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Haiti: Interview mit Ex-Abgeordnetenkandidat Richard Haspil

Wenn er liest, wie deutsche Medien über die jüngste Gewalteskalation in Haiti berichten, lacht Richard Haspil ein bisschen sarkastisch: Völlig ohne Kontext, stellt er fest. In Deutschland werde viel darüber geredet, wie die Bandenkriminalität aus dem Ruder geraten sei, aber kaum darüber, wie die internationale Gemeinschaft – auch die deutsche Regierung – selbst zu dieser Eskalation beigetragen haben. Ein Gespräch über Kontext.

Mirjana Jandik

Die deutschen Medien waren in den letzten Tagen voll mit Schlagzeilen aus Haiti. Was denkst du, wenn du diese Nachrichten siehst?

Die Nachrichten sind aus dem Zusammenhang gerissen. Man merkt, dass sie überhaupt keine Ahnung von der haitianischen Wirklichkeit haben. Wir müssen uns fragen, wie die deutsche Regierung zur aktuellen Lage in Haiti beigetragen hat. In den Jahren 2015 und 2016 war der deutsche Botschafter Klaus-Peter Schick Vorsitzender der sogenannten Core Group, einer Gruppe von Botschafter*innen, unter anderem aus den USA, Kanada, Mexiko, Frankreich und Deutschland, sowie von den Vereinten Nationen. De facto führen sie seit 2004 die Geschicke des Landes, sie bestimmten Präsidenten, Premierminister und Polizeichefs. Im Jahr 2015 haben sie Jovenel Moïse als Kandidaten aufgebaut. Der war überhaupt keine politische Führungsperson, sondern ein Unternehmer. Plötzlich hörte man überall, er investiere in eine große Bananenplantage. Bilder zirkulierten, wie diese Bananen den haitianischen Hafen verließen, um nach Deutschland geschifft zu werden. So sollte bei der Bevölkerung Vertrauen aufgebaut werden. Moïse wurde als Retter inszeniert, aber das war eine Farce. Gegen ihn liefen Ermittlungen wegen Veruntreuung. Der Wahlausschuss ignorierte das, und man sah den deutschen Botschafter regelmäßig auf Veranstaltungen von Moïses Partei PHTK, er trug sogar ein Shirt in Parteifarben. Deswegen finde ich die Frage wichtig: Welches Interesse hatten die deutsche Regierung und die gesamte Core Group daran, diesen Kandidaten zu unterstützen?

Hätte es denn eine Alternative zu Moïse gegeben?

Ja. Es gab schon immer andere Parteien und politische Führungspersonen. Im Jahr 2015 gab es über 50 Präsident­schaftskandidaten. Mindestens zehn davon waren bekannter und beliebter als Moïse, trotzdem haben die Core Group und die Oligarchen die Kampagne von Moïse finanziell unterstützt. Es gibt aber auch Probleme innerhalb der Parteien: Sie sind intern nicht demokratisch strukturiert, Parteivorsitzende sind wie Könige, die alles bestimmen. Oft ist es so: Stirbt der Vorsitzende, stirbt die Partei. In meiner Zeit als Parteimitglied habe ich dafür gekämpft, das zu ändern.

Die Core Group hat also undemokratisch Präsident­schafts­kandidaten aufgebaut und unterstützt, die ihnen lieb waren?

Ja. Weder war Moïse ein demokratisch gewählter Präsident noch Michel Martelly fünf Jahre zuvor. Der war eigentlich auf dem dritten Platz gelandet, aber auf Druck der Core Group landete er plötzlich auf dem ersten. Und hier kommen die kriminellen Banden ins Spiel. In der Hauptstadt Port-au-Prince gibt es eine Menge populare Stadtviertel, manche nennen sie Ghettos, die von Banden kontrolliert werden. In diesen Vierteln wohnen jeweils bis zu 200 000 Menschen. Gewählt wird in Haiti in Wahllokalen, die aber natürlich auch von den Gangs kontrolliert werden. Danach kommen die Stimmzettel zu einer zentralen Auszählstelle, die von der UN koordiniert wird. Da haben sie dann 2010 gesagt, bestimmte Wahllokale könne man nicht zählen, weil die Banden irgendwas gemacht hätten. Und so rutschte Martelly vom dritten auf den ersten Platz. Es ist eine gängige Strategie. Die andere ist die Angst, die die Banden im Vorfeld von Wahlen schüren. Kurz bevor 2019 die Wahlen stattfinden sollten, gab es ein Massaker im Stadtviertel Bel Air, bei dem der Bandenchef Jimmy Chérizier alias Barbecue, über den gerade alle reden, eine wichtige Rolle spielte. Mindestens 80 Menschen kamen bei dem Massaker ums Leben. So etwas schafft ein Klima der Angst und führt dazu, dass die Menschen nicht wählen gehen.1

Du meinst, die Banden haben sogar einen strategischen Nutzen für die Core Group? Aber wozu?

