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Lagerdenken und unerwartete Avancen

Was ist in Venezuela seit dem Ausbruch des Angriffskriegs auf die Ukraine passiert?

Venezuela ist in den letzten Jahren geopolitisch stark umkämpft gewesen. Das venezolanische Territorium ist zum Schauplatz für den neuen „Kalten Krieg“ zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen, sowie Russland und China auf der anderen Seite geworden. Vor diesem Hintergrund ist der Krieg in der Ukraine mitnichten eine weit entfernte Angelegenheit, die nur andere betrifft.

Edgardo Lander

Die US-amerikanische Regierung versucht seit mehr als zwei Jahrzehnten, die venezolanische Regierung zu destabilisieren oder gar zu stürzen. Dafür hat sie in den letzten Jahren tiefgreifende wirtschaftliche Sanktionen verhängt, die mittels Konfiszierung venezolanischer Vermögen sowie einer Finanz- und Handelsblockade die venezolanische Bevölkerung stark getroffen haben. Joe Bidens Berater für Lateinamerika, Juan González, erklärte, dass „die Sanktionen gegen Russland so robust sind, dass sie sich auch auf diejenigen Regierungen auswirken, die mit Russland enge wirtschaftliche Beziehungen unterhalten, darauf sind sie angelegt. Das heißt also, dass Venezuela diesen Druck zu spüren bekommt, dass Nicaragua diesen Druck zu spüren bekommt, ebenso Cuba“.

Im Gegensatz dazu hat Russland die Regierungen von Chávez und Maduro mit bedeutender politischer und militärischer Hilfe unterstützt, was zu einem bestimmten Grad dazu beigetragen hat, die Auswirkungen der illegalen Sanktionen von Seiten der USA abzumildern. In den letzten beiden Jahren hat Russland Venezuela Millionen von Impfdosen und anderes medizinisches Material für den Kampf gegen Covid-19 bereitgestellt.

Die Reaktionen Venezuelas angesichts der russischen Invasion in die Ukraine sind Ausdruck des tiefen Risses, der Venezuela seit Beginn des bolivarianischen Prozesses durchzieht. Anders als die Stellungnahmen Chinas und Cubas, die eher abwägend waren, die von Anfang an eine Verhandlungslösung für den Konflikt gefordert und sich bei der Resolution der UN-Vollversammlung zur Verurteilung der Invasion enthalten haben, kann die Haltung von Venezuelas Präsident Maduro zumindest zu Beginn des Konflikts als bedingungslose Unterstützung Putins charakterisiert werden. Dies kam in mehreren öffentlichen Erklärungen zum Ausdruck und zeigte sich auch in einem direkten Telefonat mit dem russischen Staatschef. Da Venezuela mit seinen Mitgliedsbeiträgen bei den Vereinten Nationen im Rückstand war, konnte es sich an eben jener Abstimmung nicht beteiligen, aber angesichts der wiederholten Äußerungen des Präsidenten sowie der wichtigsten Regierungs- und Parteivertreter*innen ist es gut möglich, dass sich Venezuela den fünf Ländern angeschlossen hätte, die gegen diese Resolution stimmten.

In mehreren Erklärungen haben wichtige Mitglieder der Regierung sowie der Regierungspartei PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) die Argumente der russischen Regierung übernommen: dass es sich um eine Verteidigungsaktion gegen das aggressive Vordringen der NATO in Richtung russischer Grenzen handele sowie um einen notwendigen Prozess der Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine, damit sie zu einem neutralen Land und jeglicher Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft vorgebeugt werde.

Der russische Botschafter in Venezuela wurde auf dem Parteikongress der PSUV, der während der Anfangstage des Krieges stattfand, mit Applaus empfangen. Laut Diosdado Cabello, dem Vizepräsidenten der Partei, „begleitet die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas den Kampf Russlands gegen den Nazismus“. Bei den Vertreter*innen, die der Regierung nahestehen, herrscht ein gewisses „Lagerdenken“ vor (nach dem Motto: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“), das vor allem betont, verbal gegen den Imperialismus vorzugehen (der wiederum exklusiv den Vereinigten Staaten zugeschrieben wird), und somit den Angriff gegen die ukrainische Bevölkerung für gerechtfertigt darstellt, aufgrund von vorherigen Aktionen von Seiten der USA, der NATO sowie der ukrainischen Regierung.
Die Sprecher*innen der meisten Oppositionsparteien haben hingegen die Invasion kategorisch verurteilt; es gab sogar eine kleine Demonstration vor der EU-Vertretung in Caracas. Juan Guaidó führte diese Kundgebung an und forderte dabei drastischere Maßnahmen gegen Russland, „um die Zukunft der Menschheit zu verteidigen, um die Demokratie und den Frieden zu verteidigen.“

