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Pest oder Cholera

Über die Folgen des Strukturwandels in der uruguayischen Landwirtschaft

Sanfte Hügel und saftige Weiden, auf denen pittoresk einige Rinder und Schafe grasen – dieses idyllische Klischeebild darf nicht nur in keinem Reisebericht fehlen, sondern prägt auch die Wahr­nehmung vieler Menschen in Uruguay in Bezug auf das eigene, traditionell von der Viehwirtschaft geprägte Land. Allerdings hat es immer weniger mit der Realität zu tun. Seit rund zwanzig Jahren durchläuft Uruguay einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Landwirtschaft – mit zunehmend sichtbaren Konsequenzen, sowohl in ökologischer und sozialer wie auch in politischer Hinsicht. Internationale Agrarkonzerne und Großinvestoren machen sich breit, vor allem auf Kosten der kleineren und mittleren Agrarproduzent*innen, die bei den steigenden Boden- und Pachtpreisen nicht mithalten können. Die internationalen Kapitalgesellschaften besitzen bereits 40 Prozent des landwirtschaftlichen Bodens – was inzwischen auch die traditionellen Großgrundbesitzer*innen unruhig macht.

Wolfgang Ecker

Wir werden den Prozess einer Agrarreform in die Wege leiten […] Wir werden einen Prozess der Verteilung des Landes in die Wege leiten und die Bildung von Kooperativen aus kleinen und mittleren Produzenten sowie Landarbeitern fördern“ – Sätze, die heute aus der Zeit gefallen scheinen. Sie stammen aus der ersten programmatischen Erklärung des Linksbündnisses Frente Amplio aus dem Jahr 1971 und entsprangen dem Wunsch, der Konzentration des Landbesitzes in Händen der traditionellen Landoligarchie ein Ende zu setzen.

Als die Frente Amplio 2005 zum ersten Mal an die Regierung kam, schien die Forderung aktueller denn je. Die verheerende Wirtschaftskrise Anfang des Jahrhunderts trieb Zehntausende in den Hunger, während gleichzeitig Abermillionen Rinder und Schafe die riesigen Weideflächen Uruguays bevölkerten (und sich deren Besitzer*innen weiterhin über gute Einnahmen freuen durften). Die Mehrheit des Bündnisses wollte indes von einer Agrarreform nichts mehr wissen, sondern legte sich auf einen Weg in die genau entgegengesetzte Richtung fest: die marktliberale Öffnung des bis dato weitgehend abgeschotteten Agrarsektors.

„El país productivo“, das produktive Land, war das neue Leitmotiv. Produktivitätssteigerung, Innovation und ausländische Investitionen sollten das Land in Zukunft krisenfest machen. Für einen der vehementesten Verfechter dieses Ansatzes, den damaligen Landwirtschaftsminister und späteren Präsidenten José „Pepe“ Mujica, war das auch im Nachhinein ein alternativloser Weg. „Es waren Zeiten, in denen Investitionen Vorrang hatten, in denen Kröten geschluckt werden mussten und in denen Zusicherungen und Vorteile geboten wurden, damit sich Kapital ansiedeln und Arbeitsplätze geschaffen werden konnten“, resümierte er 2014, kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft, in einem Interview. Eine Ansicht, die auch innerhalb der uruguayischen Linken mehrheitlich geteilt wurde und wird, obgleich die sozialen und ökologischen Konsequenzen in den ländlichen Regionen unübersehbar geworden sind.

Nach fünfzehn Jahren Linksregierung gab es nicht die geringste, sondern die höchste Landkonzentration in der Geschichte Uruguays, und an die Stelle kleiner und mittlerer Produzent*innen waren zunehmend internationale Agrarkonzerne und Großinvestoren getreten, die heute über vierzig Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche ihr Eigen nennen. Damit verbunden wurde ein Strukturwandel in der Landwirtschaft angestoßen: Weg von der extensiven Viehzucht, hin zum intensiven, von Monokulturen geprägten Anbau von Feldfrüchten und zur plantagenförmigen Forstwirtschaft. Als Sinnbild dafür gilt der Siegeszug zweier Erzeugnisse, die im vergangenen Jahr zusammengenommen fast dreißig Prozent der Exporte umfassten: Soja und Zellulose, gewonnen aus Eukalyptusholz. Die Anbaufläche von Soja stieg seit Beginn des Jahrhunderts um nahezu das Hundertfache auf über 900 000 Hektar. In demselben Zeitraum verzehnfachte sich auch die Flächennutzung durch die Forstwirtschaft (auf über eine Million Hektar) – 70 Prozent davon sind Eukalyptusplantagen.
Zu den unmittelbaren Folgen dieser Entwicklung zählt der drastisch gestiegene Ressourcenverbrauch, der mit der Intensivierung der Landwirtschaft einherging. In erster Linie betrifft dies die benötigten Wassermengen – angesichts der anhaltenden Dürre in Uruguay ein sehr akutes Problem. Bereits Ende vergangenen Jahres veröffentlichte ein Forschungsteam der staatlichen Universität UDELAR Zahlen über den „Wasserfußabdruck“, den direkten und indirekten Wasserverbrauch der verschiedenen landwirtschaftlichen Sektoren. Das Ergebnis war eindeutig: Obgleich Soja und Eukalyptus (bislang) auf lediglich einem Achtel der Gesamtfläche angebaut werden, überstieg deren Wasserbedarf nicht nur deutlich den Wasserverbrauch der gesamten Fleischproduktion, sondern lag auch nahezu dreißigmal über der Wassermenge, die für die Versorgung der uruguayischen Bevölkerung bereitgestellt wurde.

