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Warum „Blackness“ immer noch der sozialen Tilgung gleichkommt

Das Buch „Afropessimismus“ von Frank B. Wilderson III
Lutz Taufer

Mitte der 1980er-Jahre besuchte Frank B. Wilderson III Rio de Janeiro. Er landete auf einer Party. Er hatte sich mit einer Gruppe weißer Brasilianer*innen aus Ipanema, einem Viertel der Oberschicht im Süden der Stadt, verabredet. Als er eintrat, waren alle still. Seine Begleitung hatte schnell eine Erklärung für die Anwesenheit des Schwarzen Mannes auf der Party parat: „Er ist Börsenmakler“, sagte sie und beruhigte die anderen. „Sie wusch die Schwärze aus mir heraus“, sagt Wilderson in einem Interview. Warum fällt mir an dieser Stelle der geniale Film von Fassbinder ein, „Angst essen Seele auf“?

Zwischen Martin Luther Kings „I have a dream“, der Rede, die er 1963 beim Marsch auf Washington vor 250 000 Menschen gehalten hatte, und dem „I can‘t breath“, den letzten Worten von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota, dem Geburtsort des Autors, sind 57 Jahre vergangen. Vergangen ist in dieser Zeit aber auch Kings Traum von „Black and White together“, so jedenfalls der afroamerikanische Aktivist und Philosoph Frank B. Wilderson III in seinem 2020 erschienenen Werk „Afropessimismus“ (dt. 2021). Ist der Traum wirklich ausgeträumt, oder schlängelt er sich noch immer opportunistisch mangels realitätstüchtigerer und mutigerer Ideen oder, mehr noch, als „Antagonismusangst“ (Jared Sexton) durch unsere Gegenwart? Slavoj Zizek kommt in seinem Buch „Mut der Hoffnungslosigkeit“ zu dem Schluss: Erst wenn es keine Hoffnung mehr gibt, wird der wahre Mut freigesetzt, kann fundamentaler Wandel auf den Weg gebracht werden.

Wilderson jedenfalls setzt solcher Hoffnung ein kompromissloses Ende und lässt uns, die wir alle infiziert sind vom Erbe des Humanismus und der Aufklärung und ihren Erlösungsversprechen, ratlos zurück. „Der Afropessimismus bietet eine analytische Linse, die als Korrektiv zur logischen Vorannahme des Humanismus wirkt.“ Er ist eine Schlussfolgerung auf die „monströse Gewalt, die sich in der Banalität der Mikroaggressionen verbirgt“, aber auch auf die Selbstverständlichkeit von brutaler Polizeigewalt und Rassismus. „Negroes“1 gehören nicht zur menschlichen Spezies. Sie sind fühlende Wesen, aber noch immer nicht der Sklaverei entkommen, sie gehören nicht sich selbst, sie sind sozial tot. Es gibt es keinen Ausgang, keine Erlösung. Wildersons Afropessimismus ist eine Philosophie der verlorenen Hoffnung. Er legt uns ein Werk vor, das größtenteils aus Ausschnitten seines Lebens besteht, Erinnerungsschnipsel, Anekdoten, geschreddert und wieder zusammengesetzt zu einem Monstrum. Er springt, fließende Übergänge sind nicht sein Ding, mitten im Höhenflug eines Memoirs springt er ab und lässt den Lesenden sich durch ein sperriges Gewirr von theoretischem Fachjargon tasten.

Lacan und Gramsci, Fanon und Sartre, Weathermen und Black Liberation Army (weiße und schwarze Stadtguerilla in den USA – die Red.), die Tete-Offensive, politischer Wendepunkt im Vietnam-Krieg und die nächtlichen Gefallenenljisten, die im Radio verlesen werden. Im Spiel verletzt er einen anderen Jungen erheblich, einen Weißen, unabsichtlich, wie er sich einredet, „allerdings gab es da noch eine andere Wahrheit, die nicht ausgesprochen werden konnte, nicht mal meinen Eltern gegenüber“. Wohin, fragt sich Wilderson im Rückblick auf den zwölfjährigen Frank, „würde es führen, dieses Duell im Herzensinnern zwischen Bedauern und Begehren?“

Professor für afroamerikanische Studien an der Universität von Kalifornien in Irvine, gilt Wilderson als einer der wichtigsten Denker des Afropessimismus. Dieser Ansatz verbindet die Arbeit von Wissenschaftler*innen wie Saidiya Hartman, Jared Sexton, David Marriott, Hortense Spillers und anderen und baut auf Frantz Fanon und Orlando Patterson auf. Sein Werk löste nach dem Erscheinen hitzige Debatten aus, Angela Davis und Orlando Patterson teilen seinen radikalen Pessimismus nicht.

