ila

Erst wenn der Tumor nicht mehr unter die Mütze passt

Männer und Gesundheit

Das Thema Gesundheit spielte bisher keine große Rolle in meinem Leben. Abgesehen von einem Bandscheibenvorfall und einer kleinen Augen-OP bin ich bislang glimpflich davongekommen. Nicht zu vergessen die eine oder andere „Männergrippe“ im Winter, die tatsächlich kein Mythos sein soll. Das männliche Hormon Testosteron unterdrückt nämlich die Vermehrung spezifischer Abwehrzellen, dazu liegen wichtige Gene, die das Immunsystem regulieren, auf dem X-Chromosom. Davon haben Männer leider nur eins, weshalb sie angeblich häufiger als Frauen Erkältungen bekommen und stärker darunter leiden. Gilt übrigens auch für Covid-19. Soweit zur biologischen Erklärung, die angeblich 10 oder 20 Prozent ausmacht, der Rest hängt von der Lebensweise und dem Verhältnis zum eigenen Körper ab.

Helmut Schneider

Traditionelle männliche Rollenbilder sind zwar auch in Lateinamerika im Wandel, aber nach wie vor herrscht in Deutschland wie in Lateinamerika die „hegemoniale Männlichkeit”. Der lateinamerikanische Mann (mir ist die Ungenauigkeit einer solchen Verallgemeinerung bewusst) versucht sich vielleicht stärker an dem alten mexikanischen Liedtext „Aber ich bleibe weiterhin der König“ zu orientieren. Die kulturelle Zurschaustellung seiner Männlichkeit mag in Lateinamerika offensichtlicher sein, aber unabhängig von seinem toxischen Verhalten gegenüber Frauen und LGBTIQ+ ist ihm ein gesundes Körperbewusstsein ebenso fremd. Und der Bogen, den er um Arztpraxen macht, ist nicht kleiner als hierzulande.

Dieses Verhalten steht einem gesunden und langen Leben hier wie dort entgegen und führt dazu, dass Männer hüben wie drüben im Durchschnitt fünf oder sechs Jahre früher als Frauen sterben. In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer bei 78, die der Frauen bei 83 Jahren. Ähnlich sind übrigens die Zahlen in Chile und auf Cuba, ansonsten sterben Männer im lateinamerikanischen Durchschnitt schon mit 73, in Haiti sogar schon mit 62 Jahren. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt auch dort bei etwa fünf Jahren. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die meisten Medikamente und Therapien mit männlichen Probanden entwickelt wurden und wir doch „das starke Geschlecht“ sein sollen. Selbst die Qualität und Bezahlbarkeit der Gesundheitssysteme ändern nichts an dem Abstand, nur an der Lebenserwartung. Auch in Lateinamerika führen inzwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes zu vorzeitiger Sterblichkeit bei Männern, dazu erhöhte Zahlen von Atemwegserkrankungen und Leberzirrhose, zusätzlich die äußeren Umstände wie Verkehrsunfälle und eine höhere Anzahl von Toten durch Gewalttaten. Bei der Suizidrate ähneln sich die Zahlen, dreimal so viele Männer wie Frauen töten sich selbst.

Nicht nur in Lateinamerika wirken sich Armut und mangelnde Bildung auf Gesundheit und Lebenserwartung aus, sie reduzieren die Erwartung auf ein schmerz- und beschwerdefreies Leben um neun Jahre, sagt eine deutsche Studie. Von Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes oder chronischen Lungenerkrankungen sind Ärmere häufiger betroffen, hier und in Lateinamerika. Oft vernachlässigt wird die Tatsache, dass gefährliche und gesundheitsschädigende Arbeiten in aller Regel von Männern verrichtet werden. Die Männeranteile bei den anerkannten Berufskrankheiten, bei tödlichen Arbeitsunfällen und Todesfällen aufgrund von Berufskrankheiten betragen in Deutschland zwischen 91 und 98 Prozent. Wie stark der Einfluss der einzelnen Faktoren auf die Lebenserwartung ist beziehungsweise auch deren komplexes Zusammenwirken, ist jedoch noch nicht umfassend geklärt.

