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Selbstbestimmte Frauen, gesellschaftliche Zustände und ein totes Nilpferd

Die lateinamerikanischen Filme auf der Berlinale 2024

Es war wieder ein Feuerwerk der audiovisuellen Eindrücke, Perspektiven und Geschichten! 24 lateinamerikanische Produktionen zeigte die Berlinale auf ihren Leinwänden, von denen zehn bei den Preisverleihungen von Jurys und Publikum ausgezeichnet wurden. Die Filme kamen aus den großen Filmländern, aber auch aus Nationen mit einer kleinen Filmindustrie, die selten auf internationalen Filmfestivals vertreten sind und mit ihrer Originalität überraschten.

Verena Schmöller

Einer der Hauptpreise der Internationalen Jury des Wettbewerbs 2024 in Berlin ging an einen Newcomer, den dominikanischen Regisseur Nelson Carlos De Los Santos. Er wurde für seinen eigenwilligen Film „Pepe“ (Dominikanische Republik/Namibia/Deutschland/Frankreich 2024) mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet. Selten hat man einen solchen Film auf der großen Leinwand gesehen, in der ein bereits totes Nilpferd aus seinem Leben berichtet. Zwischen Fiktion und Essayfilm arrangiert De Los Santos seine Bilder: dokumentarische Aufnahmen, Fernsehformate und Spielfilmsequenzen, die allesamt überraschen, faszinieren und wieder irritieren. Die Geschichte nimmt ihren Anfang in Südwestafrika am Okavango, der natürlichen Heimat der Flusspferde, die über den Atlantik nach Kolumbien gebracht werden, auf die Ranch von Drogenbaron Pablo Escobar. Sie vermehren sich und stören die dortige Natur, bis im neuen Jahrtausend Jäger eines der Tiere erschießen, den titelgebenden und aus dem Off in dumpfer Stimme erzählenden Pepe. Es ist ein Film über Rassismus, über den Status Quo in Kolumbien, aber auch über die Kunst des Filmemachens und des mutigen Kreativseins.

Auch der andere Wettbewerbsbeitrag aus Lateinamerika, „La cocina“ (Mexiko/USA 2024) von Alonso Ruizpalacios, überraschte aufgrund seiner opulenten Machart, ging bei der Preisverleihung aber leer aus. Der mexikanische Regisseur ist ein Altbekannter bei der Berlinale, schon „Güeros“ (2014), „Museo“ (2018) und „Una película de policías“ (2021) hatte er dort vorgestellt. Mit seinem jüngsten Film, der Adaption eines britischen Theaterstücks von 1957, blickt er in das Innere eines Schnellrestaurants in New York, in dem kaum ein US-Amerikaner arbeitet, dafür viele Mexikaner, aber auch Menschen aus anderen Kulturräumen. Der Ton ist ein harter, die Arbeit schwer und schnell getaktet, der „American Dream“ nur eine Illusion. Im Fokus steht Koch Pedro (Raúl Briones Carmona), der die Kellnerin Julia (Rooney Mara), eine US-Amerikanerin, liebt, verehrt, umwirbt. Als sie von ihm schwanger wird, will sie trotzdem abtreiben. „La cocina“ ist bild- und soundgewaltig, mit symbolträchtigen Schwarzweißbildern und ungewöhnlichen Bildausschnitten, die die Figur an den Rand stellen. Das sind ästhetische Mechanismen, die ans Kino aus früheren Zeiten erinnern. Vor allem aber vermitteln sie ein Empfinden: das Gefühl, einzuwandern in das Land der Träume, die Hoffnung auf neue Chancen und ein besseres Leben – verbunden mit der ganzen Unsicherheit, der Wucht des Neuen und Unbekannten, das auf die Immigrierenden einströmt, sie mitnimmt, treiben lässt, ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht.

