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Schwieriges Erinnern

Der Roman „Gebrochen-Weiß“ von Astrid H. Roemer aus Suriname
Gert Eisenbürger

Nach den Besprechungen von Anton de Koms Klassiker „Wir Sklaven von Suriname“ (ila 462) und des Romans „Mein Name ist Sita“ von Bea Vianen (ila 464) soll diesmal als vorerst letztes Buch unserer kleinen Reihe zur surinamischen Literatur das im Frühjahr dieses Jahres auf Deutsch erschienene Buch „Gebrochen-Weiß“ von Astrid H. Roemer vorgestellt werden. Die 1947 in der Hauptstadt Paramaribo geborene Autorin gilt als wichtigste literarische Stimme des im Nordosten Südamerikas gelegenen Landes.

Im Roman „Gebrochen-Weiß“ werden einige Monate im Leben der Familie Vanta erzählt, und zwar aus der Perspektive von fünf Frauen: Großmutter Bernadette, genannt Bee, ihre Tochter Louise sowie deren 15 bis 18 Jahre alten Töchter Babs, Imker und Heli. Eine sechste Perspektive ist die von Louises 13-jährigem Sohn Audi. Dabei spricht nur die im niederländischen Utrecht studierende 18-jährige Heli in der Ich-Form. Heli mit dem zweiten Vornamen Astrid Roemers, Heligonda, gleichzusetzen und in der Romanfigur ein Alter Ego der Autorin, die ebenfalls als junge Frau Suriname in Richtung Niederlande verlassen hatte, zu vermuten, wäre eine leider oft anzutreffende Lektürehaltung vor allem gegenüber literarischen Texten von Frauen, die den Blick auf den Roman verkürzen und diesem keinesfalls gerecht würde. Die Gedanken und Erinnerungen der anderen genannten Personen werden jeweils in der dritten Person von einer anonymen Erzählinstanz dargestellt. Neben den genannten Familienmitgliedern spielt auch Laura, die in einer Nervenheilanstalt lebende Schwester von Louise, eine wichtige Rolle. Doch über sie erfahren die Leser*innen nur etwas aus den Schilderungen der anderen Protagonist*innen. Das gilt auch für die diversen Männer, die im Leben der fünf Frauen und des kleinen Audi eine Rolle spiel(t)en. Neben dem verstorbenen Mann der Großmutter sind dies die verschiedenen Lebens- und Sexualpartner von Louise sowie die Freunde ihrer jugendlichen Töchter. Abgesehen von Helis Schilderungen ihres Lebens in Utrecht bildet das Leben im Paramaribo der 1960er-Jahre Ort und Zeitrahmen des Romans. Sozial ist Louise in der Mittelschicht des nur 600 000 Einwohner*innen zählenden Landes zu verorten. Sie ist alleinerziehende Grundschullehrerin, übt einen Beruf aus, den nach ihren Vorstellungen auch die drei Töchter ergreifen sollten. Mehrere Männer, die im Leben der Vanta-Frauen wichtig sind/waren, stehen in Diensten der niederländischen Armee, andere üben akademische Berufe aus oder studieren.

Zwei Ereignisse und die Schritte dahin verändern die Routine im Leben der Familie und lösen die Erinnerungs- und Reflexionsprozesse aus, die im Zentrum des Romans stehen. Da ist zum einem der Umzug Helis von Suriname in die Niederlande. Dieser erfolgte keineswegs freiwillig. Heli hatte in Paramaribo ein Studium der Grundschulpädagogik begonnen. Dort ging sie eine Beziehung mit einem Dozenten ein. Diese Liaison war in Niederländisch-Guyana (wie Suriname bis zur Unabhängigkeit 1975 offiziell hieß) ein handfester Skandal, vor allem, weil der beteiligte Dozent verheiratet war. So legten die Verantwortlichen der Hochschule Louise überzeugend nahe, ihre Tochter zur Fortsetzung ihres Studiums in die Niederlande zu schicken. Die zweite Veränderung ist die zunehmende Hinfälligkeit der Großmutter Bernadette. Um ihr in den letzten Lebensmonaten beizustehen und sie zu pflegen, verlässt auch die 17-jährige Imker das Haus der Mutter und zieht bei ihrer Oma ein. Für die beiden jungen Frauen und für Louise bilden die Umzüge einen tiefen Einschnitt, der sie zwingt, ihr Leben und ihre Identität neu zu bestimmen. Auch für die im Haushalt verbliebenen jüngeren Kinder Babs und Audi sind die Umbrüche eine Herausforderung. Da sie wissen, dass sie andere Väter haben als ihre älteren Schwestern, suchen sie eine Verbindung zu diesen Männern. Auch Heli lernt erst in den Niederlanden ihren Vater kennen, ist aber wenig daran interessiert, einen engeren Kontakt zu ihm zu pflegen. Großmutter Bee schließlich weiß, dass ihr nur noch wenig Lebenszeit bleibt, und möchte familiäre Probleme klären und Geheimnisse lüften.

