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Dingsda in Brasilien

Von Berlin nach Porto Alegre – Der Lebensweg des Humoristen Rideamus

„Der Vetter aus Dingsda“ ist eine der bekanntesten Operetten der deutschen Musikgeschichte. Während der Komponist Eduard Künnecke bis heute bekannt ist, kennt kaum jemand noch den Autor der Textvorlage, obwohl er bis Ende der Dreißiger zu den bekanntesten Berliner Autoren gehörte: Fritz Oliven alias Rideamus. Wie so viele jüdische KünstlerInnen wurde auch er nach 1933 aus dem deutschen Kulturbetrieb herausgedrängt und später weitgehend vergessen. Oliven und seiner Familie gelang 1939 die Flucht nach Porto Alegre, jener brasilianischen Großstadt, die wie keine andere durch deutsche AuswanderInnen geprägt ist.

Michael Korfmann

Unter den tausenden von jüdischen Flüchtlingen, die vor dem Holocaust nach Brasilien flohen, befand sich eine Reihe von SchriftstellerInnen, von denen sicherlich Stefan Zweig der bekannteste war. Ein weiterer, zumindest im Berlin der 20er Jahre sehr berümter Autor war Rideamus oder Fritz Oliven mit bürgerlichem Namen, verstorben 1956 im südbrasilianischen Porto Alegre, wo er 1939 vor der Judenverfolgung Zuflucht gefunden hatte. Er schrieb auflagenträchtige humoristische Versbücher wie „Berliner Bälle“ (1904), illustriert von bekannten Künstlern der Zeit, die von professionellen Rezitatoren auf den Varieté-Bühnen Berlins und anderswo vorgetragen wurden. Als Librettist verfasste er zusammen mit dem Komponisten Oscar Straus so bekannte und auch heute weiterhin aufgeführte Musikstücke wie „Die lustigen Nibelungen“ (1904), aus der Arbeit mit dem Musiker Eduard Künnecke entstand die weltweit aufgeführte Operette „Der Vetter aus Dingsda“ (1921). In Zusammenarbeit mit Kollo, Wolff und Haller entstanden Lieder wie „Mit dir möcht’ ich am Sonntag angeln geh’n“, gesungen u.a. von Marlene Dietrich. Und auch der bekannte Spruch „Berlin bleibt doch Berlin“ ist ein Auszug aus einem seiner Lieder – „So lang noch unter’n Linden die alten Bäume blüh’n“ –, ursprünglich geschrieben für die Haller-Revue „Drunter und Drüber“ (1923), eine der vielen Produktionen der 20er Jahre, an denen Rideamus mitwirkte.

Geboren wurde Fritz Oliven 1874 im damaligen Breslau. Mit dreizehn Jahren wurde er zum Schulbesuch nach Berlin geschickt, die Familie folgte bald. Sein Wunsch, Schriftsteller zu werden, stieß bei seinen Eltern auf wenig Verständnis, so dass er frühzeitig unter dem programmatischen Pseudonym Rideamus – Lasst uns lachen – veröffentlichte. Obwohl er sein Jura-Studium abschloss und 1895 in Leipzig promovierte, beschränkte sich seine Tätigkeit als Jurist auf einige wenige Fälle als Pflichtverteidiger, und die Hauptaufgabe seines Bürovorstehers bestand im Ausschneiden und Einkleben von Zeitungsrezensionen der veröffentlichten oder aufgeführten Werke. Die Mappen mit den gesammelten Kritiken befinden sich noch heute im Besitz der Familie Oliven in Porto Alegre. Aufgrund des schnellen literarischen Erfolges – das humoristische Versbuch „Willis Werdegang“ (1902) etwa wurde zum Bestseller – konnte sich Rideamus bald ganz der schriftstellerischen Arbeit hingeben. Im Überbrettl, dem ersten literarischen Kabarett Berlins, 1901 von Ernst von Wolzogen nach dem Vorbild des Pariser chat noir gegründet und auch kurzzeitig Arbeitsstätte von Arnold Schönberg, traf Rideamus dann auf den Komponisten Oscar Straus, der dort als Kapellmeister tätig war. Aus der Zusammenarbeit entstanden Operetten wie „Hugdietrichs Brautfahrt“ oder „Die lustigen Nibelungen“, deren Inszenierung in Graz schon 1906 zu so heftigen Protesten von rechtsgesinnten Gruppen, die dem Stück eine Verunglimpfung des traditionsreichen Nibelungen-Stoffes vorwarfen, führte, dass es abgesetzt wurde. In den zwanziger Jahren schrieb Rideamus zusammen mit Hermann Haller, Willi Wolff (Text) und Walter Kollo (Musik) zudem sehr erfolgreiche Stücke für die Haller-Revuen im Admirals-Palast an der Friedrichstraße. 1926 wurde er Präsident des Bundes deutscher Liedermacher und war von 1926 bis zur Machtübernahme Hitlers 1933 im Vorstand der GEMA.

