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30 Jahre nach der Erklärung von Itapecerica da Serra

Wie steht es um reproduktive Gerechtigkeit für Schwarze Frauen in Brasilien?

Die Geburtsstunde der reproduktiven Gerechtigkeit wird normalerweise mit 1994 angegeben. Aber schon ein Jahr zuvor gab die Bewegung Schwarzer Frauen in Brasilien eine Erklärung heraus, die dem Konzept vorgreift. Zum ersten Mal forderten sie darin ausdrücklich „reproduktive Rechte“. Damit ist viel mehr gemeint als der Zugang zu medizinischer Versorgung.

Emanuelle Freitag Góes

Wenn wir in der brasilianischen Schwarzen Frauenbewegung von reproduktiver Gerechtigkeit sprechen, hat dieses Konzept zwei historische Entstehungspunkte: zum einen die Erklärung von Itapecerica da Serra (1993). Erstmals forderte die brasilianische Schwarze Frauenbewegung darin ausdrücklich “reproduktive Rechte”. Zum anderen beruht es auf dem Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit, das von der afroamerikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Frauenbewegung nach der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo 1994 entwickelt wurde.

Zwei Wurzeln reproduktiver Gerechtigkeit: Brasilien 1993 und USA 1994

Die US-amerikanische Bewegung Schwarzer, lateinamerikanischer, indigener und asiatischer Frauen hat eine Bewegung ins Leben gerufen, die die Einzigartigkeit von Frauen ebenso anerkennt wie die Kontexte, in denen sie leben. Dazu zählt die Tatsache, dass sie von Rassismus, Klassismus, Patriarchat und der damit verbundenen Unterdrückung betroffen sind. Reproduktive Gerechtigkeit ist ein politisches Konzept, das eine ganze Reihe von Ideen, Bestrebungen und Visionen rund um soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte umfasst. Frauen aus rassistisch unterdrückten Gruppen (Schwarze, Indigene, Latinas, Asiatinnen), die im Globalen Süden, an der Peripherie der Welt, leben, forder(te)n, dass reproduktive Rechte nicht mehr von den Frauen der privilegierten (weißen) Minderheit im Globalen Norden definiert werden. Sie können ihre reproduktiven Erfahrungen nicht aus einer einzigen Perspektive auf alle anderen übertragen.

In Brasilien stellte die Schwarze Frauenbewegung in der Erklärung von Itapecerica bereits 1993 fest, dass die reproduktive Freiheit für Gruppen, die rassistisch diskriminiert werden, von entscheidender Bedeutung ist. Sie forderte, dass der brasilianische Staat ihre reproduktiven Rechte schützen müsse. Damit Schwarze Frauen leben – oder überleben – können, müsse der Staat die notwendigen Bedingungen schaffen, damit Schwarze Frauen ihre Sexualität und ihre reproduktiven Rechte selbstbestimmt wahrnehmen können. Sie sollen selbst entscheiden und kontrollieren, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Dazu muss der Staat alle benötigten Informationen und Beratungen zur Verfügung stellen und den Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten für Schwangerschaft, Geburt und Abtreibung garantieren.

Schwarze Frauen und Mädchen überproportional von reproduktiver Gewalt betroffen

Beide Bewegungen entstanden aus den Erfahrungen von Frauen, die rassistisch unterdrückten Gruppen angehören. Es zeigt transnationale Überschneidungen, die Barrieren überwinden. Es geht um Körper, die im patriarchalen Rassismus gefangen sind, der jede reproduktive Aktivität erstickt. Wenn man die Erfahrungen der rassifizierten1 Frauen- und feministischen Bewegungen im Globalen Süden wissenschaftlich kontextualisiert, zeigt sich, wie reproduktive Hierarchien in das Leben von Frauen und ihre Communities eingreifen. So funktioniert die Biopolitik der Körper.

Ein Kind bekommen oder abtreiben: Beides ist oft eine Frage von Leben und Tod, keine Frage der Menschlichkeit. In Brasilien ist die Müttersterblichkeit hoch, am höchsten bei Schwarzen Frauen. Sie sterben bei der Geburt, auf der Suche nach einem Gesundheitszentrum, das sie aufnimmt, und in der Entbindungsklinik. Sie sterben bei der Abtreibung, die die vierthäufigste Todesursache bei Müttern ist2, vor allem weil der Schwangerschaftsabbruch illegal ist und die Frauen ihn unter unsicheren und prekären Bedingungen vornehmen lassen. Die Müttersterblichkeit ist der deutlichste Ausdruck von Rassismus. Verschiedene Studien zeigen, dass das Risiko, während der Schwangerschaft oder bei der Geburt zu sterben, bei Schwarzen Frauen signifikant höher ist. Sie sind es auch, die überwiegend von Gewalt während der Geburt betroffen sind, die in Wirklichkeit ein geburtshilflicher Rassismus ist, denn sie werden dabei inhumanen Verfahren und Experimenten ausgesetzt.

