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Souveränität mit Fragezeichen

Boliviens Außenpolitik laviert zwischen politischen Sympathien und wirtschaftlichen Zwängen

Für wirtschaftliche Weltmächte sind vor allem Länder mit Meerzugang interessant, etwa um sich Handelswege zu sichern. Das ist Boliviens wunder Punkt, den Meerzugang verlor es im 19. Jahrhundert an Chile. Der kleine Andenstaat ist aber für China, USA, EU und andere wegen seiner Rohstoffe interessant – und wegen der Drogenproduktion. Ein Text darüber, wie Bolivien zwischen Bündnispartnern navigiert und versucht, die Interessen an seinem Territorium für sich zu nutzen. Und darüber, wie wirtschaftliche Belange über ideologische Argumente siegen – wenn die Zivilbevölkerung ihnen nicht Einhalt gebietet.

Peter Strack

Auf der internationalen Bühne betont die bolivianische Regierung gerne eine antikapitalistische, antiimperialistische Grundhaltung, vor allem gegenüber den USA. Auf dem EU-CELAC-Gipfel im Juli (siehe Bericht auf S. 42) setzte Präsident Luis Arce seine Hoffnung auf eine multipolare Weltgesellschaft in Harmonie mit der Natur. Mit der EU gebe es Übereinstimmungen in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, die Geltung des Völkerrechts und die Herausforderungen durch den Klimawandel. Die Vorstellungen davon scheinen sich jedoch deutlich zu unterscheiden.

Das gilt zum Beispiel für den Krieg in der Ukraine. Die bolivianische Diplomatie enthält sich bei Russland-kritischen UNO-Resolutionen oder stimmt dagegen. Daran konnte auch eine mediale Offensive der EU-Botschaften in Bolivien nichts ändern. Internationale Institutionen versucht die bolivianische Regierung strategisch für sich zu nutzen. Dass die EU und die UNO im Nachwahlkonflikt von 2019 zu vermitteln versuchten, bezeichnet die aktuelle Regierung als Putschbeteiligung, ebenso wie die Finanzierung der von Evo Morales damals selbst beantragten Wahlprüfungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten OAS. Deren Bericht hatte systematische Formen der Manipulation der Ergebnisse konstatiert, was zu den Unruhen und schließlich dem Sturz von Morales geführt hatte. Die bolivianische Regierung nutzt die Vereinten Nationen gerne, etwa um das Recht auf Wasser als Menschenrecht zu erklären oder die Einstufung der Koka im internationalen Handel als Droge zurückzunehmen. Sie beruft sich auch gerne auf internationale Abkommen und Menschenrechtsinstrumente, so 2019, als sie versuchte, die verfassungswidrige erneute Kandidatur von Evo Morales mit Verweis auf die interamerikanische Konvention von San José als Menschenrecht zu deklarieren. Doch die gegenteilige Interpretation des interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes wurde mit dem Argument ignoriert, dass der Schiedsspruch dieses supranationalen Gerichtes zum Pakt von San José für Bolivien nicht relevant sei.

Damals wie heute geht es Bolivien jedoch vor allem um ein länderübergreifendes regionales Projekt. Bei dem gelten die Sympathien nach den jeweiligen Regierungswechseln den wirtschaftlich starken Staaten Kolumbien und Brasilien sowie den Peronist*innen in Argentinien. Daran ändern auch die schwierigen Preisverhandlungen um die Erdgasverkäufe an Brasilien und Argentinien nichts. Immerhin sind die Beziehungen zu den beiden großen und politisch wie wirtschaftlich deutlich mächtigeren Nachbarstaaten schon deshalb wichtig, weil die Überweisungen der rund eine Million dort lebenden Bolivianer*innen Devisen ins Land bringen. Und während es beim Schmuggel von Lebensmitteln und Industrieprodukten, die Boliviens eigene Wirtschaft schwächen, wenig Zusammenarbeit der jeweiligen Grenzbehörden gibt, hat der bolivianische Präsident Arce inzwischen öffentlich eingestanden, dass bei der Bekämpfung des Drogenhandels die noch von Evo Morales erklärte „Nationalisierung“ der Drogenbekämpfung gescheitert ist. Schmuggel und Drogenhandel erschweren auch die Beziehungen zu Peru und Chile. Letzteres muss ohnehin wegen des historischen Traumas des Pazifikkriegs im 19. Jahrhunderts als Objekt nationalistischer Rhetorik insbesondere zum jährlich in Bolivien mit Aufmärschen gefeierten „Tag des Meeres“ herhalten. Auch die anfängliche Begeisterung für die aktuelle chilenische Regierung ist deutlich abgekühlt, erstens, weil Gabriel Boric wenig Bereitschaft zeigt, den Wünschen des Binnennachbars auf einen „souveränen“ Korridor zum Meer entgegenzukommen, zweitens, weil er sich kritischer zu Menschenrechtsverletzungen in Cuba, Venezuela und Nicaragua äußert, auch wenn er die Ausladung dieser Staaten beim letzten Amerikagipfeltreffen durch die USA für einen Fehler hält. Es sind genau diese drei Länder, mit denen die Regierung der MAS den engen Schulterschluss sucht.