Jahrgang 1956, wächst Wilderson in einer akademischen Familie in Kenwood auf, einem gehobenen, von weißen Akademikerfamilien bewohnten Stadtteil von Minneapolis. Ja, die Wildersons bleiben, auch wenn ihr Zuzug eine Protestaktion mit 500 Unterschriften auslöst. Der kleine Frank wächst auf wie jeder andere Junge im Viertel, Fussball, Filmstars, Spiele. Fast jedenfalls. Sein Gemüt verheddert sich mehr und mehr in Verunsicherungen, nach Auswegen Ausschau haltenden Träumereien, in denen er sich davonstiehlt, in eine Welt, in der er geachtet, ja verehrt wird. Aber auf schmerzlichen Umwegen dringt es zu ihm durch, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zu allen Anderen gibt. Er ist „Negro“. Warum? „Weil wir die Einzigen waren, die sie ‚Negro‘ nannten.“ Nur zu ihm und seiner Familie sagen sie dieses Wort.

Nach und nach beschleicht ihn die Gewissheit, dass er Schwarz, dass er anders ist als seine weißen Mitschüler*innen, deren Spott er tagtäglich ertragen muss. Mit der hinterhältigen Frage der Mutter eines weißen Spielkameraden, wie es sich anfühle, Schwarz zu sein, kann er erst gar nichts anfangen. Seine Schwarze Hautfarbe wird zu einer unangenehmen Tatsache, zu einer Schuld, wie er anfänglich glaubt, für die er büßen muss. Wilderson verschafft uns Zugang zu den Labyrinthen, in denen der heranwachsende Afroamerikaner seinen Weg sucht, er gibt uns die Chance, die Welt durch Schwarze Augen zu erleben, eine Welt, die wir nicht kennen. Er macht uns zumindest Ahnungen zugänglich, dass unser weißer Blick relativ, ja sogar ein ganz anderer ist. Er lässt uns teilhaben an seiner Entwicklung zum Afropessimisten.

1968, als M. L. King ermordet wird, ist er zwölf Jahre alt. Mit seiner Großmutter verfolgt er im Fernsehen die Unruhen, ihr Ruf „Na, mach schon, mein Junge“ gilt nicht Frank, sondern einem Steine werfenden Mann im TV. Etwas löst sich in ihm. „Wir sind wütend auf die Welt, das sind Schwarze in ihrem bestmöglichen Zustand.“

Es ist eine lange, schmerzhafte, widersprüchliche Geschichte, die schließlich zu der für ihn befreienden Gewissheit führt, dass es für Schwarze, anders als für Native Americans, Feministinnen, Schwule und Lesben und andere unterdrückte, misshandelte und ausgebeutete Gruppen kein Narrativ der Erlösung gibt. „Eine Schwarze radikale Agenda ist für die meisten Linken zutiefst verstörend, denn sie entstammt dem Umstand eines Leidens, für das keine denkbare Strategie der Wiedergutmachung existiert – kein Narrativ sozialer, politischer oder nationaler Erlösung“, konstatiert er gleich auf den ersten Seiten seiner Arbeit.

Nach acht Jahren als Börsenmakler ist seine Gesundheit ruiniert. Zuckungen im Gesicht, ein Magengeschwür, er sattelt um, wird Museumswächter. Sein Freund und Kollege, der Palästinenser Sameer, erzählt ihm in aller Unbefangenheit, wie es ist, von israelischen Grenzposten angehalten und abgetastet zu werden: „Aber die Scham und die Demütigung ist noch viel schlimmer, wenn der israelische Soldat ein Jude aus Äthiopien ist.“ Ist das, was die Israelis den Palästinenser*innen antun, in der Vorstellung seines Freundes „irgendwie eine ‚geringere‘ Bedrohung als Schwarze Juden“? „Wenn eine Erzählung von postkolonialer Erlösung und die Erlösung der Arbeiter*innen möglich war, müsste es auch ein Narrativ geben, das die Erlösung der Schwarzen erzählte und die Zeit und den Ort ihrer Unterwerfung zurückerstattete. Ich habe mich geirrt.“ Er wird Afropessimist.