 

Viele Koproduktionen

Insgesamt 24 Filme aus den lateinamerikanischen Ländern, darunter sieben Kurzfilme, feierten ihre Premiere im Februar bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin. Die meisten Langfilme waren Koproduktionen, also Filme, an denen mehrere Länder beteiligt sind. Das zeigt, dass die Filmindustrien des Kontinents mittlerweile stärker miteinander vernetzt sind und die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern wie auch mit Produktionsfirmen in den USA, in Europa und insbesondere Spanien immer bedeutender wird. Mexiko und Argentinien waren an jeweils vier, Brasilien und Chile an drei Produktionen beteiligt, Kolumbien und Peru konnten jeweils zwei Filme vorstellen. Darüber hinaus wurden auch Werke aus sehr kleinen Filmnationen vorgestellt, die eher selten zu sehen sind, aus der Dominikanischen Republik, Puerto Rico und Costa Rica.

Die Filme präsentieren politische und gesellschaftliche Realitäten, wie etwa die Zustände im brodelnden Chile in „Oasis“ (Chile 2024) von Tamara Uribe und Felipe Morgado oder die Situation der Indigenen in „Yo vi tres luces negras“ (Kolumbien/Mexiko/Frankreich/Deutschland 2024) von Santiago Lozano Álvarez, in dem ein älterer weiser Mann, José De Los Santos (Jesús María Mina), seine letzte Reise antritt und nach einem Ort zum Sterben sucht. Dabei wandelt er auf den Spuren seines Vaters und seines ermordeten Sohnes und begegnet den bewaffneten Gruppen, die das Gebiet um Noanamá kontrollieren. Während die Bedrohung und die Gewalt stets zu spüren sind, erzählt der Film in dokumentarischen Bildern auch vom Glauben, von der Tradition und den Ritualen der indigenen Bevölkerung, von deren Verschwinden und der kulturellen Aggression der Mehrheitsgesellschaft.

 

Missverständnisse und Migrationen in der Sektion Encounters

Neben „Pepe“ zeigte die Berlinale auch andere essayistische Filme aus Lateinamerika, so zum Beispiel in der Sektion Forum Expanded, die bekannt ist für ihre künstlerischen und nicht immer leicht zugänglichen Werke. In diesem Jahr waren dies „barrunto“ (Großbritannien/Puerto Rico 2024) von Emilia Beatriz und „Nanacatepec“ (Mexiko/Spanien 2024) von Elena Pardo und Azucena Losana. In der Sektion Encounters wurde der Film „Tú me abrasas“ (Argentinien/Spanien 2024) von Matías Piñeiro vorgestellt, der ein Kapitel aus Cesare Paveses „Dialoghi con Leucò“ von 1947 adaptiert und ganz unterschiedliche Szenen und Ansichten miteinander kombiniert. Ebenso fand „Dormir de olhos abertos“ (Brasilien/Taiwan/Argentinien/Deutschland 2024) von Nele Wohlatz Eingang in die relativ neue Sektion des Festivals. Diese Komödie voller Missverständnisse um eine Taiwanesin in Brasilien wurde mit dem Filmkritiker*innen-Preis ausgezeichnet. „Cidade; Campo“ (Brasilien/Deutschland/Frankreich 2024) von Juliana Rojas, eine wunderbare Erzählung über die entgegengesetzte Migrationsbewegung von Frauen, die das Land für die Stadt verlassen oder umgekehrt auf dem Land einen Neustart versuchen, erhielt den Preis der Encounters-Jury für die beste Regie.

 

Frauen im Fokus

Wie „Cidade; Campo“ warfen viele der gezeigten Filme ungewöhnliche weibliche Perspektiven auf die Leinwand, die mit ihrer Kreativität und Innovation überraschten, zum Nachdenken anregten und auch für Diskussionen sorgten, darunter „La piel en primavera“ (Kolumbien/Chile 2024) von Yennifer Uribe Alzate, der in der Sektion Internationales Forum präsentiert wurde. Der Debütfilm erzählt von einer Frau und ihrem Neuanfang in der Mitte ihres Lebens. Auf ihrem Arbeitsweg in einem Bus der Linie 243 entdeckt Sandra (Alba Liliana Agudelo Posada) ihre Weiblichkeit wieder, flirtet mit dem Busfahrer, beginnt eine Liebelei, findet zurück zur Sexualität. Das alles erzählt der Film in langen Einstellungen, einem ruhigen Tempo, sodass man sich eindenken und einfinden kann in diese Figur, die einfach nur ein gutes Leben führen will.