Unter den Organisationen und Bewegungen der Linken, die nicht mit der PSUV verbunden sind, hat es scharfe Verurteilungen der russischen Invasion gegeben. Die Argumente für diese ablehnende Haltung gehen von der Unterstreichung der nationalen Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung über die Charakterisierung Russlands als autoritärer und imperialer Großmacht bis hin zu pazifistischen Einstellungen, die jede Art von Krieg ablehnen. Viele dieser Anklagen stellen ebenfalls die Rolle der NATO und die Politik der verschiedenen US-Regierungen in Frage, die sowohl Russland als auch China – als strategische Feinde – militärisch umzingelt hätten. In ihrer Erklärung zum Konflikt stellt die Kommunistische Partei Venezuelas fest: „Die PCV verurteilt, gemäß ihrer Prinzipien, jede Art von Krieg, der die Interessen des Großkapitals bedient. Wir rufen die antiimperialistischen, revolutionären Kräfte sowie die internationale Arbeiterbewegung und die Organisationen, die den Frieden lieben, dazu auf, ihre Solidarität und ihre weltweite Zusammenarbeit auszudehnen, um den kriegerischen Wahnsinn aufzuhalten, zu dem uns die imperialistischen und kapitalistischen Mächte in ihrer grausamen Konkurrenz anstacheln wollen.“

Verschiedene Vereinigungen und Institutionen wie die Nationale Akademie Venezuelas haben sich mit der ukrainischen Bevölkerung solidarisiert und die russische Invasion verurteilt.

Am 5. März kam, zur großen Überraschung der meisten Venezolaner*innen, eine hohe Delegation der US-Regierung nach Venezuela, um sich mit der Regierung Maduro zu treffen. Laut Medienberichten bestand das Ziel dieser Zusammenkunft darin, mit der venezolanischen Regierung über zwei Dinge zu verhandeln: zum einen die enge Verbindung zwischen Russland und Venezuela zu schwächen und zum anderen die Erdölproduktion anzukurbeln, damit die Regierung Biden russische Erdölimporte durch venezolanische ersetzen kann. Zu diesem Ziel sei auch eine temporäre Aufweichung der bestehenden Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela angeboten worden. In früheren Jahren hatten die USA ihre Rohölimporte aus Russland gesteigert, da diese am besten die Rohölimporte aus Venezuela ersetzen konnten, mit denen wiederum vor Inkrafttreten der Sanktionen gegen Venezuela einige wichtige Raffinerien beliefert worden waren, vor allem an der Küste vom Golf von Mexiko, die vor allem für die Verarbeitung dieser Art von Rohöl geschaffen worden waren. Dieser Besuch fand kurz vor dem Tag statt, an dem die Regierung Biden den Regierungserlass aus der Obama-Zeit um ein weiteres Jahr verlängerte, demzufolge Venezuela eine „außergewöhnliche Bedrohung“ für die nationale Sicherheit der USA darstelle.

Parallel dazu hat Maduro seine vorherige Haltung geändert: Er hat die bedingungslose Unterstützung der russischen Invasion abgeschwächt und davon gesprochen, dass es einer Verhandlungslösung bedarf.

Edgardo Lander ist Professor für Sozialwissenschaften im Ruhestand an der Universidad Central de Venezuela, Caracas.

aus: CALAS, La guerra en Ucrania. Miradas desde América Latina, 15. März 2022, 60 Seiten

Komplett online auf Spanisch zugänglich: http://calas.lat/en/publicaciones/otros/la-guerra-en-ucrania-miradas-des...érica-latina

Übersetzung: Britt Weyde