Von Jugendschwangerschaft und -mutterschaft sind ebenfalls Schwarze Mädchen extrem betroffen, und sie leiden auch am meisten unter sexueller Gewalt, die oft zu Schwangerschaften führt. Eigentlich können diese auf legalem Wege abgebrochen werden, da in diesem Fall ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist, aber sie haben in der Regel keine Möglichkeit, dieses Recht in Anspruch zu nehmen. Die Körper Schwarzer Mädchen und Jugendlicher werden von klein auf hypersexualisiert, und die intersektionalen Unterdrückungen von Geschlecht, Rasse, Klasse und Alter bedeuten für sie eine endlose Kette von Gewalt und Übergriffen.

Staatlich legitimierte reproduktive Ungerechtigkeit

Zwangssterilisation als Mittel der Bevölkerungs- und Körperkontrolle gibt es in Brasilien nach wie vor. Frauen, die im Gefängnis sitzen oder die auf der Straße leben, sind die Hauptopfer der unfreiwilligen Sterilisation. Es handelt sich um Frauen, über deren Körper und Leben in der Regel gerichtlich entschieden wird. Ihnen werden ihre reproduktiven Rechte entzogen, weil sie angeblich nicht in der Lage seien, eine Entscheidung zu treffen. Die Gewalt, die diese Frauen erleiden, ist eine staatlich legitimierte reproduktive Ungerechtigkeit.

Auch nach der Geburt eines Kindes sind die reproduktiven Rechte Schwarzer Frauen durch die Gewalt des Staates bedroht. Junge Schwarze Männer werden immer früher ermordet oder inhaftiert, und auch das ist eine Frage der reproduktiven Gerechtigkeit: Sie haben ein Recht, Kinder zu haben und sie aufwachsen zu sehen und zu begleiten. Genauso ist Mutterschaft ein Recht, das alle Frauen frei wählen können sollten.

Um reproduktive Rechte zu gewährleisten, reicht es nicht, Zugang zu reproduktiven Gesundheitsdiensten zu haben. Es setzt auch weitergehende Rechte wie Arbeitsmöglichkeiten, sanitäre Grundversorgung, Bildung, Wohnraum und Bleiberecht voraus. Wenn reproduktive Rechte in vollem Umfang verwirklicht werden sollen, muss die Auseinandersetzung mit dem patriarchalen Rassismus ein Schwerpunktthema der Kämpfe und Forderungen der feministischen, der Frauen- und der Schwarzen Bewegung sein. Zudem müssen sie ein Grundsatz der öffentlichen Politik werden.

Bei der reproduktiven Gerechtigkeit geht es darum, wie sich soziale, strukturelle und situative Phänomene auf die Lebensbedingungen, den sexuellen und reproduktiven Lebensweg, die Entscheidungsfindung, die Autonomie und die Selbstbestimmung auswirken. Wie die Vereinigung Asian Communities for Reproductive Justice sagt: „Reproduktive Gerechtigkeit ist wichtig, weil sie die Wahrheit über unsere Körper, unser Leben, unsere Familien und unsere Welt sagt.“

Die Bewegung der Schwarzen Frauen fordert, anknüpfend an die Erklärung von Itapecerica da Serra, das volle Recht auf Leben und Glück nicht nur als Individuen, sondern als Schicksalsgefährtinnen. Wir stehen hier zusammen in unseren Forderungen und Rechten, und wir wissen, dass wir, um all dies zu erreichen, Gerechtigkeit brauchen: soziale, antirassistische und reproduktive Gerechtigkeit. Solange wir nicht alle frei sind, wird niemand von uns in der Lage sein, sexuelle und reproduktive Autonomie zu leben. Denn wir cis und trans Frauen und Menschen, die gebären, sind kollektive „Körper“.

  • 1. Rassifiziert, von portugiesisch racializada: wenn Menschen aufgrund bestimmter Merkmale einer anderen Gruppe zugeordnet und damit abgewertet werden. Das können zum Beispiel körperliche Merkmale (Hautfarbe, Körpergröße), soziologische (Kleidung, Bräuche) oder geografische (Herkunft, Wohnort) sein.
  • 2. Müttersterblichkeit: laut WHO der Tod einer Frau während der Schwangerschaft oder bis 42 Tage nach Schwangerschaftsende, unabhängig von der Dauer der Schwangerschaft und den Maßnahmen, die in Bezug auf sie getroffen wurden.

Emanuelle F. Góes ist Spezialistin für das öffentliche Gesundheits­wesen und arbeitet bei der Stiftung Oswaldo Cruz in Salvador, Bahia. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über Rassismus und Abtreibung. • Übersetzung: Laura Held