Auf großartige Weise stellt „Memorias de un cuerpo que arde“ (Costa Rica/Spanien 2024) von Antonella Sudasassi Furniss das Wesen der Frau in seinen Mittelpunkt. Ähnlich wie in „Mutter“ (Deutschland 2022) von Carolin Schmitz erzählen drei Frauenstimmen aus dem Off aus ihrem Leben, vom Heranwachsen, den ersten Sehnsüchten, der ersten Liebe, dem Heiraten und Kinderkriegen, dem Alltag als Mutter, Haus- und Ehefrau, dem Alt- und Älterwerden im Körper einer Frau. Im Bild ist eine Frau (Sol Carballo) zu sehen, die all das verkörpert und nachspielt, in Erinnerungen kramt und sich erinnert. Dann sehen wir eine jüngere Frau, ihr Strahlen im Gesicht, die glückliche Braut, die schmerzhafte Geburt, die Erschöpfung der jungen Mutter. Es könnte alles ein Leben sein, durch die unterschiedlichen Stimmen aber wird deutlich, dass es das Leben vieler ist. Dabei wirft der Film ganz universelle Fragen auf: Was bedeutet es, eine Frau zu sein, Sehnsüchte zu haben, Wünsche und Bedürfnisse? Wie verändern sich diese über die Jahre? Was passiert, wenn der weibliche Körper altert? Antworten gibt der Film nicht, aber viele Anknüpfungspunkte für jede Frau im Publikum, das den Film mit dem Panorama-Publikumspreis auszeichnete.

Auch im Zentrum von „Betânia“ (Brasilien 2024) von Marcelo Botta oder „Reas“ (Argentinien/Deutschland/Schweiz 2024) von Lola Arias stehen Frauen, einerseits in einem Dorf in Maranhão am Amazonas und andererseits im „Caseros“-Knast von Buenos Aires. In stilisierten Erzählungen berichtet „Reas“ davon, wie die Frauen hierher kamen und wie sie sich fortan zurechtfinden, sich beim Fußball, Tanzen oder Singen empowern. Ein toller Soundtrack und eine Videoclipästhetik komplettieren das frech-bunte Musical, das voll positiver Energie und Kraft steckt.

 

Botschaften für den Publikumsnachwuchs

Ebenso gab es in der Kinderfilmsektion einige Filmperlen aus Lateinamerika zu entdecken. Generation Kplus zeigte den Film „Los tonos mayores“ (Argentinien/Spanien 2023) von Ingrid Pokropek, der eine kuriose Geschichte um die 14-jährige Ana (Sofía Clausen) erzählt, die in ihrem Herzschlag Melodien und codierte Botschaften entdeckt. Seit einem Unfall hat sie eine Metallplatte im Arm, die für die seltsamen Töne verantwortlich sein soll, doch bevor die Platte entfernt werden soll, will Ana die Botschaften entschlüsseln – es könnte doch ein Gruß ihrer verstorbenen Mutter sein. In bedächtigem Rhythmus und mit vielen stillen Momenten erzählt der Film seine Geschichte, immer eine unterschwellige Spannung haltend. Ein großartiger Film für den Nachwuchs, weil er auf ganz andere Weise zeigt, was Kino alles kann.

