen) Veranstaltungen vom Hotelkomplex aus zu gelangen, musste man rund 50 km die Landzunge bis zum Ende und dann am See entlang wieder zurückfahren, langwierig, aber möglich.

Am Ende war der Widerstand allseits groß genug, eingeschlossen der schockierende Selbstmord eines koreanischen Bauern bei einer Demo gegen das WTO-induzierte Kleinbauernsterben, oder interne Uneinigkeit der WTO-Mitglieder, die eine Abschlusserklärung verunmöglichte, nach Seattle und Doha auch die WTO-Ministerkonferenz in Cancún zu einem Misserfolg zu machen.

Es gelang lediglich, eine Folgeministerkonferenz der WTO für Dezember 2005 in Hongkong zu vereinbaren. Silke war bei den Gegenaktivitäten wieder dabei. Sie nahm sich vor, das Thema Lateinamerika nach Asien zu tragen und klinkte sich mit ihrem Stiftungsbüro in die Vorbereitung von Veranstaltungen zusammen mit einer Delegation grüner Europaabgeordneter vor Ort ein. Ich erinnere mich an ein Seminar zur Präsenz Chinas in Lateinamerika, wohlgemerkt, das war 2005. Enrique Dussel war einer der Vortragenden. Und nahm das vorweg, was heute die „neuen” Abhängigkeiten Lateinamerikas genannt wird. Silke hat sich nicht nur schon immer um die Welt gekümmert, sie war auch vorausschauend. Sie nahm die Lage der Welt todernst.

Obwohl sie so gern lachte, war Ironie ihre Sache nicht, schon gar nicht Blödeln. Das Seminar zu „China und Lateinamerika” fand im Hotel Knutsford statt. Wir sprachen den englischen Hotelnamen gerne witzelnd mit „K” am Anfang aus. Silke lachte, konnte das „K” aber kaum ertragen. Vielleicht hatte das mit ihrer DDR-Sozialisation zu tun oder auch mit ihrem Studienschwerpunkt. Man spricht alles korrekt aus, auch (und gerade) in einer Sprache, die der DDR besonders fern lag.

Nach ihrer Rückkehr aus dem Mexiko-Büro 2006 wandte sich Silke mehr und mehr dem Thema Gemeingüter jenseits von Markt und Kapitalismus zu. Die ila 323 vom März 2009 zu diesem Thema konzipierte sie maßgeblich. Als ihre Freundin Elinor Ostrom, die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin, im Oktober 2009 den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Arbeiten zu den umweltökonomischen und gemeinschaftlich nutzbaren und verstetigbaren Aspekten der Allmende zuerkannt bekam, konnte sich Silke gar nicht mehr einkriegen vor Freude. Ihre Herangehensweise war von höchster Stelle bestätigt.

Bei ihrem fünfzigsten Geburtstag war Silke nicht erreichbar. Sie war nämlich („Du wirst nicht glauben, wo ich hinfahre”, schrieb sie zuvor) auf einem Kreuzfahrtschiff. Nicht um auszuspannen, wann tat sie das je?, sondern um dem gut betuchten Publikum die Commons-Idee zu vermitteln. Zu sagen: „es zu missionieren”, würde zu Silke passen, wäre der Begriff nicht so katholisch missbrauchsverrucht. Wenn das „Picknick”, wie sie die Commons-Idee beschrieb, funktionieren sollte, müssten alle dazu beitragen, meinte sie, gerade auch die Reichen. Ich weiß nicht mehr, was Silke später über dieses Publikum und dessen Reaktionen sagte. Für mich war wichtig, dass dieses reichlich ungewöhnliche Teach-In auf dem Wasser gut bezahlt war. Seit ihrem selbstgewählten Ausstieg aus der Stiftung arbeitete Silke selbstständig. Man könnte sagen, für ihr Thema war sie Feuer und Flamme und eine feste Freie. Sehr fest und sehr frei.

Wir werden dich nie vergessen.