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Schlag auf Schlag

Ausnahmezustand in El Salvador

„Einen Tag nach dem Blutbad, bei dem 62 Morde El Salvador erschütterten, begannen die Razzien. Noch vor dem Morgengrauen des 27. März 2022, eines Sonntags, wenige Stunden nachdem das Parlament den Ausnahmezustand beschlossen hatte, drangen schwerbewaffnete Polizisten und Soldaten in den dicht besiedelten und von Maras kontrollierten Stadtteil San José El Pino ein“, so die Presseagentur Associated Press in einem Lagebericht aus Santa Tecla, der Nachbarstadt von San Salvador. Mit den Razzien begannen die Festnahmen – innerhalb eines Monats sollen es nach offiziellen Angaben über 15 000 gewesen sein. Die Polizeibeamten müssen Quoten von fünf bis 30 Festnahmen am Tag erfüllen. Da Nuevas Ideas, die Partei von Präsident Nayib Bukele, im Parlament die absolute Mehrheit hat, konnte er im Abstand von wenigen Tagen weitere Verschärfungen abstimmen lassen.

Ulf Baumgärtner

Am 6. April 2022 wurde das Strafgesetzbuch El Salvadors um einen Artikel ergänzt, wonach das Bemalen von öffentlichen und privaten Gebäuden mit Graffiti mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann. Dieselbe Strafe droht allen, die in Medien aller Art, also auch in den sogenannten sozialen Netzwerken, über Maras berichten. Im selben Aufwasch und im selben Tenor wurde der Artikel 1 des Gesetzes über das Verbot von Maras reformiert. Diese Reformen werden inzwischen als Maulkorbgesetze bezeichnet. Die Untersuchungshaft, die bislang auf zwei Jahre beschränkt war, gilt nunmehr unbefristet. Das Strafmaß für Mara-Mitglieder wird auf bis zu 45 Jahre erhöht, bis zu zehn Jahre für Zwölfjährige und bis zu zwanzig Jahre für Sechzehnjährige. Eine Woche später schließlich beschloss das Parlament ein Sondergesetz zum Bau von Gefängnissen, da auf Grund des Ausnahmezustandes, der zunächst 30 Tage gelten sollte, und der Massenfestnahmen mit einer Erhöhung der Gefangenenzahl zu rechnen wäre.

Das US-amerikanische „Solidaritätskomitee mit dem Volk von El Salvador“ (Committee in Solidarity with the People of El Salvador, CISPES) veröffentlichte in einem Bericht von Anfang April einige Stellungnahmen aus El Salvador zu dieser Entwicklung. So wird zum Beispiel die Rechtsanwältin Zaira Navas, in der ersten FMLN-Regierung ab 2009 Polizeiinspektorin und anschließend bis 2020 Direktorin des „Nationalen Rates für Kinder und Jugendliche“, mit folgenden, in der Tageszeitung La Prensa Gráfica veröffentlichten Worten zitiert: „Wenn Polizisten und Soldaten ein Stadtviertel übernehmen und mit Gewalt in die Häuser eindringen, werden Kinder und Jugendliche terrorisiert. Das betrifft ihr physisches, psychisches und emotionales Wohlergehen und hat langfristige Folgen, denn sie werden sich immer wieder daran erinnern, wie Soldaten und Polizisten sie durchsucht, ihnen befohlen haben, das Hemd auszuziehen oder die Hosen herunterzulassen… In den wohlhabenden Vierteln gibt es diese staatlichen Rechtsverletzungen nicht. Wir werden auch nicht sehen, wie Soldaten und Polizisten Jugendliche, die auf private und internationale Schulen gehen, anhalten und durchsuchen. Polizeisperren, mit denen ganze Viertel abgeriegelt werden, haben wir weder in Santa Elena (Reichenviertel, A.d.Ü.) noch in den Gated Communities gesehen.“ Ebenfalls von CISPES zitiert wird COFAPPES, das „Komitee von Familienangehörigen der Politischen Gefangenen in El Salvador“, das nach der Verhaftung von Mitgliedern der vormaligen FMLN-Regierungen entstanden ist: „Mit großer Sorge sehen wir den Ausnahmezustand, der von Nayib Bukele ausgerufen wurde. Er setzt wichtige Verfassungsrechte außer Kraft und überlässt es der Willkür des Präsidenten, nicht der Rechtsprechung, nach Belieben alle verhaften zu lassen, die in Opposition zu seiner Regierung stehen.“

In einer Erklärung vom 7. April des „Blocks des Widerstandes und der Volksrebellion“ (Bloque de Resistencia y Rebeldía Popular), eines Zusammenschlusses, der nach der ersten großen Demonstration gegen die Bukele-Regierung am 15. September 2021 entstanden ist, heißt es: „Der Ausnahmezustand ist ein Instrument der Repression und der sozialen Kontrolle, das die in der Verfassung verbrieften Rechte auf Vereinigung und Versammlung, das Recht auf juristische Verteidigung und faire Verfahren, das Briefgeheimnis und den Schutz vor Abhörungen aufhebt und die Dauer des Polizeigewahrsams nach einer Festnahme verlängert (von 72 Stunden auf 15 Tage, A.d.Ü.). Er ist ein Werkzeug, um die Opposition, die sich gegen die Diktatur organisiert hat, zu kriminalisieren. Er trägt nichts dazu bei, die Welle der Morde zu stoppen. Der berühmte ‚Plan zur territorialen Kontrolle‘ ist nichts als Propaganda.“

