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Viele Pfeile im Köcher

„Der Indianer in mir“ erzählt Adalberto Barretos Weg zur „Terapia Comunitária“
Britt Weyde

Der Titel schreckt etwas ab: Wer das Wort „Indianer“ benutzt, hat bestimmte sprachpolitische Debatten verschlafen, so der erste Impuls. Aber es lohnt sich, gegen dieses Widerstreben anzulesen. Denn die Lebensgeschichte Adalberto Barretos, die zugleich seinen Weg zur Terapia Comunitária Integrativa nachzeichnet (der Methode der „Selbststärkenden Gemeinschaft“, siehe auch „Die Weisheit der Gemeinschaft“ in ila 375), ist lehrreich und unterhaltsam zugleich. Und sie ist eine Auseinandersetzung mit Herkunft, Identität, Ausschlussmechanismen, kolonialem Erbe sowie der Rolle der Kirche. Die Analyse seines Lebensweges und der Entwicklung der Terapia Comunitária hat Barreto zusammen mit seinem französischen Freund und Kollegen Jean-Pierre Boyer aufbereitet, wobei letzterer als Autor verantwortlich zeichnet.

Adalberto Barretos Familie stammt aus dem armen Nordosten Brasiliens. Schon früh war klar: Adalberto will Gott und den Menschen dienen. Zu seiner großen Freude wird er mit zwölf Jahren ins Priesterseminar aufgenommen. Bald stellt sich erstes Ungemach ein, denn im Seminar herrscht ein unverhohlener Rassismus gegenüber allem vermeintlich Indigenem. Barreto, selbst Mestize (also mit indigenen Vorfahren), und dessen Großväter heilende und seherische Fähigkeiten hatten, sträubt sich dagegen, seinen „Indianer im Inneren“ zu verleugnen. Auf diese erste große Verstörung werden noch viele weitere folgen. Nachdem er sein Medizinstudium abgeschlossen hat, bekommt Barreto ein Stipendium für Theologie in Rom, wo er in mehrerlei Hinsicht enttäuscht wird. Er geht nach Deutschland, um in einer psychiatrischen Klinik als Assistenzarzt zu arbeiten. In der Nähe von Koblenz wird er von der saudade übermannt und fühlt sich so einsam wie noch nie zuvor. Doch solche Krisen sorgen für Selbstreflexion und treiben ihn immer weiter. Er setzt seine Studien in Lyon und Paris fort, wo er mit Begeisterung die systemische Familientherapie und Ethnopsychologie für sich entdeckt. Unermüdlich setzt Barreto seine Studien fort und langsam wird sein Lebensprojekt erkennbar: sich bilden, Techniken lernen, „um meinem Volk als Arzt, als Psychiater und wer weiß, vielleicht als Priester helfen zu können.“ Er möchte „so viele Pfeile wie möglich im Köcher haben“, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Dabei überzeugt ihn auch nicht alles, was in Europa gelehrt wird. Eine sehr teure Fortbildung vermittelt etwa die Wichtigkeit von Berührungen. „In Brasilien sind diese Formen der Kommunikation spontan, üblich, banal“, so Barreto lapidar.

Anfang der 80er-Jahre kehrt er zurück in seine Heimatregion und widmet sich dem Vorhaben, modernes mit traditionellem Wissen zu verbinden. In einer Gegend, in der Krankenhäuser spärlich verteilt sind und viele Neugeborene an eigentlich einfach zu verhindernden Krankheiten sterben, spielen rezadeiras (Gesundbeterinnen) und traditionelle Heiler eine wichtige Rolle. Barreto verbindet Forschung und Praxis und schafft es, dass die traditionellen Akteure Fortbildungen erhalten und kräuterkundliches Wissen größere Verbreitung über die farmacias vivas findet.

Adalbertos Bruder Ayrton, der als Menschenrechtsanwalt arbeitet, zieht ihn schließlich in ein Projekt hinein, in das Adalberto seine ganzen Kompetenzen einbringen und auch selbst noch dazu lernen kann. In der Favela Pinambú (Fortaleza) ist ein neues Viertel entstanden (das den Namen „Cuatro Varas“ – „Vier Stäbe“ tragen wird). Die Bewohner*innen müssen sich gegen die drohende Vertreibung wehren und sind vielerlei Arten von Gewalt ausgesetzt. Sie leiden unter Stress, Drogenabhängigkeit, Depressionen, es gibt viele Familienkonflikte. Nach dem Motto „Eine Gemeinschaft sorgt für Probleme, aber auch für Lösungen“ startet das Projekt der „Selbststärkenden Gemeinschaft“. In wöchentlichen, moderierten Sitzungen bespricht die Gemeinschaft aktuelle Probleme. Im Austausch untereinander kann jeder seine Erfahrungen einbringen, die Perspektiven weiten sich. Ein Grundbedürfnis des Menschen – neben Essen, Trinken, Schlafen – ist ein soziales: Einer Gruppe anzugehören, darin als Person anerkannt zu sein und aktiv an ihr teilzuhaben. Der Gruppenausschluss ist ein sozialer Tod. In der Selbststärkenden Gemeinschaft kommt dieses Grundbedürfnis zum Tragen. Die Terapia Comunitária ist eher eine bestimmte Haltung als eine Methode: Die Teilnehmenden sollten offen und bereit sein, angebliche Gewissheiten auch anzweifeln. Hierarchien sind zu vermeiden, alle Teilnehmenden sind Lernende.

Das Buch ist voller konkreter Therapiebeispiele und Parabeln. Köstlich etwa die Anekdote über das kulturelle (!) Missverständnis zwischen dem Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux und seinem Schüler Barreto. Oder die Lektion an therapeutischem Scharfsinn, die Barreto bei einem afrobrasilianischen Umbanda-Ritual vermittelt wird. Sehr erhellend auch, wie Barreto sich der Welt der Geister (Encostos) öffnet: Was andernorts als „traumatisierte Person“ bezeichnet würde, gilt bei den Sertanejos, der Bevölkerung des nordöstlichen Binnenlands, als eine „von einem Geist besessene“ Person.

Die Lebensgeschichte dieses humanistischen, hochgebildeten, dabei so bescheidenen Mannes ist im besten Sinne „erbaulich“ – wie es auch Leonardo Boff, der große Befreiungstheologe, im Vorwort zum Buch sagt. Übrigens gibt es auch eine bizarre Anekdote, in der Boff, den die Barreto-Brüder, vor allem Anwalt Ayrton, gut kennen, eine Rolle spielt: Der „Marxist in der Soutane“ hat in der Favela eine Begegnung, die ihn wahrlich aus der Fassung bringt. Aber lest selbst.

 

TED Talks Fortaleza 2016, Vortrag von Adalberto Barreto: www.youtube.com/watch?v=C9d2SrRyyAc