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Entpatriarchalisierung und Entkolonisierung

Vortrag der bolivianischen Botschafterin Elizabeth Salguero zum Guten Leben

Am 14. Oktober 2013 hielt Elizabeth Salguero Carrillo, Botschafterin des Plurinationalen Staates Bolivien in Berlin, in der Universität Bonn auf Einladung der Abteilung Altamerikanistik, der Volkshochschule Bonn und des Vereins Bonn-La Paz e.V. einen Vortrag zum Thema „Entpatriarchalisierung und Entkolonialsierung“ als Voraussetzungen eines Vivir Bien (Gut bzw. In Würde leben). Wir dokumentieren den Text des Vortrags.

Elizabeth Salguero

Seit kurzer Zeit setzen in einigen Ländern Lateinamerikas indigene Völker sowie Frauen gesellschaftliche Strukturveränderungen in Gang. In Bolivien sind die Beziehungen zwischen den kolonialen Strukturen, die während der mehr als vierhundert Jahre dauernden Zeit von Kolonialherrschaft und Republik gefestigt wurden, und den gleichzeitig entwickelten patriarchalen Strukturen komplex. Das Patriarchat und der Kolonialismus sind das Fundament des kapitalistischen Gesellschafts- und Herrschaftssystems; sie sind aus der Gesellschaft, dem Staat und der Verwaltung zu tilgen. Das Aufzeigen von patriarchalen und kolonialen Strukturen ist eine Voraussetzung für die Überwindung von Rassismus, Diskriminierung und Machismo. Der Abbau von Patriarchat und Kolonialismus ist Bestandteil der neuen politischen Verfassung des bolivianischen Staates. In ihr wird entsprechend der Leitidee des Vivir Bien – Gut Leben bzw. In Würde leben – der Plurinationale Staat Bolivien beauftragt, die Entkolonialisierung und die Entpatriarchalisierung von Staat und Gesellschaft zu verwirklichen.

In Bolivien wurde das Vivir Bien in einem Prozess der Wiedergewinnung des Gedächtnisses, der Kosmovision und der Selbstverwaltungsstrukturen der Völker der UreinwohnerInnen und mit Hilfe der Analysen derer, die politisch in mehreren gesellschaftlichen Sektoren und Gruppen aktiv sind, als das dominierende Leitprinzip (Paradigma) und als eine politische Alternative zu den kolonialen und patriarchalen Strukturen der Vergangenheit entwickelt. Vivir Bien bedeutet Harmonie zwischen den Menschen sowie der Menschen mit der Natur und steht im Gegensatz zum kapitalistischen Konzept von Egoismus und Anhäufung von materiellem Reichtum. Die indigenen Völker beteiligen sich beim Aufbau einer Welt von größerer Gerechtigkeit, der gleichberechtigten Teilhabe, von Frieden und Harmonie mit der Natur. Sie setzen sich für ein Vivir Bien – ein „Gut Leben“ – aller Menschen und Völker ein.

Das Ziel von Vivir Bien ist nicht mit dem klassischen, linearen Konzept von Fortschritt und Entwicklung auf Kosten von anderen und auf Kosten der Natur vereinbar. Vivir Bien heißt, sich ergänzen und nicht konkurrieren, gemeinsam teilen und nicht den anderen ausbeuten. Die Indigenen sind nicht auf das Prokopfeinkommen fixiert, sie denken an die kulturellen Identitäten der Gemeinschaften, die Harmonie zwischen den Menschen sowie zwischen den Menschen und der Mutter Erde. Die Amtsinhaber in der Regierung haben der Gemeinschaft und dem Gemeinwohl zu dienen und sich nicht auf Kosten der Bürger zu bereichern. Das Kommunitäre setzt das Wohl der Gemeinschaft über die privaten Interessen weniger Mächtiger. Gemäß dem Konzept von kommunitärer Politik und Verwaltung ist sowohl an den Menschen als auch an die Natur und die kulturelle Vielfalt zu denken. Dieses Konzept steht im Gegensatz zu anderen, gescheiterten Gesellschaftsmodellen. Die kolonialen und die patriarchalen Gesellschaftsformen sind der Knoten, der seit Jahrhunderten die indigenen Völker und die Frauen mittels Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung fesselt.

