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Die Menschen hinter der Ikone

Der Film „Der junge Karl Marx“
Patrick Eser

Raoul Pecks Film zeigt den Ausschnitt des Marx-Komplexes, der in gewissen Kreisen abwertend als „Arbeiterbewegungsmarxismus“ bezeichnet wird, nämlich die Verschränkung der Theorie und einer auf die Organisation der Arbeiterbewegung hin orientierten Politik. Vor allem in wertkritischen und antideutschen Kreisen wird eine Lesart des Marxschen Werks betrieben, die die Trennung von Theorie und Praxis vorschlägt und dem Kapital- und Fetischis-mustheoretiker Marx den verflachenden, politisierenden Engels entgegenstellt, der für die Nähe zur Arbeiterbewegung steht. Es ist insofern konsequent, dass der Film in diesen Milieus, so in der jungle world, keine positive Resonanz erhalten hat.

Zu Beginn, quasi als Verfilmung des frühen Aufsatzes von Marx über den Holzdiebstahl, wird anschaulich vor Augen geführt, was Raoul Peck meint, wenn es ihm um die Aktualisierung des Erbes Marx’ geht. Die Konstante von Aneignung und Enteignung, die den Kapitalismus kennzeichnet, in der überzeichneten Vorführung des Gegensatzes von Holz sammelnden Armen und der Intervention der Eigentümer und deren polizeilicher Repräsentanten, die den „Holzdiebstahl“ mit Gewalt unterbinden.

Den drastischen Bildern dieser Eröffnung folgt die Geschichte des Kennenlernens und Verbrüderns von Karl Marx und Friedrich Engels, die sich nach anfänglicher Skepsis annähern, ihren Respekt gegenüber den Schriften des anderen zum Ausdruck bringen und in eine Phase enger Zusammenarbeit eintreten. Engels, der vom Selbsthass getriebene Industriellensohn, der einen ödipalen Konflikt mit seinem Kapitalistenvater austrägt, ist Autor der von Marx bewunderten Studie über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ und legt diesem das Studium der englischen Ökonomen Bentham, Ricardo und Smith nahe. Beide begreifen, durch den Gegenpart etwas verstanden zu haben, was ihnen vorher nicht klar war. Die Entwicklung und Ausreifung des materialistischen Weltbildes und eines sich wissenschaftlich verstehenden Kommunismus erfolgt im Rahmen politischer Auseinandersetzungen und Richtungsstreitigkeiten sowie im Zeichen der Bedrohung und Verfolgung durch die „Mächtigen“: in Trier, Paris, Brüssel wie in Manchester.

Der Film zeichnet die Auseinandersetzungen nach, die für die Genese des Marxschen Werkes zentral waren, seine Rolle als Journalist, der wegen seiner spitzen Kommentare in Konflikt mit der Macht gerät, die Debatten und Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Vertretern der ideologisch und strategisch sehr heterogenen Arbeiterbewegung: Proudhon, Bakunin oder der „populistische“ Agitator Weitling.

Die Beziehungsgeschichte der beiden jungen Männer wird aber zugleich dezentriert. Zum einen durch die starke Figur der Jenny Marx, die auf der einen Seite die klassische Frauenrolle spielt, also dem Denker den Rücken freihält und sich um die Kinder kümmert, gleichzeitig aber als eigenständige Intellektuelle auftritt, ihren Mann in die Schranken weist, bedeutende Einwände formuliert und entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung seines Denkens gibt. Sie ist der „tödlichen Langeweile“ ihres Trierer Lebens entflohen und prägt das Motto: „Wir drei heben die alte Gesellschaft aus den Angeln.“ Sie haben ihre relativ privilegierten Positionen in der sich entwickelnden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufgegeben, um sich gegen deren Strukturen aufzulehnen; Menschen, die wütend sind angesichts der vorherrschenden politischen Ungerechtigkeit und diese durch kritisches Nachdenken und politisches Agitieren bekämpfen wollen.

Eine zweite Ebene, die die Entwicklung des politischen Denkens von Marx dezentriert, ist die Bedeutung, die der inhaltlichen Auseinandersetzung mit anderen progressiven Theoretikern der Befreiung beigemessen wird.

Eine dritte Ebene der Dezentrierung ist der Blick auf die globale Dimension der Entstehung des Kapitalismus und die Sichtbarmachung des Kolonialismus. Sowohl ein Gespräch zweier Geschäftsmänner über Port-au-Prince als auch die auffallende Präsenz schwarzer DarstellerInnen verweisen auf die mit der Entstehung des Kapitalismus verbundene Verschleppungs- und Kolonisierungsgeschichte. Port-au-Prince ist nicht nur der Geburtsort des Regisseurs Raoul Peck, es ist als Hauptstadt Haitis sowohl Symbol für die Sklaverei als auch für die haitianische Revolution, in der sich die Versklavten zum ersten Mal in großer Breite erfolgreich gegen die europäischen Ausbeuter durchgesetzt haben.

Die Inszenierung ist unter formellen und ästhetischen Gesichts-punkten eher konservativ. Der Anspruch, eine den historischen Begebenheiten entsprechende Darstellung zu wählen, ist deutlich. Unterhaltsame und humoristische Sequenzen sind nur bedingt gelungen. Das Bild des nach einem Alkoholexzess kotzenden Karl, der lallend die späteren Feuerbachthesen entwickelt oder eine „Verfolgungsjagd“ in Brüssel, bei der es Karl und Friedrich durch einen athletischen Sprint gelingt, dem Zugriff der Polizei zu entgehen, erscheinen als eher krampfhafte Versuche der Auflockerung.

Der Film endet kurz vor den revolutionären Ausbrüchen im Jahr 1848 und filmisch in einem Abspann, der einen Gegenwartsbezug herstellen will, indem Bilder von Politikern (von Thatcher bis Mandela) zusammengeschnitten sind mit Szenen von Straßenkämpfen und Protesten, unterlegt von Bob Dylans Like a Rolling Stone.

„Der junge Karl Marx“ ist in vieler Hinsicht einzigartig, nicht zuletzt, weil er es schafft, gut 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs mit seinen auf beiden Konfliktseiten versteinerten Marxbildern eine ganz andere Wirklichkeit zu zeigen: Drei junge Leute als leidenschaftlich Liebende, Lebende und Kämpfende. Dass die erste Verfilmung des Lebens von Marx in der westlichen Hemisphäre von einem Regisseur unternommen wird, der seinen biographischen Background in der Peripherie des globalen Kapitalismus hat und dessen bisherige Filme vornehmlich dort angesiedelt sind, ist ein weiterer spannender Aspekt, der in der bisherigen Rezeption kaum zur Kenntnis genommen wurde.