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Nicht einen Schritt zurück

Die Maya-Bevölkerung an der Spitze der Demokratiebewegung in Guatemala

Überraschender Sieger der Präsidentschaftswahlen in Guatemala war Dr. Bernardo Arévalo, Kandidat der relativ kleinen und jungen Partei Semilla, die aus der Bewegung 2015 zur Absetzung des korrupten Präsidentschafts-Tandems Otto Pérez Molina und Roxana Baldetti hervorgegangen ist. Die herrschende Clique aus bestechlichen und mit organisierter Kriminalität verbandelten Unternehmensdynastien, Armee-Granden sowie käuflichen Politiker*innen und Jurist*innen hatte eigentlich im Vorfeld diejenigen Kandidaturen aussortieren lassen, die einer Fortsetzung ihres Regimes im Wege hätten stehen können. Die sozialdemokratische Partei Semilla wurde dabei als irrelevant übersehen, da ihr Prognosen maximal drei Prozent zutrauten. Doch dann erreichte Arévalo mit 11,8 Prozent der Stimmen überraschend die Stichwahl, in der ihn am 20. August 58 Prozent der Wähler*innen, vor allem junge Menschen, müde von der schamlosen Ausbeutung von Land und Leuten, zum klaren Wahlsieger machten. Das Entsetzen des sogenannten „Paktes der Korrupten“ war groß, und schon am Abend des Wahlsonntags begann die Wühlarbeit, um den Amtsantritt des gewählten Präsidenten zu verhindern.

Danuta Sacher

Hauptinstrument für die Verhinderung des im Januar 2024 anstehenden Machtwechsels sind die Generalstaatsanwaltschaft des Landes und ihre Leiterin, Consuelo Porras. Nach Urteil des OAS-Generalsekretärs Luis Almagro, der stets ein Ohr für US-Interessen hat, verletzte sie in grober Weise die Gesetze des Landes, da sie sich seit dem ersten Wahldurchgang in die hoheitlichen Aufgaben des Obersten Wahlgerichts einmischte. Als sie schließlich die Konfiszierung von Wahlzetteln und Ergebnislisten anordnete, widersetzte sich das Oberste Wahlgericht zunächst erfolgreich, wurde aber Anfang Oktober im Wortsinne überwältigt. Starke Polizeieinheiten drangen in das Oberste Wahlgericht ein und entrissen weinenden Richter*innen versiegelte Kartons mit Original-Wahlunterlagen. Einige Richter*innen wurden dabei verletzt. Ein unerhörter Vorgang und gleichzeitig der Startschuss für die landesweite Bewegung zur Verteidigung des Wahlergebnisses.

Zentrale Forderungen sind die Respektierung des Wahlergebnisses und der Rücktritt der Generalstaatsanwältin Consuelo Porras, der Staatsanwälte Rafael Curruchiche und Cinthia Monterroso sowie des Richters Fredy Orellana. Initiatoren und koordinierende Instanz des Widerstands sind die sogenannten „Autoridades Ancestrales“, die Ehrwürdigen Maya-Autoritäten, insbesondere die 48 Maya-Sprecher*innen aus Totonicapán, einem regionalen Zentrum im westlichen Hochland. Gemeinsam mit den traditionellen Autoritäten aus Sololá, Chimaltenango, Chichicastenango und anderen Departements riefen sie Anfang Oktober zu landesweitem, gewaltfreiem Widerstand und Generalstreik auf. Jeden Tag ergriff die Mobilisierung mehr Menschen, sodass das Leben in der Hauptstadt und den städtischen Zentren in der Woche ab dem 9. Oktober weitgehend zum Erliegen kam. Die Märkte blieben geschlossen, ebenso die Schulen und die meisten Geschäfte. Zentrum des Widerstands war vom ersten Tag an das friedlich belagerte Hauptgebäude der Generalstaatsanwaltschaft im Zentrum der Hauptstadt. Hier gibt es täglich Kundgebungen, hier treffen täglich neue Delegationen aus dem Landesinneren ein, hier kommt der endlose Strom von Essens- und Wasserspenden an und wird weiter verteilt. Zeitweise bis zu 150 Straßenblockaden unterbrachen fast drei Wochen lang die wichtigsten Verkehrsadern innerhalb der Hauptstadt und im ganzen Land. Am 12. Oktober, Gedenktag der spanischen „Entdeckung“ und symbolischer Tag des Widerstands der indigenen Bevölkerung, erreichten die Aktivitäten einen Höhepunkt, und nach mehreren Aufschüben fand ein direktes Treffen zwischen dem amtierenden Präsidenten Giammattei und der Maya-Führung der Proteste statt, moderiert von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Zwar gab es keine konkreten Ergebnisse, aber die Anerkennung der Maya-Sprecher*innen als legitime Vertretung der landesweiten Demokratiebewegung war vollzogen, und die Dialogsituation half, Eskalationen zu vermeiden.