Und so haben viele seiner Memoirs nicht den Abschluss der „Aufwärtsmemoiren“, die wir von anderen afroamerikanischen Militanten kennen, von Malcolm X, Assata Shakur, von Angela Davis. Stella, Schwarz, eine Liebe, zwanzig Jahre älter als er, beschwört junge Rekruten, nicht nach Vietnam zu gehen. Er ist viele Jahre mit ihr zusammen, sie sind auf der Flucht vor einer tatsächlichen oder eingebildeten atomaren Vergiftung, ein Freund und früheres Mitglied der Weathermen weigert sich, ihnen zu helfen. Sie leben dieses Leben im Widerstand, im Untergrund, lange Zeit zusammen, aber plötzlich ist Stella weg aus seiner Erzählung. Weshalb? Was ist mit ihrer gemeinsamen Geschichte? Passt nicht in die Logik des Afropessimismus von Wilderson‘scher Prägung. Was ihm gestern passiert ist, darauf muss er sich auch heute gefasst machen, nur noch schlimmer.

Als ich vor einiger Zeit eines der Bücher von Frantz Fanon vom Regal nahm und darin blätterte, stand ich im ersten Moment mit offenem Mund da. Nicht wegen der Radikalität und Kompromisslosigkeit der Sprache, nicht wegen Fanons bedingungslosen Schlussfolgerungen, die mich da ansprangen, sondern weil meine Erinnerungen daran verblasst waren, vor allem aber nicht mehr so richtig gebraucht wurden. Wilderson versteht es, die losen Enden, die Fanon uns bei seinem frühen Tod hinterlassen hat, aufzunehmen. Er entwickelt, entlang seiner persönlichen Geschichte und der Geschichte der Sklaverei, eine Philosophie der Ausweglosigkeit. Er schreibt nicht von Verlust, er schreibt vom Mangel, der schon immer ein Mangel gewesen war und es bis heute ist. Indigene können ihr Land zurückfordern, Obdachlose eine Wohnung, die Letzte Generation eine wirksamere Umweltpolitik. Der „negro“ kann nichts „zurück“fordern, nichts „zurück“bekommen.

„Es gibt keinen Antagonismus wie den Antagonismus zwischen Schwarzen und der Welt. Dieser Antagonismus ist der Kern dessen, was Orlando Patterson als ‚sozialen Tod‘ bezeichnet.“ Der Sklavenhalter verfügt „absolut“ über das Leben des Versklavten, die versklavte Person hat außerhalb der Beziehung zum Sklavenhalter keine sozial und juristisch anerkannte Existenz. Gewalt gegen Schwarze braucht keinen Grund oder Anlass. Er steht als „social nonperson“ außerhalb einer geltenden sozialen Ordnung, er ist „sozial tot“. Die Nicht-Schwarzen brauchen ihn, denn durch den Abstand zur Blackness definieren sie sich als Menschen. Hier unterscheidet er sich grundsätzlich von Fanon, auf den er immer wieder zu sprechen kommt. Fanon war sich bis an sein Lebensende der individuellen und kollektiven Befreiung im antikolonialen und antirassistischen Kampf sicher. Wilderson hingegen verpasst uns entlang seiner persönlichen Geschichte und der Geschichte von transatlantischer Sklaverei, dem Grundstein des transatlantischen Kapitalismus, ein Erinnerungs- und Suchgebäude der Ausweglosigkeit. Für „Die Verdammten dieser Erde“ gibt es keine Erlösung, jedenfalls sofern sie Schwarz sind. „Ich, als Schwarze Person … bin vom Ausgang der gesellschaftlichen und geschichtlichen Erlösung ausgeschlossen.“ Die Erlösung der Schwarzen kommt erst mit dem Ende der Welt, aus der Asche der Apokalypse. „Erst wenn es keine Hoffnung mehr gibt“ (Zizek).