Mit seinem Film „Raíz“ (Peru/Chile 2024) bringt Franco García Becerra dem jungen Publikum den Alltag eines achtjährigen Alpaka-Hirten näher. Feliciano (Alberth Merma) hat ein beschauliches Leben, er verbringt viel Zeit mit den Tieren, darunter auch ein Alpaka, das er Ronaldo getauft hat. Ihm erzählt er, was ihn bewegt, so die mögliche Teilnahme Perus an der kommenden Fußballweltmeisterschaft in Russland. Während der Junge auf das nächste Länderspiel hinfiebert, kämpfen seine Eltern gegen die Machenschaften eines Bergbauunternehmens, die das Leben der einfachen Bauern im Dorf gefährden. Das Kino wird zum Fenster in die Welt, wofür der Film eine lobende Erwähnung der Internationalen Jury erhielt.

Mit dem Großen Preis der Jury für den Besten Film wurde „Reinas“ (Schweiz/Spanien/Peru 2024) von Klaudia Reynicke ausgezeichnet. Der Film erzählt aus dem Peru der 1990er-Jahre, als die soziale und politische Lage im Land schwierig und voller Unruhe ist. Elena will deshalb mit ihren beiden Töchtern das Land verlassen und zur Familie in die USA ziehen. Doch die Kinder freuen sich nicht auf das Land der besseren Möglichkeiten, sondern beschäftigen sich vor allem mit dem Abschiednehmen. Zumal gerade erst der – über Jahre verschwundene – Vater wieder aufgetaucht ist und die Mädchen neue Erfahrungen machen lässt. „Reinas“ erzählt vom Lebensgefühl der Heranwachsenden in einem unsicheren Land und der noch größeren Unsicherheit der nahen Veränderung, wobei der Blick weniger auf den Kindern als vielmehr auf der Familie und dem Vater liegt, der sich ebenso hin- und hergeworfen fühlt wie seine Töchter.

 

Ein Pendel für den Dollarkurs

Überraschend viele Kurzfilme waren es in diesem Jahr, die aus Lateinamerika ihren Weg ins Programm der Berlinale gefunden hatten. Die Sektion Forum Expanded präsentierte „Quebrante“ (Brasilien 2024) von Janaina Wagner, die Sektion Berlinale Shorts zeigte „Al sol, lejos del centro“ (Chile 2024) von Luciana Merino und Pascal Viveros sowie „Un movimiento extraño“ (Argentinien 2024) von Francisco Lezama, der den Goldenen Bären für den besten Kurzfilm erhielt. Der Film analysiert die gesellschaftspolitische Situation in Argentinien und verbindet das Sich-Anpassen an die wirtschaftliche Lage des Landes mit einer bizarren Geschichte um eine junge Museumsangestellte, die mit ihrem Pendel den Anstieg des Dollarkurses voraussieht.

Auch die Sektion für Kinder und Jugendliche zeigte vier Kurzfilme, von denen drei ausgezeichnet wurden, „Uli“ (Kolumbien 2023) von Mariana Gil Ríos mit einer Lobenden Erwähnung der Generation Kplus-Jury, „Lapso“ (Brasilien 2023) von Caroline Caralcanti mit einer Lobenden Erwähnung der Jugendjury Generation 14plus und „Un pájaro voló“ (Kolumbien/Kuba 2024) von Leinad Pájaro De la Hoz, der mit dem Spezialpreis der Internationalen Jury für den Besten Kurzfilm im Programm Generation 14plus geehrt wurde. Nur „Aguacuario“ (Mexiko 2023) von José Eduardo Castilla Ponce ging leer aus, berührte aber ebenso mit seiner Geschichte aus dem Alltag von Heranwachsenden in Mexiko. Dieser hält für die Kinder Pflichten wie Freuden bereit und lässt den zehnjährigen Vinzent über das Zusammentreffen mit einem gleichaltrigen Mädchen nicht nur seine Aufgabe als Wasserverkäufer, sondern auch seinen älteren Bruder vergessen. Ein schöner Kurzfilm über das erste romantische Abenteuer eines jungen Mexikaners und darüber, wie einfach bezaubernde Geschichten sein können.