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Säure, Schärfe, Knollenfrüchte

Gastronomischer Boom in Surquillo, Lima

In Lima leben über elf Millionen Menschen. Die meisten sind Zugezogene, die ihre Dörfer wegen vielfältiger Probleme verlassen mussten. In den 80er-Jahren war der Grund die terroristische Gewalt, aber vor allem der Staat, der sich nicht um seine Bevölkerung kümmerte. Die Nachfolgeregierungen, korrupt oder unfähig, waren weit davon entfernt, die Migration zu nutzen, um eine plurikulturelle und solidarische Stadt zu erschaffen. Stattdessen haben sie alles unternommen, um die Stadt chaotischer, egoistischer und gewalttätiger zu machen. Das Ergebnis ist eine Stadt, die in viele Ghettos unterteilt ist, die immer unsicherer wird und den zweifelhaften Ruhm hat, die rücksichtslosesten Autofahrer*innen der Welt zu haben. Aber mitten in diesem Chaos ist Lima zur ersten kulinarischen Adresse ganz Amerikas geworden. Hier gibt es die besten Restaurants der Welt. Und Limas Einwohner*innen sind bei weitem diejenigen im gesamten Universum mit dem größten Stolz auf ihre Gastronomie.

Jerónimo Centurión

In Peru, vor allem in Lima, sprechen wir Peruaner*innen beim Essen übers Essen. Trotz der verschiedenen Wirtschaftskrisen geben die Bewohner*innen Limas am meisten Geld in Restaurants aus. Sie gehen ins Restaurant und während sie ein Gericht genießen, überlegen sie bereits, wo sie später oder am nächsten Tag am besten hingehen.

Peru verfügt über eine reichhaltige Biodiversität mit vielen verschiedenen ökologischen Lebensräumen, mit außergewöhnlichen und vorteilhaften Klimazonen, mit einer jahrtausendealten Kultur samt ihrer Traditionen. Die schlummerten jedoch bis vor drei oder vier Jahrzehnten im Geheimen. Die Bewohner*innen Limas haben erst in den letzten 30 Jahren damit begonnen, ihr Land zu entdecken, seine Früchte, Gemüsesorten, Knollenfrüchte und Samen.

„Peru ist das einzige Land, in dem Jungs eher davon träumen, Koch zu werden als Fußballstar“, sagt Manolo Bonilla. Der Journalist, Forscher und Restaurantkritiker erinnert sich an diesen Satz von Ferrán Adría, damals bester Küchenchef der Welt, in dem Dokumentarfilm „Perú sabe“ („Peru schmeckt“, 2012). Darin zeigt Gastón Acurio, wichtigster Förderer der peruanischen Gastronomie, dem Koch von der iberischen Halbinsel, wie der Stolz auf unsere Küche die peruanische Gesellschaft zum Besseren verändert. Wie eine Identität geschaffen wird, die auf unserer Biodiversität, unserem Klima und unseren Traditionen beruht. Der Film zeigt das großartige Projekt von Acurio, der mit Hilfe privater Unternehmen in einem Außenbezirk von Lima eine Kochschule gründete, um die Talente von Jugendlichen zu fördern, die nur wenig Ressourcen haben.

Elf Jahre später gilt einer der Peruaner, der zusammen mit Acurio im legendären Madrider „Astrid und Gastón“ gearbeitet hatte, als einer der besten Köche weltweit, und sein Restaurant „Central“ laut der angesehen Zeitschrift „50 best“ als bestes Restaurant des Planeten. Dem Portal „Taste Atlas“ zufolge ist Lima die drittbeste Stadt der Welt, um essen zu gehen, nach Florenz und Rom, aber noch vor Paris, New York oder Tokio. Und auf dem Kontinent ist Lima konkurrenzlos die gastronomische Hauptstadt Amerikas.

Lima ist auf 2672 Quadratkilometern in 43 Bezirke unterteilt. Die meisten Restaurants befinden sich jedoch im so genannten modernen Lima: etwa ein Dutzend Stadtteile, in denen Limas Mittel- und Oberschicht lebt, ungefähr eine Million Menschen.

Unter diesen modernen Stadtteilen war Surquilllo lange der unbeliebteste Bezirk, das hässliche Entlein. Aber genau dort findet gerade der Boom der peruanischen Gastronomie statt.