Wilderson stellt fest, dass der Schwarze von allen Opfern des Rassismus eine einmalige Rolle einnimmt: Er ist als Sklave in der Geschichte aufgetaucht und aus dieser Position bis zum heutigen Tag nicht entlassen. Auch dann nicht, wenn er sozial aufgestiegen ist. In den USA gibt es heute allerdings eine unübersehbare Schwarze Mittelklasse. Es ist möglich, Schwarz zu sein und gedemütigt zu werden, aber gleichzeitig von der hemmungslosen Ausbeutung und Unterdrückung Schwarzer Länder und Ethnien zu profitieren oder auf dem Land zu leben, das den Ureinwohner*innen geraubt wurde. So what?

WildersonsVater leitet ein Programm der Universität, bei dem es um die Souveränität der Native Americans geht. Er hält für indigene Älteste einen Workshop. „Der Raum war brechend voll… Spöttische Bemerkungen und Beleidigungen wurden meinem Vater entgegengeschleudert.“ Einer der Ureinwohner geht auf den Leiter des Workshops zu und ruft: „Wir wollen nicht, dass uns ein ‚Nigger-Man‘ wie du sagt, was wir zu tun haben.“ Stürmischer Applaus.

Wildersons Afropessimismus zerstört die Illusion, den Halt, den uns der Humanismus mit seinem nie enden wollenden und beruhigenden Fortschrittsglauben, über uns gebeugt wie ein Geier, beschert.
Im Jahr 1991 war er nach Südafrika gegangen. Eine lange Erzählung gegen Ende des Buchs. Kurz nach seiner Ankunft wird er, der in den USA ehedem in der Black Liberation Army aktiv war, in den African National Congress gewählt und Mitglied beim Umkhonto-we-Sizwe (bewaffneter Arm des ANC – die Red.). „Seit meiner Jugend hatte ich keine politischen Zusammenhänge mehr erlebt, in denen das Wort Revolution ironielos verwendet wurde.“

Er leitete Workshops politischer Bildung über Gramsci und andere Theoretikerinnen und Theoretiker für Angehörige einer geheimen Umkhonto-we-Sizwe-Einheit. Daneben verfasste er Berichte für Amnesty International und Human Rights Watch. Dass er auch am Waffenschmuggel beteiligt war, durfte in den Berichten natürlich nicht auftauchen. Sein gerade abgeschlossener Vertrag an der Witwatersrand-Universität wurde aus politischen Gründen gekündigt. Also fing er an, in einer „verträumten Trattoria namens Mario’s in einem Vorort von Jo’burg“ zu kellnern. Eine der Stammgäste war die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer. Sie freunden sich an. Bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Küche verteilt er Pamphlete des Umkhonto-we-Sizwe, bis er zu seinem Schreck erfährt, dass zwei von ihnen zur Inkatha, den Todfeinden des ANC gehören. Er fürchtet um sein Leben, zumal auch sein italienischer Chef Mario ihm nach einem Streit mit der Cosa Nostra droht. Er geht.

Wildersons Afropessimismus ist eine Mixtur aus Erzählung und Theorie, wie sie mir bis jetzt nicht untergekommen ist. Was in seinen kompromisslosen Zuspitzungen überzeugt, ist nicht die schlüssige Theorie. An erster Stelle ist es sein Erlebtes, aus dem seine theoretischen Schlussfolgerungen erwachsen. Damit macht er Druck. Wilderson ist kein bequemer Autor, bei der Lektüre des spannenden Buchs kommen einem da manche Zweifel, Widersprüche melden sich, Abwehrhaltungen überkommen die Lesenden. Ja, bequem ist der Wilderson nicht, aber er liefert eine dringend notwendige Attacke von epochalem Gewicht auf die Bequemlichkeit liberaler Zuversicht.

  • 1. Weil Frank B. Wilderson III Begriffe wie „negro“ in seinem Buch bewusst verwendet, hat der Autor der Rezension dies auch getan. Lutz Taufer und die ila-Redaktion halten das für notwendig, um die Argumentation von Frank B. Wilderson III nachvollziehbar zu machen.