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Festnahmen und Repression bei VW do Brasil

Ehemalige ArbeiterInnen kämpfen um Anerkennung und Wiedergutmachung

Nachdem der deutsche Autobauer bereits durch den Abgasskandal 2015 einen großen Prestigeverlust erlitt, musste VW sich zeitgleich auch noch mit den Vorwürfen gegen den Tochterkonzern in Brasilien herumschlagen. Dort wurden Vorwürfe laut, dass das Unternehmen während der Diktatur von 1964 bis 1985 mit dem Militärregime zusammengearbeitet habe. Ehemalige Arbeiter fordern Aufarbeitung und Entschädigung.

Laura Burzywoda

„Es war gegen 23 Uhr. Ich war bei der Arbeit und dann kamen da zwei Typen mit Maschinenpistole. Die drückten sie mir in den Rücken und legten mir sofort Handschellen an“1, berichtet Lúcio Bellentani, der 1972 auf dem Werksgelände von VW do Brasil festgenommen wurde. Er musste seine Geschichte schon vielfach wiederholen, seit im Rahmen der Nachforschungen der Wahrheitskommission ein Auge auf die Beteiligung verschiedener Unternehmen in der brasilianischen Diktatur geworfen wurde.

Im Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission, der 2014 nach nur zwei Jahren Ermittlungen eingereicht wurde, konnten lediglich dringende Hinweise darauf festgestellt werden, dass zahlreiche nationale und transnationale Unternehmen einen nicht unerheblichen Beitrag zur Durchführung des Militärputsches im Jahr 1964 geleistet und auch in der darauf folgenden 21-jährigen Diktatur mit den staatlichen Repressionsorganen zusammengearbeitet haben. Um dem Ausmaß dieser Kooperation genauer auf den Grund zu gehen, schlossen sich nach Beendigung der Wahrheitskommission ehemalige Mitglieder, AkademikerInnen und Betroffene zusammen. Als „Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“ (Fórum de Trabalhadores por Verdade, Justiça e Reparação) führten sie die Nachforschungen fort.

Die ersten Resultate dieser Arbeit sind mittlerweile zu erkennen. Das Arbeiterforum reichte am 22. September des vergangenen Jahres einen Antrag bei der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo ein mit dem Ziel, dass diese zivilrechtliche Ermittlungen gegen Volkswagen do Brasil einleitet. Der eingereichte Antrag umfasst Zeugenaussagen von ehemaligen Arbeitern sowie zahlreiche Archivdokumente, die nachweisen, dass es einen Austausch zwischen der Sicherheitsabteilung des Unternehmens und den staatlichen Sicherheitsapparaten gegeben hat.

„Dass VW nun das erste Unternehmen ist, gegen das wir vorgehen wollen, ist eigentlich nur Zufall“2, erklärt Gabriel Dayoub, Mitarbeiter des Arbeiterbildungszentrums IIEP (Intercâmbio, Informações, Estudos e Pesquisas). „Bei der Suche im Archiv trafen wir auf so viele Dokumente, die Volkswagen betrafen, dass es sich uns aufdrängte, dort anzufangen.“ Immer wieder verweist Dayoub aber darauf, dass die Liste der Unternehmen, die unter Verdacht stehen, mit der Diktatur kollaboriert zu haben, lang ist, darunter nationale wie Embraer, Petrobrás und die Metrô, aber auch transnationale wie Krupp, Philips, Fiat u.v.m.
Die Zusammenarbeit mit dem Militärregime soll bereits in der Vorbereitung des Putsches begonnen haben. Es gibt Nachweise, dass Unternehmen, vertreten durch den Industrieverband des Bundesstaates São Paulo (FIESP), den Militärputsch finanziell unterstützt und damit aller Wahrscheinlichkeit nach erst ermöglicht haben. „Wir sprechen von einer ,zivil-militärischen Diktatur‘, da wir den Begriff ‚Militärdiktatur‘ für irreführend halten. Nicht nur Militärs, sondern auch zivile Akteure waren maßgebend beteiligt“, so Dayoub.

Obwohl Lúcio Bellentani seine Leidensgeschichte schon in vielen Gesprächen, in Interviews mit brasilianischen und deutschen Journalisten sowie in den formellen Aussagen vor Wahrheitskommissionen und der Staatsanwaltschaft wiederholen musste, kann man ihm doch immer wieder ansehen, wie schmerzlich es ist, die Erinnerungen hervorzuholen und auszusprechen. Für ihn steht fest, dass Volkswagen mitschuldig für das ist, was er seit seiner Festnahme am 28. Juli 1972 durchmachen musste.

