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Meister der knappen Form

Die Erzählungen von Memo Anjel
Torsten Tullius

Blau, das wissen Freunde der deutschen Romantik spätestens seit Novalis' Heinrich von Ofterdingen, ist die Farbe unerfüllter Sehnsucht und deren Meditation, ob in Bildern oder dem Blick übers Meer, ist Aufruf, dieser Sehnsucht nachzuspüren und vages Verlangen konkret werden zu lassen. Bei den alten Ägyptern galt der blaue Lapislazuli als lebensfördernder Stein und in der christlichen Malerei des Mittelalters symbolisierte der blaue Mantel Mariens die Einheit zwischen Himmel und Erde.

José Guillermo (Memo) Anjel, geboren 1954 in Medellín/ Kolumbien, aus einem sephardischen Elternhaus stammend, nutzt die allegorische Kraft der Farbe, die sich leitmotivisch durch die 14 Texte von Das Fenster zum Meer zieht. Anjel fügt deren positiven Attributen gleich zu Beginn in der Auftaktgeschichte Hora certa eine negative, lebensbedrohende Konnotation hinzu, als ein Mann mittleren Alters in Oran im Sommer 1938, dem von einer Kartenlegerin prophezeit wurde, er werde einen Menschen töten, träumt, ein blauer Fisch fräße an seiner Kehle. Durch diesen literarischen Kniff entstehen vor dem Auge des Lesers Seite für Seite die Themen, die den inneren Diskurs der Geschichten ausmachen und hier, obschon so alt wie die Menschheit, von einem feinen Autor aufs Neue beschrieben werden: Lebenslust, Vergänglichkeit, Individuum und der Andere, die Kraft des Wortes und der Phantasie, Gegenwart und Vergangenheit sind die Stationen, an denen Anjel mit dem Leser, mal als allwissender-, mal als Ich-Erzähler, Halt macht.

Die Figuren seiner Erzählungen erinnern aufgrund ihrer Typologisierungen oft an Bühnencharaktere. So gibt es z.B. den „Erfinder“ in Der Andere oder „Die Frau“ in Der Leguan und je nach erzählerischem Kontext werden diesen Haupt- oder Nebenrollen zugewiesen. Es entsteht ein „soziologischer“ bzw. „psychologischer Merkmalskomplex“ (Sabine Lang), der den Geschichten ihre Würze verleiht. So etwa in der Titelgeschichte, in der eine sehr eigenwillige „Mutter“ ihre erwachsenen Kinder regelmäßig an Das Fenster zum Meer bittet, um gemeinsam beim Hören alter Tangolieder über die imaginierten Besatzungen auf den vorbeifahrenden Schiffen zu lästern. „Eine Pflicht“ sei dieses bizarre Ritual, zum Zusammenhalt der sephardischen Familie angesichts der Bedrohung durch die Nazis, der ohnmächtige Schutz des Inneren gegen ein übermächtiges Außen.

Bizarr, surrealistisch wie in Das Krankenhaus geht es in fast allen Texten des Werkes zu und schon schleicht sich, bei der Lektüre eines kolumbianischen Autoren, die Frage nach einem „magisch-realistischen“ Erzählstil ein – ein Klischee, dem man sich nur schwer entziehen kann und das Anjel mit chassidischem Humor in Vom Schatten, der Violine spielte kontert: Dort verschwindet die Frau eines „Zahnarztes“ samt den drei Hausangestellten tanzend mit einem musizierenden Schemen von der gegenüberliegenden Häuserwand, allerdings erst nachdem sie siebzehn Mal Hundert Jahre Einsamkeit gelesen hatte. 

Gerade in Zeiten des Postbooms der lateinamerikanischen Literaturen ist Anjel schlicht ein hervorragender Erzähler und wer über knapp 160 Seiten aus dem Fenster zum Meer schauen durfte, ahnt, dass seine Schreibkunst keine Blaupause einer vergangenen Epoche ist.

Memo Anjel: Das Fenster zum Meer. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft unter Mitarbeit von Gert Loschütz, Dieter Masuhr, Ofelia Schultze-Kraft und Peter Stamm, 168 Seiten, Rotpunktverlag Zürich, 2007, 18,- Euro