Venezuela hatte damals unter Hugo Chávez jahrelang Gesundheits- und Infrastrukturmaßnahmen in Bolivien finanziert und Stipendien vergeben, damit Bolivianer*innen in Cuba Medizin studieren können. Heute wiederum profitiert Venezuela davon, dass es einen großen Teil der Gehälter von Fachkräften abschöpfen kann, die in bolivianische Staatsbetriebe vor allem in der petrochemischen Industrie entsandt werden. Bei diesen politischen Freundschaften geht es aber um mehr als Dankbarkeit oder ideologische Übereinstimmungen. Das zeigt nicht nur die Präsenz venezolanischer Militärs und cubanischer Geheimdienstler in Bolivien, sondern auch der Fall Iran. Eine Verurteilung der Demonstrationen iranischer Frauen durch die dortige bolivianische Botschafterin, die von iranischen Staatsmedien kolportiert worden war, wurde von dieser und dem Außenministerium zwar dementiert. Nachdem Iran vor Jahren dem Präsidenten Morales schon einen TV-Sender geschenkt hatte, wurde im Juli dieses Jahres ein militärisches Kooperationsabkommen mit Bolivien abgeschlossen. Iran, so der bolivianische Verteidigungsminister Edmundo Novillo, sei ein „Modell für alle Staaten, die die Freiheit suchen“. Bei der Kooperation gehe es vor allem um Spezialkenntnisse und Geräte zur Sicherung der Grenzen sowie die Bekämpfung des Drogenhandels. Der bolivianische Journalist Carlos Valverde vermutet jedoch, dass es bei der Militärkooperation mit Iran weniger um Drogenbekämpfung als um Technologie geht, mit der das Internet und damit die Opposition kontrolliert werden könne. Denn im bolivianischen Drogenhandel ist auch die Hisbollah aktiv (siehe ila 453), um damit ihre Aktionen im Nahen Osten finanzieren.

Zumindest in Bolivien kann eine geopolitische Analyse nicht mehr auf die Rolle der illegalen Akteure verzichten. Nicht nur Iran, auch das von der Hisbollah betroffene Israel, die USA und die europäischen Staaten haben ein besonderes Auge auf den Drogenhandel. Immer wieder werden Fälle bekannt, bei denen leitende Mitarbeitende der bolivianischen Drogenbekämpfungsinstanzen für vor allem brasilianische und mexikanische Mafiagruppen gearbeitet haben. Die haben ihre Tentakeln bis tief in den bolivianischen Regierungsapparat ausgefahren, ihre Vertreter sitzen in den Behörden (siehe auch ila 453). Israel und die USA sind nur noch undercover unterwegs. Die Morales-Regierung hatte die Drogenbekämpfungsbehörden DEA und NAS 2009 ausgewiesen, kurz gab es unter der Übergangsregierung von Jeanine Añez wieder eine offizielle Zusammenarbeit. Die EU hat noch länger mit dem bolivianischen Staat in der Bekämpfung des Drogenhandels kooperiert. Um die eigenen Haushaltsmittel für die Drogenbekämpfung einzusparen, wurden nach Regierungsantritt von Luis Arce 2020 EU-Gelder auf eine rein bolivianische Institution umgeleitet. Inzwischen werden die bolivianischen Stellen an den Fahndungen von EUROPOL aber gar nicht mehr beteiligt.

Die Ineffizienz der bolivianischen Drogenkontrolle hat vermutlich weniger mit fehlender Ausstattung zu tun. Als die paraguayische Innenministerin verlauten ließ, dass beim Absturz eines Kleinflugzeugs bolivianisches Kokain gefunden worden sei, echauffierte sich der bolivianische Innenminister, das sei noch gar nicht bewiesen. Bald darauf wurde bekannt, dass das Fluggerät bereits einmal konfisziert, aber an die Besitzer zurückgegeben worden war. Und 2015 in Frankreich zur Drogenbekämpfung angeschaffte Flugradarsysteme werden immer noch nicht eingesetzt, weil, wie es aus offiziellen Stellen heißt, die Kooperationsvereinbarung zwischen Verteidigungs- und Innenministerium noch nicht unterzeichnet sei.

Es überrascht nicht, dass Drogengelder nicht nur an politische Parteien geflossen sind, sondern auch beim Ankauf von Schmuggelware oder inzwischen auch in die Goldförderung investiert werden. Bei der werden im wirtschaftlich kriselnden Bolivien derzeit die größten Gewinne gemacht, zum größeren Teil illegal oder gar in Naturschutzgebieten. Jahrelang hatte Bolivien die Aufforderungen der UNO und von Umweltorganisationen ignoriert, gegen den massiven Quecksilbereinsatz in der Goldgewinnung im Amazonaseinzugsgebiet vorzugehen. Im Juli fand dann tatsächlich eine erste Operation statt, doch nicht im Madidi, sondern im benachbarten Beni. Es wurde auch nur gegen einfache Arbeiter, nicht gegen die Drahtzieher und nicht gegen kolumbianische und chinesische Firmen vorgegangen, kritisierte der indigene Aktivist Alex Villca (siehe ila 456).