Hinzu kommt, dass sich die Wasserqualität sukzessive verschlechtert hat. In einer breit angelegten Untersuchung analysierte vor kurzem die für die Wasserressourcen zuständige Regulierungsbehörde URSEA 500 Proben, die in allen Landesteilen genommen wurden. Das Resultat bestätigte die schlimmsten Befürchtungen: In sechzehn der neunzehn Bezirke Uruguays wurden Rückstände von agrochemischen Erzeugnissen im Trinkwasser nachgewiesen – darunter Substanzen wie Arsen und Glyphosat. Bei 79 Proben lagen die Werte über den zulässigen Grenzwerten.

Neben den ökologischen Folgen sind auch die unmittelbaren sozialen Konsequenzen sichtbar, vor allem als Ergebnis der sprunghaft gestiegenen Bodenpreise (und damit auch der Pachten), die mit der Liberalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft einhergingen. Kostete vor zwanzig Jahren ein Hektar Land durchschnittlich 500 Dollar, bewegt sich der Preis seit 2012 in einer Spanne zwischen 3000 und 4000 Dollar. In den fruchtbarsten und daher für den Ackerbau am besten geeigneten Regionen im Südwesten des Landes liegt er sogar doppelt so hoch. Für eine kapitalintensive, hochproduktive Landwirtschaft ein immer noch akzeptabler Rahmen, für kleine, finanziell schwach ausgestattete Produzent*innen jedoch unbezahlbar. Entsprechend verringerte sich die Anzahl der Kleinbetriebe seit Beginn des Jahrtausends um ein Drittel auf etwa 20 000. Und dies, obwohl solche Betriebe immer noch eine herausragende Bedeutung bei der Versorgung der Bevölkerung mit Gemüse, Obst, Käse und anderen Lebensmitteln besitzen. Vom lukrativen Exportgeschäft sind sie mangels Konkurrenzfähigkeit hingegen weitestgehend ausgeschlossen.

Zwar gab und gibt es Bemühungen seitens der uruguayischen Regierung, dieser Entwicklung (und der damit verbundenen Landflucht) entgegenzuwirken, bislang jedoch ohne den erhofften Erfolg. Dabei gäbe es mit dem staatlichen „Instituto Nacional de Colonización“ (INC) sogar ein geeignetes Werkzeug. Zumindest theoretisch besäße die Einrichtung ein Vorkaufsrecht bei allen Transaktionen von landwirtschaftlichen Flächen, die, gemäß den eigenen Statuten, Kleinbetrieben dann zu Vorzugskonditionen zur Verfügung gestellt werden könnten. Allerdings ist die finanzielle Ausstattung des Instituts zu gering, um den Trend tatsächlich umzukehren. So plant das INC für das laufende Jahr lediglich den Erwerb von rund 5000 Hektar Land, das sind 0,03 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Uruguays. Zum Vergleich: Allein der finnische Zellulosekonzern UPM besitzt nach eigenen Angaben über eine Viertelmillion Hektar Land – eine Fläche so groß wie das Saarland.

Dabei wurde und wird diese Entwicklung auch von wiederkehrenden Protesten begleitet. Kritische Stimmen aus dem universitären Bereich spielen dabei jedoch nur eine untergeordnete Rolle, ebenso wie ökologische NRO aus dem linken Spektrum. Der stärkste Widerspruch kommt von den Betroffenen selbst, teilweise unterstützt von der extremen politischen Rechten und Vertreter*innen des traditionellen Großgrundbesitzes, obgleich dieser – schon aufgrund der gestiegenen Bodenpreise – im ökonomischen Sinn nicht zu den Verlierern des Wandels zu rechnen ist. Trotzdem stehen manche Großgrundbesitzer*innen den Veränderungen ablehnend gegenüber, dürften die neuen Eigentumsverhältnisse ihre auf tradierte, halbfeudale Dominanzstrukturen aufbauende Position in den ländlichen Gebieten untergraben, und damit auch ihren wichtigen Einfluss auf die politischen Prozesse, den die Landoligarchie in den zweihundert Jahren der uruguayischen Nationalgeschichte ununterbrochen besaß.