Nachdem er bereits in der Personalabteilung der Firma und unter Anwesenheit des unternehmensinternen Sicherheitspersonals erste Schläge und Tritte einstecken musste, wurde er in das Folterzentrum der Geheimpolizei DOPS (Departamento de Ordem Política e Social) gebracht, wo er 45 Tage ohne Kontakt nach außen festgehalten wurde. „Meine Frau ging jeden Tag zur Fabrik, um nach mir zu fragen. Dort sagten sie: ‚Wir wissen nicht, wo Ihr Mann ist.’ Erst als sie drohte, die Lebensversicherung vom Unternehmen zu fordern, gaben sie ihr den Tipp, im DOPS nach mir zu fragen.“

Während seines Aufenthalts im geheimen Gefängnis des DOPS wurde er regelmäßig gefoltert. „Dann ging es richtig los: pau-de-arara (Folter an der Papageienschaukel, Anm. d. Ü.), auf meinem Kopf, an den Händen, an den Füßen zerbrachen sie einige dieser Rohrstöcke, ich verlor etliche Zähne“, erinnert sich Bellentani. „Sie wussten, dass die Basis der Partei (Bellentani war Mitglied der PCB – Partido Comunista Brasileiro, Anm. d. A.) innerhalb von Volkswagen groß war, aber während dieser 45 Tage waren dort nur der, der mich verraten hatte, und ich, und er kannte die Organisation nicht als ganze, weil wir uns in kleinen Gruppen organisierten, und ich, nur ich, kannte sie alle.“

Die Bundesstaatsanwaltschaft hat derweil zivilrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Seit Dezember 2015 fanden mehrere Anhörungen von Zeugen statt, darunter die der betroffenen Ex-Arbeiter Lúcio Bellentani, Tarcísio Tadeu, José Sobrinho Brás, Expedito Soares, João Batista sowie der Witwe des ehemaligen VW-Angestellten Amauri Dagnoni. Die Zeugen bestätigten, dass in der Fabrik ein raues Arbeitsklima herrschte. Die ArbeiterInnen standen unter ständiger Beobachtung, wurden innerhalb und außerhalb der Fabrik überwacht und ausspioniert. Die Sicherheitsabteilung des Unternehmens sammelte Informationen zu den auffällig gewordenen Angestellten. Es gab Eingangskontrollen, um zu verhindern, dass ArbeiterInnen Flugblätter und Aufrufe zum Streik auf das Werksgelände brachten. Der Arbeitsrhythmus war besonders in den Jahren des brasilianischen „Wirtschaftswunders“ Anfang bis Mitte der 70er stark beschleunigt. Die ArbeiterInnen wurden zu Überstunden gedrängt und die Anzahl der Arbeitsunfälle stieg gewaltig. „Viele Arbeiter wurden unter dem Druck verrückt“, erzählt José Sobrinho Brás, der von 1974 bis 1991 bei VW angestellt war. Er berichtet, dass es auch zu einigen Selbstmorden unter den Arbeitern kam.

Die Zeugen berichten zudem, dass sie aufgrund von politischen Motiven gefeuert wurden, etwa weil sie unter Verdacht standen, sich innerhalb der Fabrik politisch zu organisieren oder weil sie in der Gewerkschaft aktiv waren. „Nach meiner Entlassung habe ich keine Anstellung mehr gefunden. Ich ging zu GM, Scania, Mercedes, Ford… nichts!“, berichtet Brás bei seiner Anhörung vor der Staatsanwaltschaft. Ähnliche Erfahrungen machten auch andere entlassene ArbeiterInnen.

Die Forscherin Milena Fonseca, derzeit Mitarbeiterin der städtischen Wahrheitskommission „Vladimir Herzog“ (in Erinnerung an den 1975 vom Regime ermordeten jüdischen Journalisten und Kommunisten – die Red.) von São Paulo, ist auf die Erklärung für diese Probleme gestoßen. Bei ihrer Suche nach Archivdokumenten, die Aufschluss über die Kollaboration der Unternehmen während der „bleiernen Jahre“ geben, fand sie sogenannte „schmutzige Listen“ in den Archiven des DOPS. In diesen Listen wurden Namen derjenigen ArbeiterInnen aufgeführt, die durch politisches Engagement „unangenehm“ aufgefallen waren. „Wie kann es sein, dass Informationen über Angestellte von VW in den Archiven des DOPS gelandet sind?“, fragt sich Fonseca. „Diese Listen umfassen nicht nur Namen und Adressen, sondern auch unternehmensinterne Informationen wie Personalnummern und den Arbeitssektor.“ Diese Listen wurden von den Unternehmen auch untereinander ausgetauscht, was zur Folge hatte, dass entlassene ArbeiterInnen nirgends eine neue Anstellung fanden.