Nach dem unerwarteten Wahlausgang im August erlebte der Pakt der Korrupten nun seine zweite Überraschung. Die Mobilisierung bröckelte nicht wie üblich nach einigen Tagen ab, sondern stieg weiter an und hielt sich auf hohem Niveau. Hunderttausende im ganzen Land brachten Tag für Tag ihre Zeit ein und verzichteten auf ihre bescheidenen informellen Einkünfte, um die Blockaden aufrechtzuerhalten. Der Aufruf der Maya-Autoritäten zur Gewaltlosigkeit und zum Verzicht auf Gesichtsmasken wurde erstaunlich diszipliniert befolgt. Provokateure konnten an verschiedenen Stellen identifiziert und vertrieben werden. Auch ein Versuch, an zentralem Ort und zu mediengefälliger Zeit Randale zu produzieren, um einen Vorwand für Räumung und den Einsatz staatlicher Gewalt zu schaffen, scheiterte kläglich.

Die gewaltfreie Disziplin und ihre Beharrlichkeit brachte den Protestierenden viel Sympathie auch von ungewohnter Seite ein. So betonten fast alle jungen Reporter*innen der verschiedenen kommerziellen Fernsehsender diesen Aspekt der Aktionen, was manchmal nicht mit den denunzierenden Anmoderationen ihrer Studiochefs zusammenpasste. Auch unterstrichen wiederholt Offiziere der zivilen Nationalpolizei gerade diesen Aspekt. Der Dialog mit den einfachen Polizisten vor Ort war integraler Bestandteil der Blockaden. Wasser und Essen wurde ihnen angeboten, und sie wurden respektvoll behandelt – bis dahin, dass sie sich in die Gebete eingeschlossen sahen, mit denen die Maya-Autoritäten jeden Aktionstag beginnen.

„Die Revolution 1944 führten Studenten, Arbeiter und Offiziere an. Die heutige Revolution unserer Generationen treiben wir Seite an Seite mit der indigenen Bevölkerung und ihren Autoritäten voran, mit den Arbeiterinnen und Arbeitern aus Stadt und Land, die das produktive Herz des Landes sind, mit den Akademiker*innen, den Studierenden und allen Menschen, die sich danach sehnen, in unserem Land ihre Talente, ihre Kraft und Kreativität einzubringen“, sagte der gewählte Präsident Arévalo bei seiner Festrede zum 79. Jahrestag der Oktoberrevolution 1944. Er bedankte sich bei den Maya-Autoritäten für die Verteidigung der Demokratie des Landes und beschwor erneut den gewaltfreien Ansatz der Bewegung: „Es ist eine friedliche und demokratische Revolution. Eine Revolution ohne Engstirnigkeit oder Rachegelüste“, und die einzigen, die nicht in das gemeinsame Projekt eines Landes in Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand gehörten, seien die Korrupten, Gewalttätigen und Autoritären.