In diesem Sinne war es nachvollziehbar, dass der überwiegende Teil der uruguayischen Linken die 2018 gegründete, ländlich geprägte Bewegung Un Solo Uruguay (USU) zunächst als politische Inszenierung des Großgrundbesitzes abtat. Mit Straßenblockaden und Kundgebungen protestierte die USU monatelang gegen die in ihren Augen untragbaren Verhältnisse für die „nationalen“ Produzent*innen, ohne dass ihr dafür große Beachtung seitens der damaligen Frente-Amplio-Regierung zuteil wurde. Erst nach den verlorenen Wahlen (nicht zuletzt aufgrund dramatischer Stimmenverluste in den ländlichen Gebieten) dämmerte es einigen innerhalb des Linksbündnisses, dass die USU auf reale Widersprüche hinweist, selbst wenn man deren konkrete Forderungen im Detail nicht teilen möchte. Vor allem musste man sich eingestehen, dass die USU wesentlich heterogener ist, als man selbst glauben machen wollte. Spätere Versuche, sich der Bewegung anzunähern, sind jedoch bislang weitestgehend erfolglos geblieben.

Dabei nützt es der Frente Amplio wenig, dass die USU mittlerweile auch die amtierende Rechtskoalition kritisiert, da diese nach der von ihr gewonnenen Wahl mehrheitlich nichts mehr von einer Kehrtwende in der Agrarpolitik wissen will, mit Ausnahme der rechtsradikalen Partei Cabildo Abierto, die versucht, sich als loyale Vertreterin der „nationalen“ Interessen in der Landwirtschaft zu profilieren. 2021 brachte die von ehemaligen Militärs dominierte Partei zum Ärger der anderen Koalitionsparteien einen Gesetzentwurf ein, der die Fläche künftiger Eukalyptuspflanzungen beschränken sollte. Zunächst fand das Gesetz auch eine parlamentarische Zustimmung, es wurde jedoch aufgrund eines Vetos des Präsidenten nie umgesetzt. Für die Mehrheit sorgten ausgerechnet die Abgeordneten der Frente Amplio, die überraschenderweise mit den Rechtsradikalen stimmten. Gestärkt dürfte dies in erster Linie Cabildo Abierto haben, nicht zuletzt deswegen, da sie die Zustimmung der Linken auch dafür zu nutzen verstand, sich allen bisherigen Anfeindungen zum Trotz als „normale“ politische Kraft innerhalb des demokratischen Spektrums zu präsentieren. Ob die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf der Opposition genutzt hat, sei indes dahingestellt. Zumal es ihr öffentlich an Glaubwürdigkeit fehlt, eine Politik revidieren zu wollen, die sie bei anderen Gelegenheiten immer noch als Erfolgsmodell verkauft. Oder, um es mit den Worten eines konservativen Senators zu sagen: „Das ist politischer Opportunismus. Sie sahen, dass es möglich war, Differenzen [in der Koalition] zu erzeugen, und haben das gemacht. Dazu haben sie jedes Recht. Die Frage ist jedoch, warum diese Änderungen jetzt notwendig sind, während die Frente Amplio in den 15 Jahren ihrer Regierungszeit kein einziges Komma im Gesetz verändert und die Politik im Bereich der Forstwirtschaft fortgesetzt hat.“

Dabei wäre die Linke gut beraten, sich anstelle von parteipolitischen Scharaden auf die Entwicklung glaubwürdiger Konzepte zu konzentrieren, wie in Zukunft die Landwirtschaft emanzipativer, sozialer und ökologischer gestaltet werden könnte. Gegebenenfalls erwiese sich dabei auch ein Blick in eigene, vor über fünfzig Jahren veröffentliche Dokumente als hilfreich. Allerdings scheint die Mehrheit innerhalb der Frente Amplio bislang nicht willens, sich kritisch mit den negativen Konsequenzen der eigenen Politik auseinanderzusetzen. Solange dies sich nicht ändert, dürfte es für die uruguayische Landwirtschaft indes nur zwei realistische Entwicklungsszenarien geben: Entweder sie wird zunehmend internationalen Agrarkonzernen überlassen, oder man kehrt zu den alten, vom nationalen Großgrundbesitz dominierten „idyllischen“ Verhältnissen zurück. Pest oder Cholera.