Während die USA für die bolivianische Regierung vor allem als Sündenbock für alle möglichen Probleme des Landes in der innenpolitischen Debatte dient oder um Umweltaktivist*innen als Handlanger des US-Imperialismus zu diskreditieren, sind es zumeist Staaten wie Russland und China, die Zugriff auf die Rohstoffe bekommen und auch die großen Geschäfte mit dem bolivianischen Staat machen können, etwa bei dem Bau eines kleinen Nuklearreaktors in El Alto durch die russische ROSATOM oder dem Bau von Überlandstraßen und anderer Infrastruktur wie der „Peking-Brücke“ in der Stadt Cochabamba. Als ein Whistleblower jüngst die Zahlung von Bestechungsgeldern durch einen chinesischen Konzern in einem Hotel in Sucre bei einer Auftragsvergabe für eine Überlandstraße bekannt machte, endete das für den Whistleblower zunächst mit einer Gegenanzeige wegen Erpressung. Nach seiner Flucht ins Ausland fand er in Miami unter ungeklärten Umständen den Tod. Die Staatsanwaltschaft ließ die Anklage wegen Bestechung gegen Mitarbeiter des chinesischen Konzerns und Staatsangestellte bald mit dem Argument fallen, bei der Geldübergabe an Ministeriumsmitarbeiter habe es sich um eine Anzahlung gehandelt, die inzwischen zurückerstattet worden sei. Bestechungsgelder zwischen fünf und 15 Prozent der Gesamtsumme für Einzelpersonen, die Partei oder deren Basisorganisationen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sind weit verbreitet.

Ein Vorteil für chinesische Anbieter ist auch die Verknüpfung der Auftragsvergabe mit staatlichen Krediten, die sogenannte Lieferbindung. Mit 1,2 Milliarden US-Dollar (Stand Juni 2021) ist China inzwischen der größte bilaterale Gläubiger Boliviens. Frankreich mit 357 Millionen und Deutschland mit 68 Millionen USD liegen weit dahinter.

Das heißt nicht, dass europäische Wirtschaftsinteressen in Bolivien nicht mehr zum Zuge kämen. Den Auftrag für das emblematische Seilbahnsystem von La Paz bekam die österreichische Firma Doppelmeyer, den für die Straßenbahn von Cochabamba die Schweizer Firma Molinari und Turbinen für Wasserkraftwerke wurden bei Siemens Energy bestellt. Doch beim Zugriff auf das Lithium scheiterten die Bemühungen des damaligen deutschen Botschafters, die schwäbische Firma ACI ins Spiel zu bringen, letztlich an Protesten der Bevölkerung von Potosí. Das Versprechen, auch in Bolivien selbst Batterien zu produzieren, war zu vage. Und Stadt- und Regionalregierungen sollten nur einen geringen Anteil der Abgaben bekommen. Bei der jüngsten Vereinbarung der bolivianischen Regierung zum Lithiumabbau mit einem chinesischen Konsortium wurde der Vertragstext gar nicht erst öffentlich gemacht.

Auch wenn die bolivianische Regierung den BRICS-Staaten Avancen machte, in deren Kreis aufgenommen zu werden, zeigt sie angesichts rückläufiger Erdgaseinnahmen und trotz ideologischer Differenzen seit 2021 auch wieder verstärktes Interesse an den EU-Staaten. Diese sollen vor allem Entwicklungsgelder bereitstellen, denn die Nachfrage der eigenen sozialen und politischen Basis nach Projektgeldern ist groß. Von Deutschland gibt es besonders Förderung im Wasser- und Energiesektor, diese versucht Bolivien möglichst bedingungsfrei zu gestalten. Ebenso fordert die bolivianische Regierung im Einklang mit Brasilien oder Argentinien, auf eine ökologische Konditionierung des Handels zu verzichten. Diese verletze die nationale Souveränität. Europäische Entwicklungs- und Umweltorganisationen fordern, die Einfuhr von Rohstoffen, für die Regenwald gerodet wurde, zu beschränken – ein Streitpunkt in den Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen, auch auf dem jüngsten EU-CELAC-Treffen. Schließlich hat Bolivien in seinem nationalen Entwicklungsplan beschlossen, Agrarflächen auszuweiten, wofür Regenwald gerodet werden soll. Das will so gar nicht dem von Präsident Arce in Brüssel gepflegten Image als Regierung der indigenen Bevölkerung mit einem antikapitalistischen Wirtschaftsmodell im Einklang mit der Natur und der proklamierten „Diplomatie der Völker für das Leben“ entsprechen.

Siehe auch Beitrag über China State in der Chiquitanía: https://blogs.taz.de/latinorama/kapitalismus-unter-roter-Flagge/