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Die offenen Adern der Poesie

Interview mit der Schriftstellerin und May-Ayim-Übersetzerin Esther Andradi

May Ayim, 1960 als Brigitte Sylvia Andler in Hamburg geboren und in einer Pflegefamilie in Münster aufgewachsen, war die vielleicht wichtigste deutschsprachige Lyrikerin der 1980er- und 1990er-Jahre. Sie revolutionierte nicht nur die deutsche Lyrik, sondern war auch eine radikale Vordenkerin und Aktivistin der afrodeutschen Bewegung. Bis heute fasziniert sie junge Schwarze migrantische Frauen. Ihre Texte stärken sie und ermutigen sie, sich gegen Rassismus zu wehren. Die Literaturwissenschaft interessiert sich dagegen für den unerhört neuen, geradezu spracharchäologischen Umgang mit Denk- und Redematerial der Autorin, die 1996 aus dem Leben schied. Die in Berlin lebende argentinische Dichterin und Schriftstellerin Esther Andradi hat die Gedichte May Ayims ins Spanische übersetzt und in Argentinien veröffentlicht. Warum, das erzählt sie im Interview mit der ila.

Gaby Küppers

Was motiviert eine argentinische Schriftstellerin und Lyrikerin, eine deutsche Lyrikerin ins Spanische zu übersetzen?

Mitte der 1990er-Jahre hielt ich mich in Buenos Aires auf und begann, deutsche Dichterinnen ins Spanische zu übersetzen. Zuvor hatte ich in Berlin gelebt, und in Buenos Aires erkundigte man sich bei mir nach Literatur und Dichtung in deutscher Sprache. Ich entschloss mich damals, deutsche Literatur von Dichter*innen zu verbreiten, die ursprünglich nicht aus Deutschland kamen oder mit einer nicht-deutschen Sprache aufgewachsen waren.

Warum dann May Ayim?

Ich hatte May Ayim 1990 in Berlin über Dagmar Schultz kennengelernt, die zu der Zeit Leiterin des Orlanda Frauenverlags war. Dagmar Schultz veranstaltete ein Treffen von deutschen Schriftstellerinnen aus beiden Teilen des gerade wiedervereinten Deutschlands mit ausländischen Schriftstellerinnen wie mir, die in Berlin lebten. Unter dem Eindruck jener Multipluralität von Sprachen organisierten wir 1991 das Symposium „Vaterland: Muttersprache?“. Ich sage „Multipluralität von Sprachen“, denn „Deutsch“ ist nicht gleich „Deutsch“. Es kommt darauf an, wer in dieser Sprache schreibt, welchen historischen Hintergrund er oder sie hat, aus welchen Zusammenhängen er oder sie stammt. Das Symposium war eine einzige Feier der Vielseitigkeit der Sprache.

Wie kam es vom Kennenlernen zur Übersetzung?

Am 9. August 1996 – ich lebte gerade in Buenos Aires – erfuhr ich, dass May Ayim an diesem Tag ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Angesichts dieses tragischen Verlusts fasste ich den Entschluss, ihre Dichtung bekannt zu machen, und begann, sie ins Spanische zu übersetzen. Das war meine Art der Trauerarbeit. Bevor ich die Übersetzungen veröffentlichte, las ich sie bei verschiedenen Gelegenheiten vor. Ich nahm zum Beispiel an den „Tertulias“ (etwa: künstlerische Gespräche) des Café de Buenos Aires teil, ein ganz einzigartiger „Salon“. Dort trafen sich Dichter*innen verschiedener Generationen, Neueinsteiger*innen wie auch bekannte Autor*innen, um miteinander einen Kaffee und Poesie zu teilen. An einem 20. Juli, wenn in Argentinien traditionell der Tag der Freundschaft begangen wird, trafen wir uns auch in jenem Café und ich las May Ayims Gedicht „libertad artística“ („künstlerische freiheit“) vor. Für die Anwesenden war die Existenz einer deutschen Schwarzen Dichterin eine Offenbarung.

May Ayim schrieb intime Gedichte, Liebesgedichte (oder Gedichte über das Leiden an der Liebe oder an nicht erwiderter Liebe), aber sie schrieb auch kämpfe­rische, sozial engagierte Lyrik. Texte über Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, deren Hautfarbe nicht weiß ist, insbesondere über Afrodeutsche. Mit welcher Art von Dichtung konntest du mehr anfangen? Welche hast du zur Übersetzung ausgewählt? Welche war schwieriger zu übertragen?

Ich habe Texte aus ihren beiden Gedichtbänden „blues in schwarz weiss“ und „nachtgesang“ ausgewählt. Die Dichtung May Ayims hat eine sehr starke lyrische Komponente und beeindruckende ironische Kraft. Schon vom ersten Mal an, als ich sie hörte, faszinierte mich ihre Fähigkeit, aus der Sprache das Beste herauszukitzeln. Ich könnte dir nicht sagen, bei welchem ihrer beiden großen Themen es für mich schwieriger war, meine spanische Version zu entwickeln.

