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Kompromisslos bis zuletzt

Zum Tod von Hebe de Bonafini, Vorsitzende der „Madres de Plaza de Mayo“
Roberto Frankenthal

Geboren wurde sie am 4. Dezember 1928 als Hebe Pastor im Viertel El Dique, einem Arbeiterviertel des Hafens von Ensenada in der Nähe von La Plata. Sie wollte Lehrerin werden, aber ihre Eltern entschieden, dass sie eine Lehre als Schneiderin machen solle. 1949 heiratete sie Humberto Bonafini aus demselben Viertel, der als Bauarbeiter beim Amt für nationale Verkehrswege arbeitete. 1950 kam ihr erster Sohn Jorge Omar zur Welt. Drei Jahre später folgte Raúl. Humberto Bonafini wechselte zur staatlichen Erdölgesellschaft YPF und die Familie zog nach La Plata. Dort kam 1965 Alejandra, die einzige Tochter, zur Welt. Die Bonafinis ermöglichten ihren Kindern ein Studium, was ihnen selbst verwehrt war. Jorge studierte Physik und Raúl Zoologie an der Universität von La Plata. Beide waren in der maoistischen „Partido Comunista Marxista Leninista“ aktiv. Das Leben der Familie änderte sich radikal mit dem Militärputsch vom 24. März 1976: Im Februar 1977 „verschwand“ der erstgeborene Jorge Omar. Es waren vor allem politisch aktive junge Leute, überproportional viele Studierende, die von den Militärs entführt und dann in geheimen Gefängnissen gefoltert und ermordet wurden.

Wie andere Eltern und Angehörige von Verschwundenen versuchte auch Hebe de Bonafini, etwas über das Schicksal ihres Sohnes herauszufinden. Besuche bei Behörden, Gespräche mit Kirchenvertretern und sogar ein handgeschriebenes Habeas Corpus (verfassungsmäßiges Recht, eine verhaftete Person einem Gericht vorzuführen) blieben erfolglos.

Am 30. April 1977 trafen sich einige „Madres“ (Mütter) von gewaltsam Verschwundenen zum ersten Mal auf der Plaza de Mayo, dem zentralen Platz vor dem Regierungssitz in Buenos Aires. Das war der Beginn der „Madres de Plaza de Mayo“. Zu einer der Gründerinnen und ersten Vorsitzenden der Gruppe, Azucena Villaflor, nahm Hebe wenige Tage später, bei ihrem erst zweiten oder dritten Besuch in der argentinischen Bundeshauptstadt, Kontakt auf und gehörte fortan dazu. Am 10. Dezember 1977 veröffentlichte die Tageszeitung „La Nación“ die erste bezahlte Anzeige der „Madres“, in der nach dem Verbleib der Verschwundenen gefragt wurde. Das Geld dafür hatte Hebe zusammen mit anderen Müttern gesammelt. Wenige Tage zuvor, am 6. Dezember 1977, war ihr zweiter Sohn Raúl verschwunden. Drei Tage danach wurde eine Gruppe von Familienangehörigen vor der „Iglesia de Santa Cruz“ (Kirche des Heiligen Kreuzes) verhaftet und tauchte nie wieder auf. Azucena Villaflor verschwand einen Tag, nachdem die Anzeige erschienen war. 1978 wurde auch Hebes Schwiegertochter, die Lebensgefährtin von Jorge Omar, verschleppt.

Die Politisierung ihrer Söhne und deren gewaltsames Verschwindenlassen machten aus der Hausfrau und Mutter Hebe de Bonafini eine andere Person. Trotz Verfolgung durch die Militärjunta gehörte sie zu den Familienangehörigen, die nie aufhörten nachzufragen. Nach und nach wurde das Engagement für die eigenen Kinder zum Kampf für alle gewaltsam Verschwundenen. 1979 wurde Hebe de Bonafini zur Vorsitzenden der „Madres de Plaza de Mayo“ gewählt, und die Organisation nahm eine Vereinsform an. Im selben Jahr sponserte Amnesty International der neu gegründeten Assoziation eine Reise durch neun Länder Europas und die USA. Durch die dort geknüpften Kontakte erhielten die „Madres“ die notwendige Unterstützung aus dem Ausland, um die Zukunft der Organisation zu sichern. 1980 wurde mit Hilfe einer niederländischen Frauenorganisation ein erstes Büro gemietet.

