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Eine Schule für die Agrarreform

Zum zehnjährigen Jubiläum der Escola Nacional Florestan Fernandes

Im vergangenen Jahr feierte die MST das 30-jährige Bestehen ihrer Organisation. In diesem Jahr gibt es wieder ein Jubiläum. Ihre bekannteste Schule zur politischen Bildung der Bewegung, die Escola Nacional Florestan Fernandes (ENFF), wird zehn Jahre alt. Inzwischen ist sie von zentraler Bedeutung für die Bildungsarbeit der MST und anderer sozialer Bewegungen in Lateinamerika.

Douglas Estevam da Silva

In den letzten drei Jahrzehnten hat es in Brasilien, aber auch in der Welt viele politische und wirtschaftliche Veränderungen gegeben. Dies stellt eine Herausforderung dar, auf die die MST versucht, Antworten zu finden. Seit der Etablierung der neuen, besonders von China beeinflussten Dynamik der internationalen Wirtschaft ergaben sich auch in Brasilien drastische Veränderungen in der landwirtschaftlichen Struktur, in der nationalen Politik sowie in der Organisationsform und den Kämpfen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern.
In diesem Kontext sucht die MST in den letzten Jahren nach Antworten bezüglich der organisatorischen und bildungspolitischen Planung, hinsichtlich des praktischen Kampfes und der theoretischen Grundlagen der eigenen Organisation. Die politische Ausbildung und die Escola Nacional Florestan Fernandes (ENFF) haben in diesem Zusammenhang eine wachsende Bedeutung. So rief die MST zum zehnjährigen Bestehen der ENFF das Jahr 2015 als „Jahr der (Aus-)Bildung“ aus.

Offiziell nahm die ENFF ihre Arbeit im Jahr 2005 auf. Jedoch begannen die Aktivitäten der nationalen Ausbildungseinrichtung der MST schon weitaus früher. Seit den späten 80er- und frühen 90er-Jahren etablierte die MST einen eigenen Bereich der politischen Bildung. Viele Kurse wurden in diesen Jahrzehnten im Rahmen der landesweiten Konsolidierung der MST als sozialer Bewegung realisiert. Insbesondere im Süden, aber auch im Nordosten des Landes wurden Schulen eingerichtet. Ursprünglich setzte die Einrichtung auf die Zusammenarbeit mit gewerkschaftlichen Gruppen und fortschrittlichen, der Befreiungstheologie nahestehenden kirchlichen Sektoren wie die Landpastoral (CPT – Comissão Pastoral da Terra) sowie auf die Erfahrungen der Kirche in den Basisgemeinden.
Das Hauptanliegen der MST war zu diesem Zeitpunkt die Herausbildung einer eigenständigen Richtung, unabhängig vom Staat, von den Parteien, den Gewerkschaften und Kirchen. Der Dialog mit anderen Organisationen beeinflusste die Entwicklung in dieser Zeit sehr, auch wenn der Fokus der MST darauf lag, die Bewegung und die Ausbildung ihrer Mitglieder autonom zu organisieren. Ziel war es, die Geschichte der Landfrage und der Agrarreform in Brasilien nachzuvollziehen, eine gemeinsame methodische Basis zu schaffen, die Bewegung auf nationaler Ebene zu etablieren und die internationalen wirtschaftlichen Dynamiken zu verstehen.

