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Verlust der Freiheit im Elend

Rezension: „Die Stadt der Anderen“ von Patrícia Melo
Helmut Schaaf

Patrícia Melo, 1962 geboren, ist bisher vor allem durch ihre Kriminalromane bekannt geworden. Für ihren vierten Roman „Inferno“ wurde sie 2002 mit dem bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis, dem Prêmio Jabuti de Literatura, und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt ihrer Bücher stehen sozialkritische, manchmal kaum auszuhaltende Geschichten über Kriminalität und Gewalt im großstädtischen Brasilien.

Auch in ihrem neuesten Roman, „Die Stadt der Anderen“, geht es um die alltägliche Gewalt in einer Gesellschaft der Gegensätze und extremer Ungerechtigkeiten. Da gibt es zum einen die Welt der Superreichen in São Paulo mit luxuriösen Wohnanlagen, glitzernden Pools, kunstvollen Skulpturen und imposanten Toren, durch die es außer für Dienstbot*innen oder Security keinen Einlass gibt. Und dann gibt es die Welt derer, die den Reichtum möglich machen, allenfalls Reste abbekommen und eigentlich nicht gesehen werden. Genau diese „Miserablen“ rückt Melo schonungslos in den Fokus.

Da ist Seno Chacoy, ein Tankwagenfahrer, der aus seinem Tankwagen aus- und einsteigt „mit einem Gefühl, als würde eine Zange ihm die Eingeweide abklemmen. Der Grund dafür, sein Leistenbruch, pochte, als er zur Hinterseite des Fahrzeugs hinkte, pochte, während er mit dem Entriegeln des Schlauchs kämpfte, pochte, als er Wasser auf das Pflaster der Praça da Matriz und unter die Vordächer und Viadukte des Platzes im Zentrum von São Paulo spritzte, pochte, als er zurück in das Führerhaus des Lastwagens kletterte, und würde weiterpochen, wann immer er beschleunigte oder bremste, als wollte der Schmerz ihn an die Worte des Arztes im Gesundheitszentrum erinnern: Das ist ein Fall für den Chirurgen.“ Das wäre es auch, wenn er nicht wüsste, dass sein Job damit auch dahin wäre: „‚Sie haben den Typ entlassen, der hier geputzt hat, sie haben den Lagerverwalter entlassen, sie haben die Hauswirtschafterin entlassen, wenn ich Sie wäre, würde ich den Mund halten und weiterarbeiten.‘ Den guten Rat hatte ihm sein Vorgesetzter in der Firma gegeben, die für die Stadtverwaltung die Reinigung ausführte, als Chacoy die Möglichkeit einer Beurlaubung für die Operation ausgelotet hatte.“

Da ist Chilves, der Unterschlupf findet auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben. „Wie jeder Junge, der auf der Straße lebte, hatte er ein paar Mal Essen geklaut. Lebte so, wie man ihn leben ließ. Aber die guten, organisierten, die sauberen, neuen, gefalteten und duftenden Dinge, die Schulen, die Banken, die Häuser, die Wohnungen, die bunten Autos, die weißen Laken, das warme Wasser und die Seifen, nichts davon war für ihn, dachte Chilves. Er hatte das irrwitzige Verlangen, in die Welt dieser Menschen einzutreten. Ihr Leben zu kosten, an diesem Leben zu lecken, sich den Bauch damit vollzuschlagen. Es zu benutzen. Die Hand reinzustecken. Reinzubeißen, es mit den Zähnen zu zerreißen. Er wollte diese Art von Dingen, von denen man träumt und dennoch weiß, dass sie nie eintreffen werden.“

Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner.

In diese Welt der schmutzig schillernden Metropole São Paulo führt uns Patrícia Melo im Wechsel zwischen dokumentarischen, poetischen oder lakonischen Passagen. Sie leuchtet aus, was Menschen und Menschlichkeit zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen ausmachen könnte. Geholfen haben ihr dabei die Berichte einer ehemaligen Obdachlosen und Menschenrechtsaktivistin. Ebenfalls von grundlegender Bedeutung für die Entstehung dieses Buches war ein Hausbesetzungsprojekt, um zu erleben, wie es mithilfe eines Netzwerks von Ehrenamtlichen und Aktivisten organisiert wird.

Wohl mehr als ein Sachbuch über all das, was wir zu wissen glauben, geht der Roman unter die Haut. Man mag der Autorin gerne glauben, dass das Schreiben dieses Buches schwieriger und schmerzvoller war als das anderer. Das sei nicht nur wegen des Themas so gewesen, bei dem es um den Verlust der Freiheit geht, den das Elend mit sich bringt, sondern auch, weil sie dabei mit der aktuellen brasilianischen Tragödie auf ihrem (vorläufigen) Höhepunkt konfrontiert war, schreibt Melo in einem Nachwort. Dadurch waren Tausende Menschen gezwungen, schutzlos auf der Straße zu leben, nachdem sie ihre Arbeit, ihr Haus und ihren gesamten Besitz verloren haben. Ohne die Hilfe und Mitwirkung so vieler lieber Menschen hätte die Autorin ihren Roman kaum beenden können.

Nun ist es vollbracht, dank der Übersetzerin Barbara Mesquita hervorragend ins Deutsche gebracht und im engagierten „Unionsverlag“ veröffentlicht. Dieser Roman verdient es, gelesen zu werden.

Weitere Artikel und Rezensionen zu der Autorin siehe ila 347 und ila 365.