Alles startete mit der Umwandlung des Marktes Nr. 1 in Surquillo, der durch Gastón Acurios Fernsehsendungen an Ansehen gewinnt, aber auch vonseiten der lokalen und natio­nalen Politik aufgewertet wird, weil er in den gastronomischen Empfehlungen für Tourist*innen auftaucht.

In diesem lichtundurchlässigen Stadtteil wurde ein farbenfroher Markt mit Düften aus ganz Peru zum Anziehungspunkt für die Anwohner*innen mit dem meisten Geld. Kurz darauf eröffneten rund um den Markt neue Geschäfte: Eisenwarenhandel und Geschäfte, die Töpfe, Küchenutensilien und anderes verkaufen. Aber kein gastronomisches Angebot stach besonders hervor, bis Héctor Solís, Besitzer von „Fiesta“, einem der exklusivsten Restaurants mit kreolischer Küche, einen Wink des Schicksals bekam: „Ich sah dieses wunderschöne Haus in Surquillo, das mich von Anfang an verzauberte. Es war noch vermietet. Ich wartete ab. Nun sind wir seit zehn Jahren hier.“

Zur Eröffnung lud er seine Mutter ein, die ihn nicht sonderlich ermutigte: „Mein Sohn, wer soll hier hinkommen. Das ist ein gefährlicher Stadtteil.“ Die Mutter hatte Recht. Bevor man nach Surquillo geht, überlegt man sich das zwei Mal. Fehlende Straßenbeleuchtung, holprige Straßen, viele Verkaufsstände. Ein etwas desolates Chaos. Doch Solís folgte seinem Instinkt: „Ich spürte, dass hier etwas Interessantes im Gange war.“ Er wollte, dass sein neues Projekt in genau solch einem Viertel entsteht. „Für ein Restaurant wie die ‚Picantería‘, wo wir pikante Speisen zubereiten, wollte ich auch ein pikantes Viertel. Mit Nachbarn, die die Straßen absperren, um Tag und Nacht Fußball zu spielen, die ihre Feste auf der Straße feiern, ihre Stühle rausholen und Bier auf der Straße trinken.“

Solís ebenete den Weg. Danach folgte eine Vielzahl von Lokalen, etwa das von Pepe Lucho, Besitzer von „Honoratos Barra Cebichera“, einem Restaurant, wo das Essen von der Küste und dem Urwald auf originelle Art und Weise miteinander verschmelzen.

„Surquillo ist zum gastronomischen Zentrum Limas geworden“, sagt Solís. Eine strategisch günstige Lage in der Nähe der wohlhabenden Viertel und gleichzeitig relativ günstige Mieten sind seine Vorteile. Diese ökonomischen Faktoren sind zentral für den gastronomischen Boom gewesen. Für Toshi Matsufuji, Street Food-Star und Besitzer von „Al toke pez“, sind die Behörden im Bezirk etwas nachlässiger. „Hier bekommt man leichter eine Lizenz, die Kontrolleure machen uns nicht so fertig wie in anderen Stadtteilen.“ Die Auflagen in diesem Bezirk sind also etwas leichter zu erfüllen. So ist Surquilllo zum Epizentrum von Dark Kitchens1 und gastronomischen Laboren geworden.

„Surquillo ist von überallher schnell zu erreichen, mit einer Entfernung von kaum 15 Minuten von Miraflores, Barranco, San Isidro oder Surco“, sagt auch Alessandra Sala, die im Februar 2020 „D’Sala Caffè“ eröffnet hat, das einzige Bistro in Surquillo, das gleichzeitig Rösterei und Bäckerei ist. Ihr gehört eine ganze Kette in den gehobenen Stadtvierteln. Ihr Stolz aber ist das Restaurant in Surquillo, ein „strategischer Ort“, wie sie sagt, da sie von dort überallhin ihre frischen Produkte, von Gebäck über Brot bis zu Nachtischen, ausliefern kann.

Alejandra lässt mit ihrem Café-Bistro Kindheitserinnerungen aufleben. Ihre Kaffeespezialitäten und ihre Nachtische sind Verkaufsschlager. Das Publikum schätzt den lokalen Bezug. Bei ihrem Kaffee „Mendoza“ etwa arbeitet sie mit 30 Kaffeeanbauer*innen aus der Region Rodríguez de Mendoza im Bundesstaat Amazonas, wo Sierra und Urwald zusammentreffen. Bei ihren Desserts kommt Klassisches mit kreativen Erfindungen zusammen.