Zu den Maulkorbgesetzen hat der Journalistenverband (Asociación de Periodistas de El Salvador, APES) am 6. April ein Kommuniqué veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt: „Die Pandillas (Maras, kriminelle Banden) nicht zu erwähnen, lässt sie keineswegs verschwinden. Die journalistische Arbeit hat wesentlich dazu beigetragen, die Aktivitäten der Pandillas, der kriminellen Gruppen, die das Land seit Jahrzehnten ausbluten, zu verstehen. Dank der Berichterstattung haben El Salvador und die ganze Welt erfahren, dass verschiedene salvadorianische Regierungen, einschließlich der jetzigen, mit den Pandillas paktiert haben.“ Zu solchen Verhandlungen und Absprachen hat der Direktor des „Monseñor-Romero-Zentrums“ der Jesuitenuniversität UCA, Rodolfo Cardenal, unter der Überschrift „Geisel der Pandillas“ am 31. März geschrieben: „Die Reaktion des Regimes (auf die Mordwelle am letzten Märzwochenende, A.d.Ü.) enthüllt das Wesen der Sicherheitskrise. Dank einer Absprache mit Bukele haben die Pandilleros bis vor Kurzem eine relative Freiheit genossen. Aus Gründen, die noch nicht bekannt sind, ist dieser Vertrag gebrochen worden, demzufolge die Banden die Mordrate drosselten, so dass sich der Präsident zum Erfolg seines ‚Plans zur territorialen Kontrolle‘ gratulieren konnte. Die plötzliche Zunahme der Morde hat ihn kalt erwischt. Orientierungslos, wütend und ohnmächtig hat Bukele eine Reihe von inkohärenten Befehlen erteilt. Den Pandilleros befahl er, ‚mit den Morden aufzuhören, oder ihr werdet dafür bezahlen. Wir nehmen euch alles ab, sogar die Matratzen, wir rationieren euer Essen und ihr werdet nicht mehr das Tageslicht sehen.‘ Den Chefs von Polizei und Militär befahl er, ‚die Polizeibeamten und Soldaten ihre Arbeit machen zu lassen und sie gegen die Anschuldigungen von jenen, die die Pandilleros schützen, zu verteidigen.‘ Mit anderen Worten: die Beamten und Soldaten sollen ohne Angst schießen um zu töten, denn sie werden Straffreiheit genießen. So wird die Drohung des obersten Gefängniswärters wahr, der die Pandilleros warnt: ‚Ihr werdet erst gar nicht mehr bis ins Gefängnis kommen.‘ Die Richter, ‚die die Verbrecher begünstigen‘, das heißt nach dem Buchstaben des Gesetzes richten, warnt Bukele, er werde sie nicht aus den Augen verlieren, weil die Justiz seiner Regierung demütigend und rachsüchtig ist. Die Pandillas haben mehr als erlaubt gemordet, um Druck auf Bukele auszuüben. Vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen, wie ein Abgeordneter insinuiert. Bukele hat seinerseits damit geantwortet, die Pandilleros in Freiheit zu verfolgen und die Bedingungen jener in den Gefängnissen weiter zu verschlechtern.“

In einem Fernsehinterview hat Mauricio Funes, der vormalige FMLN-Präsident, der in Nicaragua im Exil lebt, am 4. April die Ursachen der Mordwelle vom letzten Märzwochenende noch klarer benannt: Offensichtlich sind die Privilegien der Pandillas, nämlich den Drogeneinzelhandel zu kontrollieren und Schutzgelder zu erpressen (der Busunternehmer Catalino Miranda zahlt täglich für jeden Bus, den er laufen hat, 100 US-Dollar; bei 300 Bussen macht das 30 000 US-Dollar am Tag), zum Beispiel durch die Beschlagnahmung von größeren Drogenladungen geschmälert worden. Funes geht also auch von geheimen Abmachungen zwischen den Maras und der Bukele-Regierung aus und bemüht sich, davon den Waffenstillstand (Tregua) zu unterscheiden, den es zwischen Maras und Sicherheitskräften in den Jahren 2012/13, also in seiner Regierungszeit, gab. Von dieser Tregua habe er zwar gewusst, aber er habe sie nicht befohlen.

So viel zu den ersten 30 Tagen des am 27. März von Bukele befohlenen und vom Parlament beschlossenen Ausnahmezustandes. Am 24. April, pünktlich zum Ablauf der 30 Tage, teilte der Präsident, wie es seine Art ist, per Twitter mit: „In diesem Augenblick rufe ich den Ministerrat zusammen, damit er im Parlament die Verlängerung des Ausnahmezustandes um weitere 30 Tage beantrage.“ Noch am selben Tag gehorchte das Parlament in der schon gewohnten Weise und verabschiedete ein Gesetz, in dessen einleitenden Erwägungen es unter anderem heißt, dass die Ergebnisse der ersten 30 Tage Ausnahmezustand zwar durchschlagend seien, aber immer noch Bedingungen herrschten, die die Verlängerung des Ausnahmezustandes unabdingbar machten.