Die Leitidee des Vivir Bien ist Ziel für den Aufbau des Plurinationalen Staates Bolivien und zugleich eine Art „Betriebsanleitung“ für das Modell eines gemischten Wirtschaftssystems mit ganzheitlicher Vision unter Beachtung der Rechte der Mutter Erde. So bestimmt es in Bolivien ein eigenes, weltweit einmaliges Gesetz. Das bolivianische Modell bricht mit dem etablierten kapitalistischen Entwicklungsmodell, das auf der Ausbeutung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen gegründet ist. Das bolivianische Modell umfasst verschiedene Organisationsformen der Wirtschaft, nämlich private, staatliche, genossenschaftliche und kommunitäre. Es beruht auf den Prinzipien „Wechselseitigkeit, Balance, Solidarität, Umverteilung, Nachhaltigkeit... zur Ergänzung des individuellen Interesses mit dem gemeinschaftlichen Interesse des Vivir Bien, um damit die Ausübung verschiedener Formen der Wirtschaft zu garantieren“. So steht es in der bolivianischen Verfassung.

Im Hinblick auf das Vivir Bien gibt es zwar Fortschritte beim Kampf um die Rechte der Frauen, aber in unserer Gesellschaft erfahren sie noch Unterordnung, Unterdrückung und Ausbeutung. Im Prozess der Umwandlung zum Vivir Bien gibt es somit beim Abbau des sozialen, insbesondere des kolonialen und patriarchalen Verhaltens, unter dem die Frauen und die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten leiden, also dem Kern von Ausbeutung und Unterordnung, erkenntnistheoretische und gesellschaftspolitische Brüche. Das Bewusstsein, dass eine andere Reproduktion des Lebens möglich ist, ist zu verbreiten. Dieses Bewusstsein wächst aus den indigenen Gemeinschaften, aus den Beziehungen zwischen Mann und Frau, aus den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, aus der Natur, der Kultur und der Spiritualität.In dieser neuen Sichtweise des Vivir Bien wird die Logik überwunden, die uns westliche, individualistische Gesellschaften aufzwingen; es wird stattdessen das Leben und das Zusammenleben in der Gemeinschaft und in Harmonie mit der Mutter Erde angestrebt.

Der Ecuadorianer René Ramírez sieht bei der Suche nach dieser neuen Perspektive fünf Herausforderungen:

  1. Eine andere Sichtweise des Menschen.
  2. Eine Neubestimmung der Demokratie, um die Einheit von Wort und Tat durch Dialog und das gemeinsame Fällen von Entscheidungen wieder herzustellen.
  3. Die Aufhebung sozialer, wirtschaftlicher, kultureller, ökologischer und politischer Unterschiede. Die Neubestimmung der Zeit für reproduktive Arbeit, die Reproduktion des Lebens und die Beteiligung an öffentlichem Engagement von Frauen und Männern und von Angehörigen verschiedener Kulturen.
  4. Die Wiederherstellung der menschlichen Würde und die Suche nach sozialen Maximen.
  5. Ein radikaler Wandel des Denkens, der nur durch einen Wandel im Bildungsbereich und eine echte Entkolonialisierung des Wissens und des Seins möglich ist. Das ist auch ein erkenntnistheoretischer Bruch. Una verdadera descolonización del saber y del ser. (Eine wirkliche Dekolonisierung des Wissens und des Seins)

Nach Alberto Acosta ist der Begriff Vivir Bien nicht auf den westlichen Wohlstand zu reduzieren, vielmehr bezieht er die Kosmovision der indigenen Völker ein, in der die Begrifflichkeit der sozialen Verbesserung „eine Kategorie in permanentem Aufbau und Reproduktion“ ist.

