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Langjähriges Engagement

Partnerschaft zwischen einer deutschen und einer peruanischen Kirchengemeinde
Gert Eisenbürger

Im November 2009 nahm ich in Berlin an einem Symposium mit dem etwas sperrigen Namen „Die beiden Deutschland und Lateinamerika“ des Iberoamerikanischen Instituts teil. Neben einigen Vertreter*innen aus Nichtregierungsorganisationen und Solidaritätsgruppen waren die weitaus meisten Referent*innen Professoren (nur Männer) und wissenschaftliche Mitarbeiter*innen von Universitäten aus Deutschland und Österreich. Neben den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Bundesrepublik und der DDR sollte es auch um die zivilgesellschaftlichen Verbindungen nach Lateinamerika gehen. Dazu erklärte einer der anwesenden Professoren, die nichtstaatlichen Beziehungen mit Lateinamerika hätten in der Bundesrepublik begonnen, als seine Universität (welche, tut hier nichts zur Sache) in den 60er-Jahren einen Kooperationsvertrag mit einer Hochschule in Lateinamerika geschlossen hätte. Daraufhin meinte der Kollege Michael Huhn vom katholischen Hilfswerk Adveniat, das sei nicht ganz zutreffend. Als es zur ersten deutsch-lateinamerikanischen Universitätskooperation gekommen sei, habe es bereits eine dreistellige Zahl von Partnerschaften von Kirchengemeinden und anderen katholischen Gruppierungen mit Gemeinden in Lateinamerika gegeben. Die versammelte Professorenschaft war überrascht. Offensichtlich hatte sie diese vielfältigen und kontinuierlichen Beziehungen bis dahin überhaupt nicht wahrgenommen.

Diese Episode kam mir wieder in den Sinn, als ich vor einigen Wochen das Buch „Weltkirchlich Kirche sein – Ser Iglesia en la perspectiva de la Iglesia Universal“ erhielt. Der umfangreiche zweisprachige Band (deutsch/spanisch) erschien in diesem Jahr zum 30-jährigen Bestehen der Partnerschaft zwischen der katholischen Kirchengemeinde Oberried, einem Ort mit knapp 3000 Einwohner*innen im Südschwarzwald, und einer Kirchengemeinde der im Südwesten Perus gelegenen Küstenstadt Mollendo, wo rund 25 000 Menschen leben. Initiiert wurde diese Partnerschaft vom Eine-Welt-Kreis Oberried, der Gruppe, die sie auf deutscher Seite bis heute trägt. Ihr steht in Mollendo das Komitee „Juntos como Hermanos“ (Gemeinsam wie Geschwister) als zweite Trägerorganisation gegenüber.

Wichtigstes Projekt dieser Kooperation ist eine Schule und Kindertagesstätte in Mollendo, wo Kinder von alleinerziehenden Müttern und aus sozial schwachen Familien unterrichtet und ganztägig betreut werden. Dazu gehören auch regelmäßige Mahlzeiten, die für die meisten Kinder zuhause nicht immer gewährleistet wären. Einen Großteil der laufenden Kosten bringt die Kirchengemeinde Oberried auf, die vor allem der Eine-Welt-Kreis durch Kollekten, Verkaufsstände bei Veranstaltungen im Ort und regelmäßige Spender*innen zusammenträgt.

Das Buch ist zum einen eine Festschrift mit den für solche Veröffentlichungen üblichen Rückblicken, Chronologien und den unvermeidlichen Grußworten unterschiedlicher Amtsträger von den Bürgermeistern der beiden Orte bis zu Bischöfen aus Freiburg und Arequipa, den Bistümern, zu denen Oberried und Mollendo gehören. Darüber hinaus, und das unterscheidet es von anderen Jubiläumsschriften, geht es den Herausgeber*innen Monika und Norbert Huppertz um eine theologisch-politische Verortung und Reflexion des Partnerschaftsprojektes.

Dazu gibt es im ersten Teil drei längere Aufsätze von Josef Sayer (ehemaliger Hauptgeschäftsführer von Misereor, Aachen), Michael Ramminger (Institut für Theologie und Politik, Münster) und Franz Himmelreich (Pastoralreferent in Dreisamtal). Obwohl sich nur der Text von Ramminger explizit mit der Befreiungstheologie beschäftigt, lassen auch Sayer und Himmelreich erkennen, dass sie für ein befreiendes und sozial engagiertes Christentum eintreten, auch wenn sie die Bedeutung der kirchlichen Strukturen und Hierarchien für ein solidarisches christliches Engagement betonen. Dagegen zeigt Ramminger, dass es zwar diese Strukturen waren, in denen sich in den S60er- und 70er-Jahren in Lateinamerika Basisgemeinden und Befreiungstheologie entwickeln konnten, dass es aber ab den Achtzigerjahren die kirchliche Hierarchie, konkret die römische Kurie unter Federführung der von Josef Ratzinger geleiteten Glaubenskongregation, war, die durch Sanktionen und Berufsverbote gegen engagierte Priester und Ordensleute und, man kann hinzufügen, durch eine extrem konservative Auswahlpolitik bei der Neubesetzung von Bischofsämtern, die Befreiungstheologie immer weiter in die Defensive drängten.