Ich gehöre sicherlich nicht zu den Armen und lebe meiner Ansicht nach schon länger gesund. Habe vor Jahren aufgehört zu rauchen, trinke selten Alkohol, esse noch seltener Fleisch und wenig Süßes. Mein Body-Mass-Index liegt zwischen 24 und 25, Verhältnis von Gewicht und Größe ist also optimal. Meine Arbeitszeiten waren immer überschaubar und der Stress gering. Ich treibe schon lange keinen Sport mehr, habe mich aber immer viel bewegt. Gehe mehrmals jährlich zum Arzt, auch ohne Schmerzen, nehme alle Vorsorgeangebote der Krankenkasse wahr, vom Check-up bis zur Darmspiegelung, mein Impfpass ist stets auf dem aktuellsten Stand. So gesehen gehöre ich wohl zu einer Minderheit unter den Männern.

Nur jeder zweite männliche Patient geht regelmäßig zum Arzt, etwa jeder dritte gar nicht, und nur jeder zehnte schützt sich mit einer Krebsvorsorge. Die meisten gehen erst, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushalten oder nach ständigem Drängen durch ihre Partnerin oder ihren Partner, oder, wie ein Arzt meinte „wenn die Mütze nicht mehr über den Tumor passt“. Dann ist es meistens zu spät. Um Gründe für die Zurückhaltung bei Arztbesuchen zu ermitteln, wurden in Deutschland rund 970 Männer befragt. Ergebnis: 78 Prozent gaben an, lange Wartezeiten schreckten sie ab, etwa jeder Vierte befürchtete eine schlechte Mitteilung, jeder Fünfte zeigte sich besorgt, eine Untersuchung könnte schmerzhaft sein.

Mir fehlte bisher nur ein Arzt, er steht in der Beliebtheitsskala der Männer an letzter Stelle: der beziehungsweise die Urolog*in. Mein PSA-Wert, das prostata-spezifische Antigen in meinem Blut, lag bei der letzten Voruntersuchung des Hausarztes bei 3,4 ng/ml, grenzwertig, aber für mein Alter nicht alarmierend. Doch das mehrmalige Wasserlassen in der Nacht störte mich. So ging ich zum Urologen. Eigentlich zu spät. Er schlug vor, meinen PSA-Wert wieder zu messen, der lag ein Jahr nach der letzten Messung plötzlich bei 9,5 ng/ml. Die Biopsie ergab ein ziemlich aggressives Prostatakarzinom. Damit begann meine Odyssee und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit, oder spezifischer: Prostatakrebs, einer der häufigsten Krebsarten bei Männern. Er ist unter den Krebsarten nicht der tödlichste. Nach der Biopsie begann ich mit einer Hormontherapie, nach ein paar Monaten wurde mir die Prostata entfernt. Jetzt werde ich täglich bestrahlt.