Als sich die Familie Oliven im Jahre 1939 aufgrund der zunehmenden Gefährdung und Verfolgung durch die Nazis zur Flucht gezwungen sah, erhielt sie vom uruguayischen Konsulat in Frankfurt/M. ein Visum für das südamerikanische Land. Der Haushalt wurde aufgelöst und das Gepäck nach Bordeaux geschickt, wo man mit dem Schiff die Reise fortsetzen wollte. Kurz vor der Abreise wurde jedoch bekannt, dass das Auswärtige Amt Uruguays den Auslandsvertretungen untersagt habe, neue Visa zu erteilen und dass die schon ausgestellten Dokumente ihre Gültigkeit verloren hätten, so dass die Behörden in Uruguay Reisenden bei Ankunft im Landeshafen den Zugang verweigern würden. Da die Olivens ihre Schiffspassagen über eine Reiseagentur in Berlin mit Filiale in Paris erworben hatten, entschloss man sich, auf jeden Fall Deutschland zu verlassen und in die französische Hauptstadt zu reisen. Von einer Angestellten dieser Firma erfuhren sie dann, dass in Marseille ein brasilianisches Konsulat noch Visa erteile, woraufhin Frau Oliven noch in derselben Nacht mit dem Zug nach Südfrankreich fuhr und auch tatsächlich vom dortigen Konsul ein 90-Tage-Visum für die Familienangehörigen bekam, übrigens ohne einen damals von vielen südamerikanischen Konsulatsbeamten geforderten Geld- oder Schmuckwert entrichten zu müssen. In Bezug auf Brasilien kam noch hinzu, dass das berüchtigte „circular secreta 1.127“ der Vargas-Regierung – das Einwanderungsverbot für alle Personen „semitischen“ Ursprungs –  zusätzlich die Erteilung von Visa drastisch einschränkte. Bei den Überlegungen hinsichtlich des zukünftigen Wohnortes fiel die Entscheidung auf Porto Alegre, weil sich dort schon der Sohn des besten Freundes von Fritz Oliven niedergelassen hatte. Es handelte sich dabei um Herbert Caro, der dann später zu einem der besten und bekanntesten Übersetzer deutscher Literatur ins Portugiesische wurde. So nahm die Familie Oliven 1939 dasselbe Schiff, das sie nach Uruguay bringen sollte, ging aber im brasilianischen Hafen von Rio Grande an Land, um dann weiter nach Porto Alegre zu reisen.
An eine Weiterführung der bisherigen literarischen Arbeit in Brasilien war aus verständlichen Gründen nicht zu denken. Unter dem Titel „Ein heiteres Leben / erzählt von Rideamus“ erschien 1951 das einziges Prosawerk des Autors, seine letzte Veröffentlichung. Wie schon der Titel anzeigt, handelt es sich um einen literarisch aufgearbeiteten Lebensrückblick ganz im Sinne seines Pseudonyms. Auch die widrigen Umstände des Exils konnten die Programmatik seiner literarischen Arbeit nicht grundlegend verdrängen, wie etwa die folgenden, typisch selbstironischen Zeilen aus dem Vorwort belegen. „Lachen ensteht, wenn man etwas Mangelhaftes und Unvollkommenes aus einem schiefen Gesichtswinkel sieht. In der Beziehung kann ich Sie beruhigen. Denn alles, was ich hier aufgeschrieben habe, mein ganzes Leben überhaupt, ist so mangelhaft und unvollkommen, wie Sie nur wünschen können, und mein Gesichtswinkel der denkbar schiefste.“ Auch das Vorurteil, seine Vers-Literatur sei „leichtfertig“, macht sich der Autor humoristisch zu eigen, wenn er über seine Arbeitsweise folgendes schreibt: „Ich hatte ein Stück geschrieben. In Versen. In gereimten Versen. Weil das am einfachsten ist. Man braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen über Handlung, Charakteristik und Aufbau. Das besorgt alles der Reim.“ Ein Beispiel: „Ich war von der Zeile ausgegangen ,Der König saß auf seinem Thron.’ Daraus ergab sich zwangsläufig: ,Und ihm zur Seite saß sein Sohn.’ Und noch ein Ratschlag: Wenn man den Text fertig hat, soll man nachsehen, ob irgendein Gedanke mehrmals darin vorkommt. Den bringt man dann in einen besonders schönen Reim und setzt ihn an den Schluß des Stückes. Dann halten die Leute es für ,symbolisch’, und alles ist zufrieden.“ Rideamus verstarb am 30. 6. 1956 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Porto Alegre beigesetzt.

P.S. Eine Enkeltochter von Rideamus ist in Porto Alegre übrigens mit Moacyr Scliar, einem der bekanntesten und dem vielleicht humorvollsten brasilianischen Schriftsteller, verheiratet.