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Philosophieunterricht hinterm Mond gleich links

Betrachtungen eines Philosophieprofessors aus El Salvador

Wer als Gelehrte*r der Philosophie von den konkreten Erfahrungen der Studierenden ausgeht und dementsprechend unterrichtet, wird möglicherweise den Besonderheiten der Geisteswissenschaften eher gerecht, als wenn er oder sie für die Anhäufung diverser Bescheinigungen oder Zeugnisse sorgt. Die Lehrenden beeinflussen die Studierenden, abhängig vom jeweiligen Charakter und den speziellen Eigenschaften der unterschiedlichen Persönlichkeiten. Die Inhalte, die in unserem Amerika oft ideologischen Einflüssen unterworfen sind, begleiten und beeinflussen wiederum die akademische Lehre, also die Art und Weise, wie Inhalte vermittelt und aufgenommen werden.

Néstor García

Philosophie zu unterrichten bedeutet mehr, als Inhalte in chronologischer Reihenfolge oder als Ideengeschichte zu vermitteln. Eigentlich ist es eine Selbstbefragung der Studierenden über ihren jeweiligen Platz in der Welt und das, was sie täglich unternehmen, um ihre persönlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Ein Semester damit zu verbringen, über die Charakteristiken des Seins oder den Unterschied zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven nachzudenken, ist reine Zeitverschwendung, wenn dieses Nachdenken nicht darauf abzielt, die Fähigkeiten oder die sozialen Bedingungen der Studierenden zu verbessern. Die Philosophie hätte schon lange die Klassenräume verlassen und die Straßen besetzen sollen.

In einem Land wie El Salvador wird die Hochschulbildung als eine Bündelung von Kompetenzen gesehen, die zu einem Abschluss führt, der wiederum einen gut bezahlten und hoffentlich auch erfüllenden Beruf ermöglicht. Schließlich gilt Bildung in Lateinamerika als Ausweg aus den Einschränkungen und Unzulänglichkeiten der Unterentwicklung; die Industrialisierung, Modernisierung und Automatisierung der Welt, in der wir leben, erfordert das. Gilt diese Zweckmäßigkeit auch für die geisteswissenschaftliche Fakultät und insbesondere für den Philosophieunterricht?

Wenn jemand erstmals als Studierende*r die Hörsäle – oder heute die virtuellen Klassenräume – einer privaten oder öffentlichen Universität betritt, ist ihm oder ihr die historische Verantwortung, die er/sie damit übernimmt, nicht bewusst. Die Studierenden können das Ende der Vorlesungen und Seminare kaum erwarten, um sich wieder in ihre sozialen Netze einzuwählen oder die gerade aktuelle Kultserie abzurufen. Aber auch wir Lehrenden schaffen es nicht, unserer historischen Verantwortung gerecht zu werden, die darin besteht, den zukünftigen Generationen den Weg zu ebnen. So stellen sie sich der realen Welt mit wenig Waffen und geringen Kenntnissen.

Was würde Paolo Freire (der die „Pädagogik der Unterdrückten“ entwarf, d. Red.) dazu sagen, dass Bildung heute zur Ware geworden ist, dass die Universitäten nicht mehr Orte des Studierens, sondern Bildungsfabriken sind? Vermutlich würde er sagen, dass dies Sinn ergebe, denn die aktuelle Lage erfordert es vor allem, dass die Unterdrückten zu Unterdrückenden werden – und nicht, dass sie einen Weg zur persönlichen und kollektiven Befreiung finden.

Offensichtlich wird ein ungleiches und unmenschliches System denjenigen, die es unterdrückt, nicht die Werkzeuge zur Verfügung stellen, die ihnen ihre eigene und zunehmende Entfremdung bewusst machen. Genau hier hat die Philosophie die Aufgabe, in den Hörsälen und Klassenräumen die Rolle des Vorreiters zu übernehmen, den Studierenden einen anderen Blickwinkel als den normalerweise akzeptierten zu ermöglichen und ihnen so eine andere Art des Verstehens und der Sozialisation vorzustellen.

Es stimmt, dass das Wesen oder das Sein der Philosophie eine ständige Reflexion über sich selbst und über die Entwicklung der Welt ist. Es stimmt auch, dass die dafür angewendeten Methoden durch die Absichten und Interessen der Anwender*innen bestimmt werden. Wie Adorno und Horkheimer darlegten, kann die Instrumentalisierung der Vernunft gefährlich sein, wenn sie die kritische Reflexion nur als Instrument benutzt, als (unbewusste) Technik zur Förderung des Fortschritts und des Konsums. Deshalb ist der Kurs „Einführung in die Philosophie“ oder „Allgemeine Grundlagen der Philosophie“ (so heißt normalerweise der einführende und meist einzige Philosophiekurs in der Hochschulbildung) vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten für die Studierenden, im Ausbildungsprozess nicht ihre Menschlichkeit zu verlieren.

An den Universitäten zu unterrichten bedeutet nicht nur, Inhalte zu vermitteln, Bewertungen und Urteile darüber anzuregen, sondern es geht auch darum, dass die Studierenden mithilfe dieser Inhalte an sich selber arbeiten, dass sie kritisch darüber nachdenken, was sie an den Universitäten lernen, wozu und wofür, das heißt inwieweit das, was sie da tun, den Berufstätigen, die sie einmal sein werden, nützt oder schwächt. Philosophische Praxis ist nichts anderes als ein gemeinsames Nachdenken über das menschliche Wesen, die Gemeinschaft und ihre Entwicklung in der Geschichte.

Wir alle sind dafür verantwortlich, welchen Weg wir als Gesellschaft eingeschlagen haben.

Philosophie zu unterrichten beschränkt sich nicht auf einen Erstsemesterkurs an der Universität. Es ist vielmehr ein konstantes, tägliches und sehr sorgfältiges Nachdenken darüber, was wir tun möchten, um aus unserer Umgebung einen besseren Ort zu machen. Es bedeutet, dass wir uns unserer Schwächen bewusst sind, unserer mangelnden Fähigkeiten – und dennoch erkennen wir den Riesen in der Windmühle und greifen an.

„Hinterm Mond gleich links“ ist übrigens eine US-amerikanische Serie, die zwischen 1996 und 2001 produziert wurde. In der Kultur-Clash-Sitcom reist eine Gruppe von Außerirdischen auf die Erde, um das menschliche Verhalten zu untersuchen. Dabei spüren sie am eigenen Leib, was es heißt, einen unzulänglichen menschlichen Körper zu haben.

Néstor García lehrt und forscht an verschiedenen Universitäten in El Salvador, außerdem studiert er zurzeit Psychologie und promoviert in Philosophie.

Übersetzung: Laura Held