Die Beziehung zwischen dem „weißen Zivilisierten“ und dem „barbarischen, kolonisierten Indianer“ war stets gewalttätig. Diese Beziehung wurde politisch und ökonomisch von Generation zu Generation neu verwirklicht, sie bestimmt weiterhin sozial und kulturell die bolivianische Gesellschaft in Form von Rassismus und Machismo. In der kolonial und patriarchal geprägten Gesellschaft gilt das Leitbild der weißhäutigen, europäisch-kolonialen Frau als Vorbild für alle Frauen, auch für indigene, dunkelhäutige Frauen oder für Mestizinnen. Entsprechend der Trennlinien der ethnischen Unterscheidungen und der Klassenunterschiede wird die Welt scheinbar klar eingeteilt; die Ausbeutungsmechanismen und der Rassismus werden dem Anschein nach zu einer Einheit verwoben und somit werden die Rollen zwischen den weißhäutigen Frauen einerseits und den indigenen und dunkelhäutigen Frauen andererseits festgezurrt. Während weißhäutige Frauen das kolonial geprägte Klassensystem festigen, haben die indigenen Frauen mit ihrer Arbeit Überschüsse für die Zahlung von Abgaben zu produzieren. Die Männer der indigenen Gemeinschaften produzieren durch ihre Arbeit in den Bergwerken und auf den Haciendas den Mehrwert. Das koloniale und patriarchale System wird durch die Ausbeutung der Körper der kolonisierten Frauen und ihrer Arbeitskraft reproduziert.

Die indigenen Frauen leben als Frauen und als Ureinwohnerinnen in einer doppelten Form der Unterdrückung. Nach Sousa Santos bringt die Unterdrückung der Frau – basierend auf dem Unterschied der Geschlechter – das Patriarchat hervor; der sogenannte „gesunde Menschenverstand“ ernährt und reproduziert dann das Patriarchat durch das, was auch als „patriarchale Kultur“ bekannt ist.
Im politischen und ökonomischen Denken westlicher Wissenschaftsschulen, z. B. bei den Marxisten oder den Neoklassikern, wird die Unterdrückung der Frau im kapitalistischen System nicht angesprochen. Für die Marxisten stehen die Klasseninteressen im Vordergrund, sie negieren die patriarchalen Strukturen als Form der Ausbeutung der Frauen. Für die Neoklassiker haben die Mitglieder einer Familie die gleichen Interessen, sie leugnen die bestehenden Widersprüche durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die patriarchalen Strukturen innerhalb der Familien.

Die Entpatriarchalisierung ist der (Um)Sturz der patriarchalen Ordnung in den familiären, sozialen und staatlichen Strukturen. Sie ist eine Befreiung des Denkens, Fühlens und Wissens der Frauen, die ihre Befreiung erreichen wollen durch:

  • das Niederreißen der Machtstrukturen zwischen Männern und Frauen;
  • die Beseitigung von diskriminierenden Stereotypen und kulturellen Mustern, die sich in den Machtverhältnissen zwischen Frauen und Männern manifestieren und in ideologischen Instrumenten wie Bildung, Kunst, Wissenschaft, Massenmedien und Religion ihren Ausdruck finden;
  • die Änderung von Produktion und von Verteilung des Reichtums, von Einkünften, von Reproduktion und von Arbeit in Harmonie mit der Natur nach dem Leitmotiv des Vivir Bien;
  • die Umverteilung von häuslicher Arbeit und von Betreuung in der Familie als familiäre, kollektive und öffentliche Aufgabe;
  • die Anerkennung der Frauen als Sprecherinnen des Vivir Bien, weil sie die wichtigsten Trägerinnen von Wissen und Identitäten sind. Die Emanzipation der Völker und Frauen ist nur möglich, wenn die Knoten des inneren Kolonialismus und des Patriarchats, die Männer und Frauen in der öffentlichen Politik und in der Gesellschaft durch ihre Identitäten, Gefühle und ihr Wissen aneinander fesseln, aufgelöst werden.

Den Staat zu entkolonialisieren und zu entpatriarchalisieren bedeutet eine Umwandlung der Staatsführung, der bürokratischen Strukturen und der Machtverhältnisse, die ja gerade auf der vermeintlichen Überlegenheit der Nicht-Indigenen und der Männer beruht, d. h. auf Rassismus und Machismo. Zur Zeit wird in Bolivien das Projekt eines Entpatriarchalisierungsgesetzes diskutiert. Um das Ziel des Vivir Bien zu erreichen, sind in der öffentliche Politik bei der Umsetzung von Gesetzen die Rechte der Ureinwohner, die Umverteilung von Vermögen und Einkommen sowie die gleichberechtigte, faire und gerechte Aufteilung der öffentlichen und privaten Arbeit von Männern und Frauen zu beachten.