Von einem historischen Moment in Guatemala zu sprechen, ist wirklich nicht übertrieben. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes haben die Maya-Bevölkerung und ihre Sprecher*innen eine landesweite Bewegung in Gang gesetzt, die sich nicht nur auf spezifisch indigene Themen bezieht, sondern gerade auch auf grunddemokratische Anliegen der Gesamtbevölkerung, wie es die Verteidigung eines legitimen Wahlergebnisses und der Schutz der Verfassung sind – obwohl diese bis heute die Rechte der indigenen Völker nur mangelhaft abbildet. Das ist einfach nur großartig und ein Riesenschritt in Richtung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag, um der indigenen Bevölkerungsmehrheit endlich den ihr gebührenden Platz einzuräumen. Beeindruckend auch, wie die neue Führungsrolle der Maya respektvoll und selbstverständlich von der mehrheitlich mestizischen Bevölkerung in der Hauptstadt angenommen wird. Umso tollpatschiger wirkten die Versuche mancher Teile des Paktes der Korrupten, entlang der alten Diskriminierungslogiken zu spalten. „Sie ertragen nicht, dass die Demokratie ein Maya-Gesicht hat“, hieß es auf einem Plakat.

Ein wesentlicher Faktor für beide Erfolge, die Mobilisierung und die Akzeptanz, ist sicherlich die Logik der Territorialität, die hinter den Mobilisierungen der Maya-Bevölkerung erkennbar ist und bedeutet, dass Partizipation und Organisation sich weniger entlang politischer Affinitäten oder gar auf Parteien bezogen artikulieren. Vielmehr leiten sich das Recht, und durchaus auch die Pflicht, zur Mitwirkung von der Zugehörigkeit zu einem Lebensort ab. Entsprechend sind die Delegationen aus dem Landesinneren stets über den Herkunftsort definiert. Auch die Straßenblockaden wurden in der Regel durch die Anwohner*innen selbst organisiert. Eindrucksvoll die vielen Abstimmungen, die an den Blockadepunkten in direkter Demokratie praktiziert wurden. Dürfen die vier LKWs ausnahmsweise durch? Wird die Blockade von 22 Uhr bis 6 Uhr früh ausgesetzt? Für viele Beteiligte sicherlich die erste Erfahrung direkter Mitentscheidung.

Darüber hinausgehend könnte dieses territorial orientierte Organisationsprinzip als der entscheidende Faktor angenommen werden, der es ermöglichte, das tiefe Tal eines langandauernden politischen Vakuums zu überwinden. Denn seit einer ganzen Weile gab es keine fortschrittliche politische Kraft in Guatemala mit landesweitem Potenzial. Auch aussichtsreiche Allianzen oder Koalitionen waren nirgends sichtbar. Im Gegenteil traten die verschiedenen Gruppierungen möglichst mit eigener – oft recht aussichtsloser – Liste bei den Wahlen an. Es sei daran erinnert, welche Hoffnungslosigkeit inner- und außerhalb Guatemalas noch in diesem Frühjahr bezüglich der Präsidentschaftswahlen herrschte. Dass zunächst der Überraschungserfolg von Semilla und ihrem Präsidentschaftskandidaten gelang, war vor allem das kollektive Verdienst der jungen Wähler*innen. Dass dieser Wahlerfolg bisher erfolgreich verteidigt werden konnte, geschah insbesondere dank der Maya-Autoritäten und, wie gesagt, aufgrund des Prinzips der territorialen Mobilisierung, das elegant und wirkungsvoll die Defizite der politischen Parteienlandschaft wettmachen konnte.

Aus dem Leitungsteam des künftigen Präsidenten ist zu hören, dass die Selbstständigkeit der Bewegung zur Verteidigung des Wahlergebnisses authentisch ist und voll respektiert wird. Die Maya-Autoritäten hätten den gewählten Präsidenten darüber informiert, dass sie zur Verteidigung des Wahlergebnisses zu Generalstreik und Straßenblockaden aufrufen würden, mehr nicht. Stets unterstreichen die Maya-Sprecher*innen, dass sie keine Bewegung der oder für die Partei Semilla seien, sondern dass sie die Unantastbarkeit der abgegebenen Stimmen schützen. Auch das ist ein Novum in der guatemaltekischen Politik und dokumentiert das hohe politische Niveau der Bewegung von anderer Seite. Der künftige Präsident wird gut daran tun, die Organisations- und Aktionsformen der Maya-Völker sehr aufmerksam und achtungsvoll auf der nationalen Ebene zu berücksichtigen. Denn er wird sein Amt nur dank der Maya-Mobilisierung antreten können, wenn dies denn hoffentlich im Januar 2024 gelingt. Aber anders als seinerzeit in Bolivien ist diese Maya-Bewegung tatsächlich autonom und keine „Umsetzungstruppe“ des Präsidenten.