Aus diesen ersten Erfahrungen entstanden Anfang der 90er-Jahre in den Besetzungen und legalisierten Siedlungen verschiedene Schulen in ganz Brasilien. In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre gab es bereits das Projekt einer nationalen Schule, das im Bundesstaat Santa Catarina durchgeführt wurde. Dieses Projekt war die Grundlage im Konsolidierungsprozess autonomer Bildungsmodelle der MST. Nach einigen Jahren wurde entschieden, dass es notwendig sei, eine zentrale Schule in São Paulo aufzubauen. Diese Schule sollte mit den anderen über das gesamte Land verteilten Bildungseinrichtungen zusammenarbeiten. So begannen Ende der 90er-Jahre die Kampagnen zur Beschaffung finanzieller Mittel, um den Bau der Schulgebäude sowie den Kauf des dazu genutzten Areals sicherzustellen. Die Schule wurde mit Unterstützung und Solidarität verschiedener Organisationen auch auf internationaler Ebene realisiert. Der renommierte Fotograf Sebastião Salgado, der die Bewegung seit einigen Jahren fotografierte, spendete seine Bilder der MST. Die Ausstellung von Salgados Fotos Terra, organisiert von Unterstützergruppen der MST auf der ganzen Welt und insbesondere in Europa, sicherte einen Großteil der Gelder für den Aufbau der Schule. Neben Salgados Fotoreportage gab es in dem veröffentlichten Band außerdem einen Text des Nobelpreisträgers José Saramago und eine Musik-CD des brasilianischen Künstlers Chico Buarque. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern der MST aus ganz Brasilien kamen nach São Paulo, um beim Bau zu helfen und ihren Beitrag zur ENFF zu leisten. Während sie die Schule aufbauten, nahmen sie an politische Bildungsangeboten und technischen Kursen, einige auch an Alphabetisierungsprogrammen teil. Dank der solidarischen Unterstützung der MST-Basis und internationaler Gruppen konnte die ENFF ihre Arbeit im Jahr 2005 offiziell aufnehmen.
In den zehn Jahren seither wurden mehr als 10 000 Mitglieder in der ENFF in einer Vielzahl von Kursen ausgebildet. Zur Sicherstellung eines hohen Lernniveaus gab es Kooperationen mit föderalen oder bundesstaatlichen Universitäten. Schon seit ihrer Gründung legte die ENFF besonderen Wert darauf, eine Schule der Kooperation verschiedener brasilianischer, aber auch internationaler Bewegungen zu sein und sich nicht ausschließlich an die MST zu richten. So durchliefen in diesem Zeitraum auch viele AktivistInnen anderer Bewegungen das Ausbildungsprogramm, etwa aus der Bewegung der vom Bergbau Betroffenen, der städtischen Bewegung zur Wohnraumfrage oder aus Schwarzenbewegung. Seit 2007 gibt es an der ENFF einen Kurs zur politischen Bildung Lateinamerikas, der soziale Bewegungen in den verschiedensten Bereichen aus mehr als 20 lateinamerikanischen Ländern umfasst. Das Ziel dieser internationalen Kurse besteht darin, den Kontakt zwischen den Organisationen, ihre Ausbildung und Mobilisierung zu stärken. In diesem Jahr hat die ENFF begonnen, die internationalen Kurse auf europäische, US-amerikanische, kanadische, afrikanische und asiatische Organisationen auszuweiten. Die internationale Abteilung von Via Campesina hat ebenfalls Aktivitäten an der ENFF realisiert. In Brasilien konnte sie mit der Eröffnung weiterer Schulungseinrichtungen im Nordosten sowie in der brasilianischen Amazonasregion ihr Arbeitsfeld vergrößern.

Zehn Jahre nach dem Beginn der Aktivitäten, im von der MST ausgerufenen „Jahr der Bildung“, werden die Herausf orderungen an die politische Bildung größer. Sie sind vom Kampf um das Land in einer Zeit der Expansion des Agrobusiness beeinflusst. Im neuen, von der MST ausgearbeiteten Vorschlag einer Agrarreform erhält die Zukunft der landwirtschaftlichen Produktion einen besonders hohen Stellenwert für das gesellschaftliche Zusammenleben, und das nicht nur im ländlichen Raum. Die Frage der Verunreinigung des Saatguts und der Gefährdung der KonsumentInnen durch einen immer höheren Verbrauch von genmanipulierten Pflanzensorten und Pestiziden gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Etablierung eines nachhaltigen ökologischen Landwirtschaftsmodells frei von genetisch manipuliertem Saatgut wird immer wichtiger. Die Agrarreform ist aktuell noch mehr als in der Vergangenheit nicht nur ein wirtschaftliches Anliegen. Sie fragt nach der Art und Weise, wie eine Gesellschaft funktioniert und wie eine andere Lebensführung aussehen kann. Die Beziehung zum Land, zur Natur und den Produktionsmitteln muss sich grundlegend wandeln, damit die geplante Agrarreform ihre aktuellen Ziele erfüllen kann. In diesem Prozess ist Bildung von zentraler Bedeutung.

Der Autor ist Mitglied der MST im Bundesstaat São Paulo und dort insbesondere im Kultur- und Bildungssektor tätig.

Übersetzung: Katja Reuter (Menschenrechte Brasilien)