Andere Dokumente belegen, dass es regelmäßige Treffen zwischen Vertretern der Sicherheitsabteilungen von Unternehmen und Repräsentanten von Militäreinheiten gab. In einem der Protokolle wird erläutert, dass dieses Treffen des „gemeinschaftlichen Sicherheitszentrums“ CECOSE (Centro Comunitário de Segurança do Vale do Paraíba), sich „zusammensetzt aus Elementen der Sicherheit und Information der großen Unternehmen der Region, davon hervorzuheben Avibras SA, Caterpillar SA, Confas SA, Embraer SA, Engesa SA, Rhodia SA, Ford SA, Ericson SA, F.N.V. SA, General Motors SA, Petrobras SA, Johnson SA, Kodak SA, Philips SA, Telesp SA, Villares SA, Volkswagen SA, Embrape SA, Vibasa SA, neben verschiedenen Einheiten des Militärs, des technischen Raumfahrtzentrums und der Militär-, Zivil- und Bundespolizei.“3

„In diesen Protokollen ist zu erkennen, dass Volkswagen eine besondere Position bei diesen Treffen eingenommen haben muss“, erklärt Fonseca zu dem Archivdokument. Das Protokoll umfasst kurze Zusammenfassungen der jeweiligen Unternehmen zu gewerkschaftlichen Aktivitäten, der Planung und Durchführung von Streiks. „Volkswagen ist das einzige Unternehmen, das einen mehrseitigen Anhang eingereicht hat, in dem in allen Details die politische Organisation der VW-Mitarbeiter beschrieben wird.“ Der übereifrige Beitrag von VW lässt darauf schließen, dass auch der Einwand, dass das Unternehmen zur Weiterreichung von Informationen gedrängt wurde, nicht ganz schlüssig ist.
Wie reagiert nun der Konzern auf die Vorwürfe? Diese Frage lässt sich so einfach nicht beantworten, so ist die Haltung von VW gegenüber den Vorkommnissen zumindest irritierend. Während einer der für den Fall verantwortlichen Staatsanwälte, Dr. Marlon Weichert, versichert, dass sich VW do Brasil kooperativ zeigt und Dokumente, die angefordert wurden, zur Verfügung gestellt hat4, sprechen die MitarbeiterIinnen des Arbeiterforums von einer „dreisten Verzögerungstaktik“. Von den sechs Aktenordnern, die das Unternehmen bei der Staatsanwaltschaft einreichte, betrafen lediglich zwei die Fabrik in São Bernardo, um die es in den Ermittlungen geht. „Und in den beiden Aktenordnern, die übrig sind, das sind Kopien von den Unterlagen, die wir in unserem Antrag an die Staatsanwaltschaft bereits eingereicht haben. Da sitzen die MitarbeiterInnen in der Staatsanwaltschaft nun Monate dran, die Dokumente miteinander abzugleichen“, entrüstet sich Gabriel Dayoub, „unter Mitwirkung bei den Ermittlungen verstehe ich etwas anderes!“5

Währenddessen zeigt der Mutterkonzern in Deutschland ein größeres Interesse an einer „Schlichtung“ und sandte bereits im März 2015 erstmalig seinen Chefhistoriker Dr. Manfred Grieger nach Brasilien, der bereits für die Aufarbeitung der Unternehmensvergangenheit im Bezug auf die Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus zuständig war. Vor wenigen Wochen wurde aber nun bekannt, dass dieser das Unternehmen verlasse, aufgrund von Uneinigkeiten bezüglich einer Studie über die NS-Vergangenheit des Autobauers Audi, die Grieger im August kritisiert hatte. Wie beim deutschen Konzern der Umgang mit dem Fall VW do Brasil nach dieser Trennung weitergeht, steht demnach völlig offen.

Auch inwiefern die neue politische Situation in Brasilien die laufenden Ermittlungen beeinflussen könnte, ist noch nicht im Einzelnen abzusehen. Es drängt sich allerdings sehr stark der Verdacht auf, dass das politische Interesse an der Aufarbeitung der Verbrechen der brasilianischen Diktatur, das ja bereits unter der Regierung der PT nicht gerade groß war, unter der De-Facto-Regierung Michel Temers (PMDB) und angesichts des Erstarkens der konservativen Kräfte, das sich auch bei den Kommunalwahlen Anfang Oktober zeigte, erheblich sinken wird.

Es bleibt die Hoffnung, zumindest ein kleines bisschen Gerechtigkeit erleben zu können. Lúcio Bellentani vertritt weiterhin seine bescheidene Forderung. „Es geht mir nicht um Vergeltung, nicht um Rache. Ich will nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt, dass Volkswagen, so wie andere Unternehmen, anerkennt, dass sie Mist gebaut haben und sich entschuldigen. Die Wahrheit über die Geschichte und den Kampf von uns Arbeitern soll endlich anerkannt werden.“

  • 1. Aussage von Lúcio Bellentani am 19. Juli 2012 vor der Wahrheitskommission „Vladimir Herzog“ der Stadt São Paulo (Übersetzung: Christian Russau)
  • 2. Gespräch am 14. November 2015
  • 3. Protokoll des Treffens der CECOSE am 6. Juli 1983, erstellt am 18. Juli 1983
  • 4. Interview mit Marlon Weichert am 11. Mai 2016
  • 5. Gespräch am 27. August 2016