Nach diesem eher theoretischen Teil geht es im zweiten Teil des Buches um die konkrete Ausgestaltung der Partnerschaft. Dabei kommen sehr unterschiedliche Personen aus Deutschland und Peru zu Wort. Dazu gehören die Mitglieder des Eine-Welt-Kreises in Oberried und des Komitees „Juntos como Hermanos“ in Mollendo, Mitarbeiter*innen der Kindertagesstätte, Schüler*innen, die diese besuchen, deutsche Frauen, die im Rahmen eines Freiwilligendienstes dort gearbeitet haben, Engagierte aus dem Schwarzwald, die die Aktivitäten des Eine-Welt-Kreises unterstützt oder begleitet haben, kirchliche Repräsentanten aus beiden Ländern, die die Partnerschaft mitgetragen oder gefördert haben. Es wird deutlich, dass es einerseits eine Vielzahl von Menschen gab, die in irgendeiner Weise für das Projekt aktiv waren, dass es aber, wie häufig bei ehrenamtlichen Initiativen, eine kleine Kerngruppe war, die das Ganze über Jahre mit sehr viel Engagement am Leben gehalten und auch in schwierigen Situationen nicht aufgegeben hat. Wie viele lang arbeitende Initiativen steht sie vor der Schwierigkeit, jüngere Leute für eine Mitarbeit zu gewinnen.

Fast alle, die in dem Band zu Wort kommen, betonen, wie wichtig und bereichernd diese Arbeit für sie war, wie sie über Kontinente hinweg Freundschaften geschlossen und was sie dabei gelernt hätten. Es liegt in der Natur einer Festschrift, dass Probleme kaum thematisiert oder nur am Rande erwähnt werden, wenn etwa ein in Peru tätiger deutscher Priester berichtet, dass die Partnerschaft in den letzten Jahren eine schwere Krise durchgemacht habe oder ein Mitglied des Eine-Welt-Kreises andeutet, dass es zu den leidvollen Erfahrungen der Arbeit gehöre, „wenn kirchliche Strukturen und Personen die Partnerschaft behindern…“. Deutlich wird, wie stark die meisten Aktiven von ihrem christlichen Glauben geprägt sind und daraus ihre Kraft ziehen, wobei sie ein weltoffenes und ökumenisches Christentum vertreten.

Der dritte von Viktor Lüpertz verfasste Teil des Buches trägt den Titel „Peru und Deutschland im Vergleich – Gesamtgesellschaftliche Aspekte“. Was zunächst etwas akademisch klingt, ist eine sehr lebendige Darstellung der Entwicklung Perus seit der Kolonialzeit und der deutsch-peruanischen Beziehungen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Auseinandersetzung mit dem extraktivistischen Wirtschaftsmodell und seinen ökologischen und sozialen Kosten. In Peru basiert es vor allem auf dem Export von mineralischen Rohstoffen und agroindustriell angebauten Nahrungsmitteln wie Spargel, Mangos, Avocados und anderen Produkten, die in hiesigen Supermärkten zu finden sind. Fast alle werden in der sehr trockenen Küstenregion angebaut und benötigen sehr viel Wasser, das teilweise aus den Andenregionen dorthin geleitet wird. Der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den Anden, die nach wie vor den überwältigenden Teil der in Peru konsumierten Lebensmittel produziert, fehlt bereits jetzt mancherorts Wasser – ein Problem, das sich mit dem Klimawandel in den nächsten Jahren rasant beschleunigen wird. Sowohl im Bergbau als auch in der agroindustriellen Landwirtschaft fordert Viktor Lüpertz rechtsverbindliche Umwelt- und Sozialstandards und Sanktionen, wenn diese nicht eingehalten werden. Gleichzeitig plädiert er für einen bewussteren Konsum.

Nicht nur in den Beiträgen von Lüpertz und Ramminger wird deutlich, dass die Überwindung von Armut und Abhängigkeiten in Peru und weltweit sowie die Bewahrung der Lebensgrundlagen aller Menschen tiefgreifender politischer Veränderungen bedürfen. Am anschaulichsten zeigt das Josef Sayer in einer Passage seines Textes, wo er auf die überdurchschnittlich hohe Zahl von Corona-Toten in Peru hinweist. Neben Defiziten im weitgehend privatisierten Gesundheitswesen Perus war dafür vor allem fehlender medizinischer Sauerstoff verantwortlich, weshalb viele Menschen mit einem schweren Covid-Verlauf nicht beatmet werden konnten. In dieser dramatischen Lage hätten sich der Freiburger Erzbischof Stefan Burger und der peruanischer Kardinal Pedro Barreto in einer konzertierten Aktion an die deutsche Hauptstelle und die peruanische Tochter des Linde-Konzerns, einem der wichtigsten Lieferanten von medizinischem Sauerstoff, gewandt: „Beide Initiativen stießen jedoch bei dem transnationalen Konzern auf taube Ohren. Er erhöhte sogar auf dem Rücken der Armen in dieser Pandemiesituation seine Gewinne.“ Soviel zur vielbeschworenen unternehmerischen Verantwortung und Freiwilligkeit sozialer Leistungen .

Ein Buch mit dem Titel „Weltkirchlich Kirche sein – Ser Iglesia en la perspectiva de la Iglesia Universal“ klingt für Menschen, die wenig Bezüge zu einer christlichen Praxis haben und kirchlichen Strukturen eher distanziert oder kritisch gegenüberstehen, sicherlich fremd. Bedenkt man jedoch, dass „weltkirchliches Engagement“ für Christ*innen das gleiche bedeutet wie „internationale Solidarität“ für die Arbeiter*innenbewegung oder „Internationalismus“ für linksradikale Gruppen, nämlich dass sich Menschen über Grenzen hinweg bei ihren Kämpfen für bessere Lebensbedingungen und ein sozialeres Miteinander solidarisch unterstützen, relativiert sich diese Fremdheit. In diesem Sinne ist es nicht nur wertvoll, dass Menschen in einem kleinen Ort im Schwarzwald seit Jahrzehnten mit Menschen in Peru zusammenarbeiten, sondern auch, dass sie die dabei gemachten Erfahrungen in einer Publikation zugänglich gemacht haben.