Auch wenn ein Teil von May Ayims Gedichten intime Themen umkreist, geht es ihr nie um Selbstdarstellung, vielmehr versucht sie, das Persönliche im Politischen zu verorten. Ist May Ayim darin eine Ausnahme, oder siehst du in ihrer Art zu schreiben ein typisches Merkmal aktueller Dichtung?

Die Dichtung hat schon immer viele Interpretations­möglichkeiten. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten die von Frauen geschriebene Dichtung als eine der radikalsten Formen der Lyrik herausgebildet. Sie sticht gerade durch die Vehemenz heraus, mit der sie sichtbar macht, wie intime gesellschaftliche Aspekte mit der Natur und der Politik verwoben sind. Für sie ist der Körper Protagonist und Zentrum der Szenerie, in ständiger Veränderung mit all seinen Stimmungen und Brüchen.

Würdest du die Gedichte May Ayims als politische Lyrik bezeichnen?

Ich bin versucht zu sagen: „Ja, ganz und gar.“ Aber da solche Bezeichnungen schon abgenutzt sind, würde ich eher sagen, dass es sich um eine Dichtung handelt, die die Diaspora und das Intime mit Leidenschaft und Klugheit ausdrückt, und mit dem Elixier, das in der Sprache steckt.

Die Gedichte der Serie „aus dem rahmen“ (wie auch andere) handeln vom Engagement May Ayims für Afrodeutsche, die etwa nur vor den Wahlen zu Diskussionsrunden eingeladen und angehört würden. In solchen Gedichten steckt Hass. In anderen Gedichten spiegelt sich die Traurigkeit der Waisen, scheinen Wunden und Schmerz auf. Sind das Themen für Lateinamerika?

In den Gedichten gibt es Bitterkeit, ja, aber keinen Hass. Und Re(s)sentiment. Ein Wort, das neuerdings von den Feminismen wiederentdeckt und neu besetzt wurde. Darin steckt das Verb re-sentir, also wieder-fühlen. Mehrmals fühlen, bis sich die Wunde schließt. Und sie heilt nur, wenn es Gerechtigkeit gibt. Verlassenwerden, Verlassensein und Diskriminierung sind universelle Wunden aus der Kindheit. Natürlich auch in Lateinamerika.

Noch konkreter gefragt: Was wäre, deiner Meinung nach, das Interesse an May Ayim in Lateinamerika? Wie wurden ihre Gedichte tatsächlich aufgenommen?

Zunächst einmal: Sie war eine Offenbarung, wie ich schon sagte. Eine deutsche Schwarze Dichterin…! Aber auch die Genauigkeit, die überzeugenden Bilder und gleichzeitig die Schönheit, mit der sie den Ort der Ausgeschlossenen und Besitzlosen beschreibt, den Rassismus… all das macht die Dichtung May Ayims so brisant und unverwechselbar. Ein paar Jahre nach meiner Übersetzung meldete sich die brasilianische Dichterin Jessica Oliveira bei mir, um May Ayim ins Portugiesische zu übersetzen.1

May Ayim seziert die phonetischen, grammatikalischen und semantischen Möglichkeiten der deutschen Sprache, um ihr doppelte und dreifache und unerwartete musikalische Qualitäten zu entlocken. Wie kann man so etwas übersetzen?

Die Musikalität ist genau das Besondere der Lyrik May Ayims. Das verbindet sie mit den lyrischen Merkmalen, die Poesie in ihren Anfängen hatte, als sie von der Lyra begleitet gesungen wurde. Wenn man die Gedichte auf Spanisch mit einem gewissen Rhythmus lesen kann, dann habe ich es geschafft, so glaube ich, May Ayims Gedichte an die andere Sprache anzunähern.

Das von May Ayim benutzte Material ist die deutsche Sprache, aber sie führt neue Elemente in ihre Dichtung ein, wie etwa den Dub, einen vom Reggae inspirierten Sprechgesang aus der Karibik. Ihre Gedichte entfalten ihre Kraft, wenn sie gesprochen, rezitiert werden, statt nur still gelesen zu werden. Wie war es, das ins Spanische zu übertragen?

Man muss laut lesen, die Arbeit mitteilen, während man sie ausführt, um mit Sprechweisen und dem Hörerlebnis der anderen zu experimentieren. Das ist die Übersetzung eigentlich immer: eine Herausforderung für die eigene Sprache, und man muss dabei überzeugt sein, dass die Übersetzung nie ganz fertig ist. Man kann sie immer noch verbessern.

May Ayim ist eine Frau. Meinst du, dass man das über die Themenwahl hinaus merkt?

Sie ist weiblich, deutsch, afrikanisch. Ihr Schreiben versteckt das nicht. Es sind die offenen Adern ihrer Poesie.

Das Interview führte Gaby Küppers schriftlich im November 2023.