Im Gegensatz zu den meisten Männern nahm ich nach der OP eine dreiwöchige Anschlussheilbehandlung, eine Reha, in Anspruch. So ein Angebot gibt es in Lateinamerika sicherlich nicht, und auch in vielen europäischen Ländern ist es nicht selbstverständlich. Ich verbrachte drei Wochen in einer auf Onkologie und Urologie spezialisierten Klink und traf dort fast nur Männer. Die Meisten waren wie ich ohne Prostata angereist. Ihr größtes Anliegen, nach den Themen der Vorträge und dem angebotenen Training zu beurteilen, war die Wiedererlangung der Kontinenz und der Erektionsfähigkeit, die unangenehmsten Nebenwirkungen der radikalen Prostatektomie.
Mein Therapieplan erlaubte mir viel Zeit zum Entspannen. Das kam bei vielen Männern überhaupt nicht gut an. Sie beklagten sich über die viele freie Zeit. „Hier ist ja nichts los“, war so ein Spruch. Mein Hinweis, dass wir da seien, um Körper und „Seele“ Zeit zu geben, sich von den Wunden der letzten Monate zu erholen, es sei wichtig, ein paar Gänge herunterzuschalten (Autosprache verstehen die meisten Männer), um Ruhe und Kraft wiederzufinden, schien sie nicht zu überzeugen. Der eine prahlte, er sei die vier Kilometer zur nächsten Ortschaft zu Fuß gegangen, obwohl die Ärzte uns geraten hatten, nur kleine Spaziergänge, dafür öfter, zu unternehmen. Der andere ging jeden Abend in die Kneipe. Da war sie wieder, die männliche „Schneller, Höher, Weiter“-Mentalität. Die Gespräche der Männer in größeren Gruppen kreisten um die üblichen Männerthemen, selten um die Erfahrungen vor Ort oder im Krankenhaus. Auch nicht über die Krankheit und ihre Ängste. Wenn doch, dann eher „technisch“, als ob sie über ein kaputtes Auto redeten. Als ich einzelne zum Thema Kontinenz ansprach, hatte kaum einer Probleme damit, am nächsten Tag sah man sich bei der Vorlagenausgabe wieder. Das Thema Erektion traute ich mich aber nicht anzusprechen. Der Vortrag „Erektionsstörungen“ war bis auf den letzten Stuhl besetzt. Den Psychotherapeuten fragte ich, warum es keine Gruppentherapien gäbe, er meinte, die Versuche wären gescheitert. Männer sind es nicht gewohnt, über ihre Befindlichkeit zu reden – schon gar nicht über Krankheiten, die ihre Männlichkeit infrage stellen.

Männliche Beschwerden bleiben oft unsichtbar, erst recht psychische Leiden wie Depressionen. Frauen vertrauen sich eher anderen an und suchen sich schneller professionelle Hilfe. Auch werden Depressionen bei Männern seltener diagnostiziert. Nicht behandelte Depressionen führen immer wieder zur Selbsttötung.

Die Analyse der Männergesundheit aus einer genderspezifischen Perspektive wäre ohne den Feminismus und die Genderstudien seit den 1990er-Jahren auch in Lateinamerika nicht denkbar. Während sich Frauengesundheit bereits in den 1970er-Jahren als eigener Forschungsgegenstand etablierte, begannen die Gesundheitswissenschaften erst gegen Ende der 1990er-Jahre, sich gezielt der Gesundheit der Männer zu widmen. Mittlerweile sind einige Studien dazu erschienen. Am Anfang überwogen spezifische Themen, die die männliche Sexualität betreffen, ein beliebtes Thema etwa die Potenz beziehungsweise die mangelnde Potenz. Inzwischen ist das Themenspektrum breiter. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit und Männer muss allerdings mit der Medikalisierung des männlichen Körpers darauf geachtet werden, die Zweigeschlechtlichkeit in der Medizin nicht zu verstärken und damit einen Beitrag zur Bestandssicherung der männlichen Hegemonie zu leisten. Angestrebt wird deshalb nicht der gesunde, langlebige „hegemoniale Mann“, sondern der gesunde, langlebige, neue Mensch in einer nicht-binären, geschlechtergerechten Welt mit einem Gesundheitssystem, das die Bedürfnisse aller Menschen gerecht befriedigt.

Übrigens, der Rückschluss, ich hätte mir das gesunde Leben und die Gänge zum Arzt sparen können, da ich trotzdem krank geworden bin, ist nicht richtig. Warum sich bei meiner Prostata ein Karzinom gebildet hat, weiß niemand. Was gewesen wäre, wenn ich mich wie viele Männer verhalten hätte, auch nicht. Vielleicht wäre ich dann schon längst an Lungenkrebs, Leberzirrhose, Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Erkrankung oder sonst einer fiesen Krankheit gestorben.