Dutzende von neuen Restaurants sind in Surquillo entstanden, die Entwicklung ist langsam, aber stetig. „Cumpa“, die kreolische Taverne, ist ein besonderes Phänomen. Man bekommt hier kaum einen Tisch. Die Reservierungen unterliegen strengen Bedingungen und das Publikum wartet bis zu zwei Stunden, um die Köstlichkeiten dieses neuen Restaurants zu genießen. „Am Anfang fotografierte ich viel und klatschte angesichts der vielen Gäste. Mittlerweile finde ich die ellenlangen Schlangen nicht mehr so schön. Die Kunden geben sich die Klinke in die Hand und es gibt kaum Platz“, sagt der „Cumpa“-Chef. So wurde „Cumpita“ eröffnet, ein Lokal mit kreolischen Tapas, 30 Meter neben dem Hauptrestaurant. Hier kann die Kundschaft warten, ohne ungeduldig zu werden.

Die kleinen, einstöckigen Häuser in Surquillo sind im Kolonialstil erbaut, hier gibt es unzählige kleine Lokale und Märkte. Die Leute kennen sich untereinander. Diese spezielle Zone in Surquillo ist die einzige, wo es noch keine großen Supermärkte oder die üblichen Ableger der großen Ketten gibt, die den Rest der Hauptstadt übernommen haben. Ein Restaurantbesitzer schwärmt: „Manchmal holen die Nachbarn um fünf Uhr nachmittags ihre Stühle raus, bauen einen Grill auf und schaffen 1,1-Literflaschen Bier heran. In den Supermärkten werden die gar nicht mehr verkauft. Das ist ein echtes Feeling, das immer mehr Leute anzieht.“

Rosa Jiménez ist 72 Jahre alt und wohnt in der Straße Leoncio Prado, neben dem Restaurant „Cumpa“. Sie freut sich über die Restaurants, weil sie dem Stadtteil neuen Glanz verliehen haben: „Jetzt gibt es mehr Bewegung hier, mehr Leute und auch mehr Sicherheit. Die ganze Zone ist sicherer geworden.“ Eduardo Silva ist der Sicherheitsbeauftragte von „La Picantería“. Er hat eine spezielle Methode, um die Kundschaft zu schützen: Er beobachtet einfach nur ruhig die Vorbeilaufenden. Wenn ihm etwas auffällt, warnt er die Kundschaft. „Man muss immer auf der Hut sein, aber hier gibt’s nicht so viele Leute, die klauen. Sie wissen, dass wir aufmerksam sind, dass es Sicherheitspersonal gibt. Sie wollen es sich mit dem Stadtteil nicht verscherzen.“

„Seit zehn Jahren sind wir nun hier und ich bin seitdem kein einziges Mal bestohlen worden“, sagt Solís. Allerdings muss auch er zugeben, dass die Situation jenseits der Restaurantzone anders ist. „Die Regierung trägt dafür die Verantwortung. Ich würde ihr vorschlagen, statt immer mehr Polizei hierherzukarren oder sie immer mehr zu bewaffnen, sollte es mehr Möglichkeiten für die Leute geben. Fußballfelder, Kochschulen. Wir sind ein gastronomisches Land, wir versuchen, mehr Leute in diesen Prozess zu integrieren. Da sollte sich die Regierung mehr engagieren und das Problem bei der Wurzel packen“, seufzt Solís.

