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Der Geschäftssinn der frommen Niederländer

Anton de Koms Klassiker „Wir Sklaven von Suriname“
Gert Eisenbürger

Anton de Koms Buch „Wir Sklaven von Suriname“ war offenbar zu wahr, um akzeptabel zu sein. Schon seine Editionsgeschichte zeigt, dass man lange lieber wegsah. Als eines der frühesten antikolonialen Werke wurde es bereits 1935 in einer Übersetzung der Schriftstellerin Augusta de Wit auf Deutsch veröffentlicht, übrigens erstmals vollständig, weil die Behörden im niederländischen Original von 1934 die Streichung einiger Abschnitte verlangt hatten. Erschienen ist die erste deutsche Ausgabe bei der „Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR“ (Moskau/Leningrad), wo zwischen 1931 und 1938 fremdsprachige Bücher herausgebracht wurden, darunter belletristische Werke russischer und westlicher Autor*innen (auch von Exilierten aus Nazideutschland), marxistische Klassiker sowie Propagandaliteratur. 1936 erschien in gleicher Aufmachung eine Ausgabe des Buches beim Ring-Verlag Zürich.

Während viele Bücher der sowjetischen Verlagsgenossenschaft in Zeitschriften des antifaschistischen Exils gewürdigt wurden, habe ich zu „Wir Sklaven von Surinam“ (in den damaligen Ausgaben ohne „e“ am Ende) keine Rezension in einer Exilpublikation gefunden. Aber selbst wenn es einzelne Besprechungen gab, waren die Reaktionen insgesamt sehr spärlich. In der deutschsprachigen Linken stand die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur im Vordergrund, zudem war ihr Interesse an antikolonialen Publikationen (noch) geringer als in Frankreich oder Großbritannien.

Auf den Namen Anton de Kom stieß ich erstmals in den 1990er-Jahren bei einer Recherche zum niederländischen Kolonialismus in der Karibik und Südamerika. Der 1898 in Surinames Hauptstadt Paramaribo geborene Afroamerikaner war 1933 die zentrale Persönlichkeit der sich formierenden Emanzipationsbewegung in seiner Heimat. Weil er eine stark frequentierte Beratungsstelle für Arbeits- und Sozialrechte betrieb, in der die Kolonialbehörden eine Brutstätte des Aufruhrs sahen, wurde er in die Niederlande deportiert. Dort war er in der Linken und nach 1940 im Widerstand gegen das NS-Besatzungsregime aktiv. 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und starb im April 1945, wenige Tage vor der Befreiung, im KZ-Auffanglager Sandbostel bei Bremen.

Nun ist Anton de Koms Klassiker in neuer Übersetzung von Birgit Erdmann endlich wieder auf Deutsch zugänglich, mit persönlichen Vorworten von Tesa Leeuwsha und Judith de Kom, der Tochter des Verfassers, sowie zwei interessanten Aufsätzen von Duco van Oostrum über die literarische und von Mitchel Esajas über die historisch-politische Bedeutung Anton de Koms und seines Werks.

In „Wir Sklaven aus Suriname“ beschreibt der Autor mit zahlreichen Vor- und Rückblenden die Entwicklung seines Heimatlandes bis in die frühen 1930er-Jahre. Nach mehreren erfolglosen Kolonisierungsversuchen europäischer Mächte und einem Krieg zwischen England und den Niederlanden kam das von indigenen Völkern dünn besiedelte Suriname 1674 unter niederländische Herrschaft. Schon damals wurde in einem Modell von „Public Private Partnership“ die Kolonisierung verschiedenen Unternehmen übertragen. Die wollten großflächig begehrte Agrarprodukte wie Zucker, Kaffee und Indigo anpflanzen. Dafür stiegen sie in den internationalen Menschenhandel ein und importierten Sklav*innen aus Afrika.

Nach de Koms Einschätzung war das Los der in niederländische Sklaverei verschleppten Afrikaner*innen noch schlimmer und ihre Bestrafungen noch menschenverachtender als in den Kolonien anderer Länder. Tatsächlich fallen einige bemerkenswerte Unterschiede auf. Bestrafungen, also Folterungen und schwerste Misshandlungen der Sklav*innen, wurden in den meisten Kolonien auf den Plantagen verübt. Um dadurch nicht unnötig Zeit zu verlieren, bot die staatliche Kolonialverwaltung den Plantagenbesitzern in Suriname gegen Gebühr an, die brutalen Strafen im Fort Zeelandia, dem Hauptquartier der Kolonialtruppen, von Soldaten vollstrecken zu lassen. Auch das eine „Public Private Partnership“.

Eine andere Besonderheit war die Christianisierung der Sklav*innen, die – anders als etwa in den spanischen Kolonien – erst Mitte des 18. Jahrhunderts begann. Dazu fragt Anton de Kom: „Wie jetzt? Die Sklaverei wurde doch vom Christentum immer als Mittel verteidigt, um die armen Heiden zur wahren Lehre zu bekehren? Wie konnte es sein, dass die Holländer schon über ein Jahrhundert in Suriname herrschten, ehe sie diese Mission tatkräftig in Angriff nahmen?“ Ganz einfach: „Holländer sind nüchterne Kaufleute. Wenn Sklaven beten, geht Arbeitszeit verloren. Wenn Sklaven die Bibel lesen, beginnen sie womöglich zu denken, und denkende Sklaven können gefährlich werden“ (S. 77).

