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Missa Digger und Miss K. Stanislaus

Krimi dekolonial: „Shadowman“ des anglo-grenadinischen Autors Jacob Ross
Gaby Küppers

In der Literatursendung Page Turners+ des aus Jamaika in die umliegenden Inseln ausgestrahlten Senders IKTV Channel 112, sitzen regelmäßig drei bis fünf karibische Literaturkenner*innen bei Moderator Rol-J Williams, um neue Bücher aus der Region zu besprechen. Am Ende wird üblicherweise „geratet“. Im August 2022 gaben zwei der Diskutierenden dem 2020 erschienenen Krimi „Black Rain Falling“ (dt. „Shadowman“, 2023) des in England lebenden Grenadiners Jacob Ross fünf von fünf möglichen Punkten. Zwei beließen es vorsichtshalber bei 4,5 Punkten, damit für den nächsten Krimi noch Luft nach oben bliebe. Einer steigerte auf 4,75 und eine veranschlagte 5 für Ross‘ Vorgängerkrimi „Der Knochenleser“ (siehe ila 408 und ila 458), weswegen sie für den neuen Krimi nur noch vier Punkte übrig hatte. Noch spannender als diese Spitzenbewertung war eine Bemerkung der zugeschalteten Expertin aus Trinidad & Tobago: „ Egal, wie Leute von draußen (sprich die von außerhalb der Karibik) den Roman lesen, wir sehen ihn mit unserer Linse. Das ist unser Roman, so reden wir, so sind wir.“1

Es habe lange so gut wie keinen Krimi aus der anglophonen Karibik gegeben, sagte Jacob Ross in einem Interview desselben Senders. Das habe ihn, den Romanschriftsteller, bewogen, mit „Der Knochenleser“ (engl. 2016) in dieses Genre vorzudringen. Und die Gattung gehörig zu dekolonialisieren, möchte man hinzufügen.

Auch Jacob Ross‘ zweiter Krimi spielt wieder auf der fiktiven Karibikinsel Camaho. Aus „Der Knochenleser“ wissen wir schon, es handelt sich um Grenada. Wieder treffen wir auf das ebenso skurrile wie unzertrennliche ermittelnde Paar Michael Digson, genannt Digger, und Miss K. Stanislaus. Beide wurden sozusagen wider Willen von einem absonderlichen Headhunter, dem eigentlich pensionierten DS Chilman, in der Wache von St. Andrews, wie Grenadas Hauptstadt St. George‘s hier heißt, untergebracht. Denn beide mögen die Polizei eigentlich nicht, „legal“ und „fair“ stehen für sie zu oft im Widerspruch. Aber Chilman hat eine Spürnase für integre Querdenker*innen (im unbelasteten Wortsinn). Zwischen den etwa gleichaltrigen Endzwanzigern knistert auch im neuen Roman erotische Spannung. In ein sexuelles Verhältnis, wie es das Kopfkino mancher Lesenden sicher wünschte, entlädt sie sich jedoch nie. Digger und Miss Stanislaus sind gegen Knistergeräusche wie gegen derartiges Kopfkino offenbar immun. Die Krimihandlung ist nicht schnell erzählt. Verwicklungen, falsche Fährten, Intrigen, Fallen machen schließlich die Gattung aus. So viel sei dennoch verraten: Polizist Digger macht sich unbeliebt, als er einen Kollegen wegen Mord durch Überfahren in trunkenem Zustand verhaftet; ein Mord führt zum nächsten; irgendwann erschießt Miss Stanislaus Juba Hurst, den Vater ihres Kindes, Ergebnis einer Vergewaltigung. Digger nimmt sich mit ihr gemeinsam vor, die sechs Wochen bis zum Prozess zu nutzen, um Juba als Mörder und Verbrecher zu enttarnen, Miss Stanislaus‘ Notwehr zu beweisen und sie damit zu entlasten. Die Suche nach Beweisen bringt sie auf die Spur eines international operierenden Drogenrings. Wer jetzt zu wissen meint, wie die Geschichte ausgeht, sollte doch besser den Roman lesen. Denn das Ende ist nicht absehbar.