So kommen viele familiäre Dramen zur Sprache, die vor allem mit Louises sowie Lauras Beziehungen zu ihren Partnern und ihren Brüdern zu tun haben. Dabei geht es um (sexuelle) Gewalt und Missbrauch, um die Unmöglichkeit, über die ethnischen, religiösen und sozialen Gegensätze hinweg Verbindungen oder Ehen aufrechtzuerhalten, und um die Migration in die Niederlande, die so vieles im Leben und den Beziehungen der Menschen verändert, sowohl für die, die bleiben, als auch für die, die gehen. Auch wenn das Niederländisch-Guyana der 1940er-Jahre eine absolut männerdominierte Gesellschaft war, zeichnet die Autorin die Geschlechterverhältnisse keineswegs nur schwarz-weiß. Vielmehr begegnen uns Personen beiderlei Geschlechts, die aufgrund des Verhaltens, das die autoritär-patriarchale Kolonialgesellschaft von ihnen erwartete, beschädigt und verletzt sind. Auch sieht Astrid Roemer bei den Geschlechterverhältnissen durchaus positive Entwicklungen. So sind die Beziehungen von Louises Töchtern zu ihren Jugendfreunden in den 1960er-Jahren von sehr viel Respekt und gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt. Zudem überschreiten sie ethnische und religiöse Grenzen. Als Konstante erweist sich dagegen die Frage der Migration. Selbst bei den Jugendlichen stellt sich für jede*n die Frage, ob sie/er die Zukunft in Suriname oder in den Niederlanden sieht.

Nicht nur wegen dieses Konfliktes sind der Kolonialismus und seine Folgen neben den Geschlechterverhältnissen das zweite große Thema des Romans. Die Niederlande, ihre sozia­len und religiösen Traditionen und ihr Lebensstil sind auch im postkolonialen Suriname allgegenwärtiger Bezugspunkt. Auch die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs hatte Auswirkungen in der Kolonie. Viele Männer und auch Frauen in Suriname wurden für die niederländische Armee angeworben, jüdische Niederländer*innen kamen als Flüchtlinge nach Suriname.

Weitere, bis heute offene Wunden in der postkolonialen Gesellschaft sind das Erbe der Sklaverei und die Praxis der niederländischen Kolonialmacht, nach deren Aufhebung „Vertragsarbeiter*innen“ aus Indien, Indonesien (vor allem von der Insel Java) und China nach Suriname zu bringen und im Sinne eines „Teile und Herrsche“ Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gezielt anzuheizen.

All dies thematisiert Astrid H. Roemer in „Gebrochen-Weiß“, ohne an irgendeiner Stelle plakativ zu werden. Vielmehr begegnen uns eine Familie und eine Gesellschaft, die vieles verdrängen. Die Erinnerungen hervorzuholen ist schmerzhaft, und Großmutter Bee sowie Mutter Louise geben das Meiste erst preis, als ihre Kinder und Enkel nach Antworten verlangen. Aber auch die wissen, dass vieles in der Vergangenheit vermintes Gelände ist, und suchen vorsichtig die richtigen Momente, um Mutter und Großmutter die Fragen zu stellen, die sie bedrängen. Für all das findet die Autorin die richtige Sprache, wofür sie manche Regeln und Konventionen über Bord wirft. Wo und wie ihren Protagonistinnen Gewalt angetan wurde, wird sehr zurückhaltend erwähnt, oft nur angedeutet, wobei klar wird, welche schwerwiegenden Folgen das für die Persönlichkeiten, vor allem für die tief traumatisiert in der Psychiatrie lebende Laura hatte.

Bei all den erwähnten Verletzungen und Beschädigungen ist der Grundton des Romans keineswegs dunkel und tragisch. Alle Personen, vor allem die Jugendlichen, sind positive und dem Leben zugewandte Menschen, die stark genug sind, auch mit schwierigen Erfahrungen umzugehen. Zudem zeigt die Autorin, dass die Gesellschaft Surinames in puncto Lebensfreude, Musik und Esskultur der einstigen Kolonialmacht einiges voraus hat (was bei der niederländischen Küche nicht besonders schwierig ist).

Ein für mich unerwartetes Highlight am Ende der Lektüre war das Nachwort der Übersetzerin Bettina Bach. Normalerweise stammen solche Texte aus den Federn von Herausgeber*innen oder akademischen Expert*innen und versuchen, das Werk in einen literarischen und historischen Kontext zu stellen und einzuordnen. Bettina Bach beschreibt dagegen verschiedene Probleme und Fragen, die sie bei der Übertragung hatte, und wie sie sie gelöst hat. Die meisten hatten mit grammatikalischen Unterschieden zwischen dem Niederländischen und dem Deutschen zu tun, vor allem aber mit denen zwischen dem niederländischen Niederländisch und dem surinamischen Niederländisch. Letzteres ist zwar die Amts-, Unterrichts- und Literatursprache in dem südamerikanischen Land, Alltagssprache ist jedoch das kreolische Sranam. Aus diesem finden wiederum Begriffe und Redewendungen sowie grammatikalische Konstruktionen Eingang ins surinamische Niederländisch und speziell in das Schreiben von Astrid H. Roemer. So stellt Bettina Bach in ihrem Nachwort wunderbar dar, wie Sprache immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Zustände und Konflikte ist und umgekehrt auf diese zurückwirkt. Gerade im Hinblick auf die aktuellen Debatten um gendergerechte Sprache ist dies ungemein erfrischend und sei allen empfohlen, die sich gegen Veränderungen stellen, weil sie die „Schönheit“ und „Reinheit“ der Sprache bewahren wollen.

Der Roman „Gebrochen-Weiß“ (das niederländische Original erschien 2019) ist ganz große Literatur (dabei keineswegs „schwerverdaulich“), und es verwundert kaum, dass Astrid H. Roemer nicht nur als wichtigste Autorin Surinames gilt, sondern längst auch als eine der bedeutendsten der niederländischen Sprache.