Überhaupt erwies sich der ansonsten so sittenstrenge Calvinismus in der Kolonie als sehr flexibel. „Eheschließungen zwischen Weißen und Schwarzen waren streng verboten, nur das Halten einer farbigen Mätresse war gestattet“ (S. 63). Auch sahen die frommen Pfarrer großzügig über die gängige Praxis hinweg, Sklavinnen zu missbrauchen oder zu vergewaltigen, wenn den Plantagenbesitzern danach war. Streng zeigten sie sich an anderer Stelle: Sowohl in Zeiten der Sklaverei als auch im 20. Jahrhundert warnten sie davor, selbst in größten Notlagen, hungernden Schwarzen Nahrungsmittel ohne Gegenleistung zur Verfügung zur stellen. Ganz im Sinne der calvinistischen Ideologie, dass jede*r selbst für seinen wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich und entsprechend auch selbst schuld ist, wenn er/sie arm ist.

Im kolonialen Suriname wurden nur ein schmaler Küstenstreifen und einige Flächen an Flussufern landwirtschaftlich genutzt. Der weitaus größte Teil des Landes war Urwald. So war es für entflohene Sklav*innen weitaus einfacher als etwa in Haiti oder Jamaika, sich in den Wäldern zu verstecken. Meist gründeten die Maroons dort Dörfer und betrieben Landwirtschaft zur Selbstversorgung. Gegen die ausgeschickten Suchtrupps wussten sie sich zu wehren. Aus dieser Selbstverteidigung entwickelten sich bewaffnete Einheiten, die Plantagen überfielen und Sklav*innen befreiten. Das gesamte 18. Jahrhundert war von Kämpfen zwischen niederländischen Truppen und aufständischen Maroons geprägt. Am Ende schloss die Kolonialverwaltung gegenseitige Nichtangriffspakte mit den wichtigsten Oberhäuptern der Maroons. Sklav*innen, die danach von den Plantagen flohen, wurden allerdings weiter mit Bluthunden gejagt.

Als 1863 offiziell bzw. nach einer zehnjährigen Übergangsfrist auch real die Sklaverei in Suriname abgeschafft wurde, erhielten die „Eigentümer“ vom niederländischen Staat für jede*n Versklavte*n eine Kompensation von 300 Gulden. Die Sklav*innen erhielten keinerlei Entschädigung für die geleistete Zwangsarbeit.

Da die Afroamerikaner*innen nicht weiter in Lohnarbeit auf den Plantagen schuften wollten, wurden „Vertragsarbeiter“ aus Britisch- und Niederländisch-Indien (dem heutigen Indien und Indonesien) eingeführt. Für die Bezahlung der Überfahrt mussten diese mehrere Jahre unentgeltlich auf den Plantagen arbeiten. Auch nach Ablauf dieser Frist blieben die meisten in Schuldknechtschaft an die Güter gebunden. (vgl. ila 440) Diese Praxis führte zur besonderen Bevölkerungsstruktur Surinames, wo heute 37,4 Prozent der knapp 600 000 Einwohner*innen afrikanischer, 27,4 Prozent indischer und 13,7 Prozent indonesischer Herkunft sind. 13,4 Prozent geben an, sie hätten unterschiedliche Vorfahren. Dazu kommen kleinere Gruppen Indigener sowie Menschen mit chinesischen, arabischen und europäischen Wurzeln.1

Als sie weniger manuelle Arbeit auf den Feldern benötigten und die Nachfrage nach ihren Exportprodukten zurückging, erkannten die meisten Plantagenbesitzer die Vorteile der „freien Arbeit“. Es war nun günstiger, Arbeiter*innen nur dann anzustellen und zu ernähren, wenn sie gebraucht wurden. Flächen, die sie nicht mehr bebauten, verpachteten die Grundeigner in kleinen Parzellen an Landlose.

Im 20. Jahrhundert pumpte die Kolonialmacht wiederholt Geld nach Suriname, um die in die Krise geratene Exportlandwirtschaft der großen Landbesitzer und Kapitalgesellschaften zu unterstützen. Denen wurde die Anlage von Pflanzungen für jeweils neue Exportprodukte finanziert, die aber allesamt entweder von Krankheiten befallen wurden oder keine Absatzmärkte fanden. Während die Großgrundbesitzer immer neue Subventionen einstrichen, erhielt die von ehemaligen Sklav*innen und Vertragsarbeiter*innen betriebene kleinbäuerliche Landwirtschaft keinerlei Unterstützung. Im Gegenteil: Wenn die kleinen Produzent*innen infolge von Missernten ihre Pacht nicht mehr bezahlen konnten, wurde ihnen das letzte Hemd weggepfändet. So wundert es nicht, dass schon in den 1920er-Jahren viele junge Leute in Suriname einzig in der Emigration in die Niederlande die Chance auf ein besseres Leben sahen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Epilog I: Neben der Selbstorganisierung sah Anton de Kom in einer allgemein zugänglichen Bildung eine Bedingung für die Emanzipation der benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Wäre er nicht von den Nazis umgebracht worden, hätte er als alter Mensch vielleicht noch die Eröffnung der nationalen Hochschule seines Heimatlandes erleben können, der „Anton de Kom Universiteit van Suriname“.

Epilog II: Am 19. Dezember 2022 hat sich die niederländische Regierung nach langen Diskussionen für Kolonialismus und Sklaverei entschuldigt. 200 Millionen Euro sollen für Bildungsarbeit zu diesen Themen bereitgestellt werden, 27 Millionen für den Aufbau eines Museums zum Gewaltsystem der Sklaverei. Entschädigungen der Familien der ehemaligen Sklav*innen sind nicht vorgesehen.