Dass ein Paar ermittelt, ist der Krimigattung nicht fremd. Gängig sind hierarchische Paare, von Sherlock Holmes und Dr. Watson bis zu Columbo und seinem Hund. Bei Digger und Miss Stanislaus wäre die Mann-Frau-Geschlechterhierarchie oder, in karikierender Absicht, deren Umkehrung dem herrschenden Denken nach „natürlich“. Aber genau diese Erwartungshaltung wird dekonstruiert. Digger ist kein potenzstrotzender, hypersexueller Bulle, auch kein einsam kombinierender Einzelgänger, sondern hat eine Geliebte, Dessie. Zur Aufklärung von Fällen verbindet er intuitive Intelligenz mit in London erlerntem forensischem Wissen, also die tradierte Weisheit seiner Großmutter mit der Technik der Industriegesellschaft. Eine Schusswaffe will er partout nicht tragen. Zur Selbstverteidigung lässt er einen Ledergürtel knallen wie die Alten in Camaho, mit schmerzhaften, aber nicht tödlichen Folgen. Er liebt Land, Landschaft und Leute. Miss Stanislaus dagegen liebt ihren Revolver wie eine Westernheldin, schießt scharf und steckt den rauchenden Colt danach zurück in ihr schickes Handtäschchen, den Knauf griffbereit nach oben.

Es ist, als hole Jacob Ross die Schablonen von Action und Western hervor, um sie gleich darauf verschmitzt zu demontieren. Man schmunzelt, und man mag die beiden Held*innen (ja, das sind sie irgendwie) mit all ihren Unzulänglichkeiten und Verletzlichkeiten. Ross‘ Krimi schafft eine unmögliche Gratwanderung: Die zwei Protagonist*innen sind immer die good guys, man möchte mit ihnen befreundet sein und traut ihnen stets zu, den Fall schon irgendwie zu lösen, ohne dass es irgendwie klamaukig wird. Beide haben eine sehr gespannte Beziehung zum Vater, der in der Kindheit abwesend war, sind in gewissem Sinne vaterlos, was den Mehrheitsgesellschaften in der Karibik entspricht. Doch sie kommen keineswegs aus dem Nichts, beide haben eine Vergangenheit, zu der sie stehen, auch wenn sie unter ihr leiden. Diggers arme, alleinerziehende Mutter wurde nach einer Demo gegen sexualisierte Gewalt erschossen. Digger wirft dem Vater, Camahos Polizeichef, vor, mit dem Mord an seiner heimlichen Geliebten zu tun zu haben. Miss Stanislaus hasst ihren Vater, DC Chilman, da er sie auf einer Nebeninsel zurückließ. Ihre Familie weist ebenfalls ungelöste Todesfälle auf. Klar, dass die Kinder solche Väter ablehnen.

Was dennoch alle verbindet: sie sind Schwarz. Gute wie Böse. So wird auch kein Topos umgekehrt, sondern zerlegt. Die Schwarze Miss Stanislaus erschießt den Schwarzen Juba Hurst. Er ist verwandt mit anderen Inselbewohner*innen, aber seine Beschreibung bleibt im Vagen, er sieht „irgendwie unmenschlich“ aus. Er ist Seemann, aber mag kein Wasser. Stereotype werden nicht um-, sondern weggedreht. Oder als Funktionen von Rassismus und Kolonialismus demaskiert. Dessies Ehemann Luther Caine ist recht hellhäutig. Also wird ihm von vielen per se Reichtum und ein luxuriöser Lebensstill zugeschrieben, den er sich entsprechend irgendwie aneignen muss. Also ist dieser Denkweise nach zu entschuldigen, dass er korrupt ist, schließlich habe so einer, der aussieht wie er, ein Recht auf Geld. Digger dagegen findet Hautschattierungen völlig unerheblich, denn schließlich „… sind wir allesamt auf einem Schiff hierhergekommen, soweit ich weiß, und das war keine Passage erster Klasse“, (S. 345), schleudert Digger Dessies Mutter entgegen, als diese den bourgeoisen Dünkel ihres Mannes, der Luther Caine Digger vorzieht, verteidigen will.

Eine gewalttätige, unterdrückende Gesellschaft wird da beschrieben. Die Ausdehnung der Drogenökonomie in jüngster Zeit macht die Situation nur noch schlimmer, sie mehrt Verbrechen. Dennoch wird sie von Camahos Gesellschaft toleriert, weil sie, sagt Polizeikommissar Chilman im Krimi, neben dem (im Roman nicht vorkommenden) Tourismus Haupteinnahmequelle des Landes ist. Trotzdem und deswegen sind die Ordnungshüter Camahos nicht wirklich erbaut, dass Digger und Miss Stanislaus in Richtung Kokainproduktion und -handel ermitteln. Und auch, weil sie das nicht als Hilfsagent*innen der US-amerikanischen Drogenfahndung machen. Die Karibik emanzipiert sich?