Peru dürfte eines der wenigen Länder auf der Welt sein, wo Köche als politische Ratgeber gelten. Gastón Acurio ist in den letzten Jahrzehnten unzählige Male als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen worden. Was er allerdings jedes Mal ausgeschlagen hat, angesichts unserer politischen Situation zuletzt immer entschiedener. Aber eine Sache sind Wahlen, eine andere sind politische Veranstaltungen. So sind die Köche aus Surquillo zu den wichtigsten Fürsprechern der öffentlichen Sicherheit geworden. „Ich glaube, dass unsere Küche zum nationalen Vorbild geworden ist, der Fußball ist es nicht mehr. Wenn du heute zehn Peruaner*innen fragst, worauf sie am meisten stolz sind, dann werden sie dir sagen: unsere Küche, das Ceviche, der Lomo Saltado. Aber hilft uns der Staat dabei? Nein, er ist nicht auf der Höhe der Zeit, die Bürokratie engt uns ein.“

Imbissbesitzer Toshi zufolge hat der ehemalige Bürgermeister versucht, das gastronomische Wachstum im Bezirk in bestimmte Bahnen zu lenken. „Er wollte daraus eine Marke machen: ‚Surquillo, barrio del sabor‘ (Surquillo, Viertel des Geschmacks). Damit die Kundschaft das Problem der kriminellen Banden und der Unsicherheit vergisst.“ Aber, wie so häufig in der peruanischen Politik, fehlte es auch dieser Initiative an Planung und Kontinuität.

Für die Bevölkerung Surquillos besteht kein Zweifel daran, dass die neuen Restaurants zwar zur Sicherheit vor Ort beitragen, das aber nicht ausreicht. Auch wenn sie noch so guten Willens sind, können Köche weder Polizei noch Staat ersetzen.

Als Gentrifizierung wird der städtebauliche Prozess bezeichnet, mit dem Investoren ärmere Bewohner*innen aus einem Stadtteil vertreiben. Dies geschieht auch in Lima, etwa in Callao. Trägt das gastronomische Wachstum in Surquillo zur Gentrifizierung bei? Toshi meint: „Die Mieten sind gestiegen, die Kosten für die Wohnungen ebenso. Es gibt also auch hier Gentrifizierung, was aber auch für mehr Sicherheit und Sauberkeit sorgt.“

Rund um die Restaurants herum gibt es tatsächlich kleine Bereiche der Sicherheit und Sauberkeit. Und ja, die Preise für die Immobilien in der Nähe von „Cumpa“ oder „La Picantería“ sind gestiegen.

Ich habe mit mehreren Anwohner*innen gesprochen, die in der Nähe der wichtigsten Restaurants in Surquillo wohnen. Die meisten befürworten diese Lokale, aber niemand ist schon mal in „La Picantería“ oder im „Cumpa“ essen gegangen. „Nein, Señor, das sind Restaurants für Leute von anderswo, die sind nicht für unsereins. Das ist aber nicht schlimm. Wir kochen gut und es gibt ja auch andere Restaurants“, sagt Anwohner Eduardo.

Wenn man an den Lokalen beim Markt Nr. 1 vorbeischlendert, sieht man Mittagessen, die 20, 15 oder 12 Soles kosten, die günstigsten 2. Umgerechnet sind das zwischen 5 Euro und 50 Cent. Ein Gericht im „Cumpa“ kostet durchschnittlich zwischen 10 und 15 Euro, in „La Picantería“ zwischen 12 und 20.

Ich spreche mit Renzo darüber, dass die Anwohner*innen sie gerne hier haben, aber solche Preise nicht bezahlen können. Ich schlage ihm eine Idee vor: Alle zwei Monate soll es einen Tag geben, an dem nur die Anwohner*innen dort essen kommen, „Essen vom Stadtteil für den Stadtteil“. Renzo ist begeistert: „So hatte ich das noch gar nicht betrachtet, aber wir Eigentümer werden uns demnächst treffen und ich werde ihnen diesen Vorschlag unterbreiten.“ Die Idee hat ihm gut gefallen: „Ein Mal im Monat richten wir den Tag des Nachbarn aus, alle Gerichte kosten dann die Hälfte, Getränke gibt’s umsonst. Sie müssen an diesem Wachstum teilhaben. Das wäre wirklich eine schöne Sache.“ Auch Pionier Héctor Solís steht hinter dem „Tag des Nachbarn“: „Ich hatte die Idee für den ‚traditionellen Montag‘, an dem es nur ein typisches Gericht gibt. Aber deine Idee hat mich gepackt, so können wir uns bei den Leuten und dem Stadtteil bedanken. Das ist die beste Form, um dem Viertel etwas zurückzugeben für die ganze Zuneigung, das Vertrauen und den Rückhalt.“

Der Autor ist Journalist, https://www.centurionproducciones.com/

Übersetzung: Britt Weyde