Die „Madres de Plaza de Mayo“ haben den Kampf der argentinischen Menschenrechtsorganisationen Anfang der 80er-Jahre geprägt. Ihre Losung „ Aparición con vida y castigo a los culpables“ (Rückkehr der Verschwundenen als Lebende und Bestrafung der Schuldigen) wurde zur zentralen Forderung aller Gruppen. Ohne Zweifel war Hebe de Bonafini als Vorsitzende der „Madres de Plaza de Mayo“ eine der führenden Figuren im Widerstand gegen die Militärjunta, der bis mindestens 1982 hauptsächlich von den Menschenrechtsgruppen getragen wurde.
Als in den Jahren nach dem Ende der Diktatur mehrere Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen öffentlich erklärten, die Verschwundenen seien ermordet worden, wurde das von Hebe de Bonafini scharf kritisiert. Ihren auf Konfrontation aufgebauten Diskurs und ihr Bestehen auf der Losung „Lebend habt ihr sie uns genommen, lebend werden sie zurückkehren“ betrachteten viele als realitätsfern. Schließlich kam es 1986 zu einer Spaltung innerhalb ihrer Organisation. Es entstand die neue Gruppe „Madres de la Plaza de Mayo – Línea Fundadora“ (Gründungslinie). Die politischen Gründe der Spaltung lagen in unterschiedlichen Haltungen gegenüber der „Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen“ (CONADEP), die 1983 vom ersten nach Ende der Diktatur gewählten Präsidenten Raúl Alfonsín ins Leben gerufen wurde. Ebenso entzweiten die Frage der Zustimmung zur Exhumierung der Leichen aus Massengräbern, um deren Identität festzustellen, der Annahme von staatlichen Wiedergutmachungszahlungen und nicht zuletzt der autoritäre Führungsstil von Hebe de Bonafini.

„Hart, übertrieben, unbarmherzig, extrem, kapriziös, verleumderisch wie es nur die Stimme von denjenigen sein kann, die brutal geschädigt wurden – all das war Hebes Stimme“, schrieb der argentinische Schriftsteller Ricardo Foster in einem Nachruf in der linken Tageszeitung „Página 12“ (21.11.22). Mit dieser Stimme hat sie es fertiggebracht, sich zu verschiedenen Zeitpunkten mit Fidel Castro (wegen dessen Unterstützung der Alfonsín-Regierung), Hugo Chávez (weil er Offizier der Streitkräfte war) und auch mit Néstor Kirchner (den sie nach seiner Wahl als „dieselbe [peronistische] Scheiße mit anderem Namen“ titulierte) anzulegen.

Im Laufe der Zeit korrigierte sie manche ihrer Urteile. Besonders eng war danach ihre Versöhnung mit Néstor und Cristina Kirchner. Ihre Identifizierung mit der kirchneristischen Politik führte dazu, dass die bis dahin hochgehaltene Parteiferne der „Madres de Plaza de Mayo“ aufgegeben wurde.

Aber Hebe de Bonafini, so schrieb Foster in seinem Nachruf weiter, „war auch eine Stimme der Erinnerung, der Wiedergewinnung von Werten, die vom Hass der Mächtigen mit Füßen getreten wurden, einer unermüdlichen Militanz, die versuchte, im Namen der verschwundenen Stimmen ihrer Kinder Gerechtigkeit zu fordern. Eine Stimme der Mütter, um Brücken zu den Jungen und den Armen wieder aufzubauen. Sie war der Überzeugung, gegen alle Widerstände für Wahrheit, Gerechtigkeit und Gleichheit auf einer verbrannten Erde zu kämpfen.“

Manche ihrer Äußerungen waren für alle fortschrittlichen Argentinier*innen nur schwer zu ertragen. Ihre Stellungnahme zu den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York war von einer klammheimlichen Freude über den Tod Tausender US-Bürger*innen geprägt. Der von ihr geleitete Verein, der weiter den ursprünglichen Namen „Asociación Madres de Plaza de Mayo“ führte, wurde mehr und mehr zu einer politischen Gruppierung, die zwar in bestimmten Fragen noch mit anderen Menschenrechtsorganisationen zusammenarbeitete, aber auch eine eigene Agenda hatte. Als die Kirchner-Regierung ab 2005 den kooperativen Wohnungsbau förderte, riefen die „Madres de Plaza de Mayo“ das Projekt „Sueños Compartidos“ (Gemeinsame Träume) ins Leben. Dafür wurde eine Stiftung gegründet, zu deren Geschäftsführer Hebe de Bonafini den ehemaligen Häftling Sergio Schoklender machte. 2011 stellte sich heraus, dass Schoklender Millionen Pesos an Fördergeldern unterschlagen hatte. „Er hat mich und die Madres verraten“, kommentierte Hebe de Bonafini, die bis dahin eine mütterliche Beziehung zu ihm gepflegt hatte.

Letztendlich war Hebe Pastor de Bonafini ein Kind ihrer Zeit, geprägt von einer Gesellschaft, deren Struktur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts extrem autoritär war, wo die gewaltsame Lösung politischer Konflikte als normal galt und wo es binnen 50 Jahren sieben Staatsstreiche gab. Die Diktatur riss sie 1977 aus ihrem geordneten kleinbürgerlichen Alltag. Danach engagierte sie sich mit zunächst nur bescheidenen Möglichkeiten für Wahrheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Daraus wurde dann ein nicht unerheblicher Anteil am Anfang vom Ende der Diktatur.

Der als Kind deutsch-jüdischer Flüchtlinge in Buenos Aires geborene Roberto Frankenthal war ab 1982 in der jüdischen Menschenrechtsbewegung in Argentinien aktiv. Mitte der Achtziger zog er nach Deutschland, wo er einer der Träger der „Koalition gegen Straffreiheit in Argentinien“ war und regelmäßig in der ila zu Argentinien schreibt.