Es wird Zeit, meinen einige der Romanfiguren. Die karibische Gesellschaft sei schon auf Gewalt gegründet, fügt Romanautor Jacob Ross im Interview an. Die aus Afrika importierten Sklav*innen hätten sich für die Profitinteressen europäischer Ökonomien zu Tode schuften müssen. Die karibischen Gesellschaften hätten aus dieser Erfahrung heraus Gewalt als Lösungsmethode internalisiert. „Wir haben nie zu verhandeln gelernt“, beklagt Ross. Das sei auch das Drama der gescheiterten Revolution 1983 gewesen. Die Führung der Regierungspartei hätte Meinungsunterschiede geregelt, indem sie den charismatischen Regierungschef Maurice Bishop erschossen. An drei, vier Stellen im Buch erinnert sich Digger an das blutige Ende der Revolution und die US-Invasion. Es sind längere Bewusstseinsströme, Gedanken beim Anblick von Orten, die nicht direkt mit der Handlung zu tun haben, vielleicht sogar von unkundigen Leser*innen unbemerkt übergangen werden. Jacob Ross, 1956 geboren, leitete in der Aufbruchsstimmung der frühen 80er-Jahre im revolutionären Erziehungsministerium eine Abteilung für kreatives Schreiben, dann folgte die Traumatisierung durch Mord und Invasion und seit 1984 das Exil in England.2

Seine Krimis, sagt Ross, sind auch ein Beitrag zur Überwindung der in Grenada spürbaren allgemeinen Verdrängung der gescheiterten Revolution und ein Weg in eine Gesellschaft, die sich aus Zwang und Gewalt befreit. Er ist damit ein karibischer Autor geblieben.

Sein fiktives Camaho ist für karibische Menschen ihre Insel mit ihrer Sprache, auch wenn das gesprochene Englisch ein fiktives ist, da dessen Verschriftlichung, anders als in der französischsprachigen Karibik, nicht kodifiziert ist. Das Krimigenre ermöglicht, in alle Gesellschaftsschichten einzudringen. Digger beherrscht alle Sprachregister, vom gepflegten Queens-English, das er mit Dessies Eltern parliert, bis zum anglophonen Creole, das er mit Miss Stanislaus‘ Verwandten spricht. Deren „Wortmassaker“, wie sie die Literaturkritiker*innen nannten und lachend als der eigenen Nachbarschaft exakt nachempfunden charakterisierten, berichtigt er nie. Denn es gibt kein gutes oder schlechtes Englisch, nur Varianten – für die die Übersetzerin Karin Diemerling wie schon in „Die Knochenleser“ kongeniale Übertragungen ins Deutsche gefunden hat.

Der Roman, das sollte noch gesagt werden, ist in der Ich-Form geschrieben – eine geniale Erzähltechnik für Ross‘ Absicht, den Krimi karibisch zu dekolonialisieren und vom Genreballast zu befreien. Digger ist radikal subjektiv, er entdeckt Verborgenes wie die alten Frauen, die er so schätzt, mit „emotionaler Geographie“ und „affektiver Kartographie“, so der Autor Peter Kalu.3 Bei Ross agieren „Pessohnen“, keine Vertreter*innen männlicher oder weiblicher Rollenmodelle. So betreten wir nicht einmal Miss Stanislaus‘ Wohnung, da sie Digger nie hineinbittet und der Ich-Sprecher entsprechend wörtlich „außen vor“ bleibt. Digger gibt wieder, was er von Miss Stanislaus sieht, wie sie mit ihren Schlussfolgerungen immer wieder entscheidende Wendungen der Geschichte anstößt. Aber wie sie innerlich bis dahin kommt, das bleibt offen.

Das furiose Finale spiegelt sich im englischen Titel „Black rain falling“. Der den deutschen Titel gebende „Shadowman“ spielt eine relativ untergeordnete Rolle und verschwindet lange vor Ende des Romans. Warum der Titel des Originals im Deutschen in einen faden englischen Begriff degenerierte, muss der Suhrkamp Verlag erklären. Wir warten indessen auf die nächsten Titel des angekündigten Camaho-Quartetts. „Am Ball bleiben wollen wir, Missa Digger“, ist Miss K. Stanislaus‘ letztes Wort. Unbedingt!