Der Oktober 2023 wird als historischer Moment in die guatemaltekische Geschichte eingehen – als zweiter demokratischer Frühling, als zweite Oktoberrevolution, als Beginn der Aushandlung eines neuen inklusiven Gesellschaftsvertrags. Es bleiben zweieinhalb Monate bis zum Amtsantritt des gewählten Präsidenten, d. h. etwa zehn Wochen Zeit für neue Manipulationen, Lügen, Rechtsbeugungen, Repression seitens des Paktes der Korrupten. Die bisherigen Anläufe, um den Sieg Arévalos zu annullieren, sind gescheitert. Die Rechtsverdrehungen und -brüche für dieses Ziel werden sicherlich in die Rechtsgeschichte eingehen. Auch Hinhaltetaktiken haben bisher nicht funktioniert. Im Gegenteil hat sich die Bewegung stabilisiert und erweitert und orientiert sich nach den erfolgreichen Straßenblockaden auf andere Widerstandsformen um. Die Losung lautet weiterhin „Nicht einen Schritt zurück“ und unbefristeter Widerstand, bis die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras zurücktritt und der gewählte Präsident im Januar sein Amt antreten kann. Gewissheiten gibt es in diesem Moment keine. Die Risiken für die Bewegung, ihre Sprecher*innen und für den gewählten Präsidenten bleiben sehr hoch bis hin zur Lebensbedrohung. Aber es gibt erste Bewegungen innerhalb der mächtigen Eliten. Erste Unternehmerverbände sprachen sich Ende Oktober für die uneingeschränkte Anerkennung des Wahlergebnisses aus und dafür, dass der formelle Wahlprozess bis zur Amtsübergabe verlängert werde. Dies ist ursprünglich eine Forderung von Semilla, der Widerstandsbewegung und weiterer demokratischer Kräfte. Denn diese Verlängerung würde den gewählten Präsidenten und seine Partei vor weiteren groben Angriffen durch die korrupte Generalstaatsanwältin schützen helfen.

Dass der Unternehmenssektor sich nun bewegt, hat mit dem spürbaren internationalen Druck zu tun. Die OAS wird bis zur Amtsübergabe mit einer ständigen Mission im Land präsent bleiben. Die USA haben Ende Oktober ihren Unterstaatssekretär für die Westliche Hemisphäre, Brian Nichols, nach Guatemala entsandt. Unter anderem ein Arbeitstreffen mit dem gewählten Präsidenten und auch ein Austausch mit den Maya-Autoritäten stehen auf dem Programm. Der amtierende Präsident bleibt ohne Termin. Das ist kein Anlass für Illusionen über die US-amerikanische Außenpolitik, aber es wird helfen, die Übergangszeit durchzustehen. Die Europäische Union lässt sich hoffentlich etwas Ähnliches einfallen. Mindestens könnte sie endlich die sogenannte Engel-Liste des US-Kongresses übernehmen, auf der korrupte Demokratiefeinde Zentralamerikas benannt werden. Ihnen wird die Einreise in die USA verwehrt, und gegebenenfalls kann ihr Vermögen bei US-Banken eingezogen werden. Consuelo Porras ist schon länger einer der prominenten Namen auf dieser Liste.

Herzlichen Dank an die Kolleg*innen von Prensa Comunitaria für ihre Hilfe vor Ort und ihre Superarbeit: https://prensacomunitaria.org