Ich denke, es geht der internationalen Gemeinschaft da­rum, die haitianische Verfassung zu ändern. Dabei geht es um den Zugriff auf billige Arbeitskräfte, zum Beispiel in der Textilindustrie. Die haitianische Verfassung erlaubt es multinationalen Konzernen nicht, Land zu besitzen. Die Verfassung gibt außerdem dem Parlament die volle Kontrolle über die mineralischen Ressourcen des Landes. Im Norden wurden Goldreserven im geschätzten Wert von 20 Milliarden US-Dollar gefunden, und Kanada hat großes Interesse an der Förderung. Dafür müsste aber die Verfassung geändert werden.

Und dann hat man einen Präsidenten wie Moïse, der dafür wirbt, die Verfassung zu ändern. Ohne funktionierendes Parlament und Justiz hätte er das quasi im Alleingang machen können.2

Wir müssen aber auch über die Interessen der haitianischen Oligarchen sprechen. 95 Prozent der haitianischen Wirtschaft und der Zoll werden von ihnen kontrolliert, und sie lassen ihre Geschäfte von den Banden beschützen, wie Mafias. Gleichzeitig nutzen sie die Immunität als Honorarkonsule, um weder Steuern zu zahlen noch von der Justiz belangt zu werden. Jovenel Moïse hat dem Oligarchen André Apaid riesige Landflächen im Zentrum des Landes übertragen, um dort Stevia für Coca-Cola zu produzieren.

Und dann gibt es Verflechtungen zwischen der Politik und dem Drogenhandel. Die Immunität als Abgeordneter gibt dir die Möglichkeit, im internationalen Drogengeschäft mitzumachen und viel Geld zu verdienen. Haiti ist eine Zwischenstation zwischen Kolumbien und der Dominikanischen Republik beziehungsweise den USA. Während Martellys Regierung war das gang und gäbe, aber auch Moïse hat das verstanden. Und wer zu viel Macht bekommt, wird gefährlich.

Sprechen wir zum Schluss über die geplante Polizeimission, die Kenia anführen soll. Ich nehme an, du hältst es nicht für besonders glaubwürdig, dass sie die Bandenkriminalität bekämpfen wird?

Wir Haitianer*innen glauben nicht, dass die internationale Mission einen effektiven Kampf gegen die Banden führen kann. Wir glauben, dass wir das selbst lösen können. Die USA müssten das Waffenembargo gegen Haiti aufheben. Die haitianische Armee braucht Waffen und technische Unterstützung, um die Banden bekämpfen zu können. Das heißt nicht, dass wir keine internationale Hilfe mehr brauchen. Aber wir brauchen eben nicht diese Art von Hilfe, Polizist*innen zu schicken, die kein Kreyòl sprechen, nicht einmal Französisch. Wir haben genug Erfahrungen mit internationalen Kräften. Sie stützen letztlich nur die bürgerliche, durchweg hellere Klasse, und das verstärkt deren rassistisches Handeln gegenüber der hauptsächlich dunklen armen Bevölkerung. Mit der internationalen Präsenz gibt es eine neue solvente Klasse, und alle versuchen, ihr etwas zu verkaufen. So steigen die Immobilienpreise, Nahrungsmittel werden teurer. Den Profit daraus heimst vor allem die bürgerliche Klasse ein, der das Land gehört.

Außerdem glaubt niemand, dass die Kenianer*innen Seite an Seite mit der haitianischen Polizei kämpfen werden. Das beschränkt sich auf technische oder finanzielle Unterstützung, aber die, die ihr Leben geben, sind die haitianischen Polizist*innen. Wir glauben, die Lösung muss aus Haiti selbst kommen. Alle Organisationen der Zivilgesellschaft müssen daran beteiligt werden.

  • 1. Das haitianische Nationale Netzwerk zur Verteidigung der Menschenrechte (RNDDH) hat das Massaker von Bel Air und die Verflechtungen mit dem Staatsapparat aufgearbeitet. Der Report ist auf der Homepage zu finden: https://web.rnddh.org
  • 2. Präsident Jovenel Moïse wurde am 7. Juli 2021 ermordet. Seitdem war Ariel Henry Übergangspremierminister, bis er am 12. März 2024 nach der jüngsten Eskalation der Bandengewalt sein Amt niederlegte.

Das Interview führte Mirjana Jandik am 20. März 2024 via Zoom.