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Sie tat, was zu tun war

Zum Tod von Nelly Meffert-Guggenbühl (1904-1999)
Gert Eisenbürger

Am 7. Juli verstarb in St. Gallen im Alter von 95 Jahren die Schweizer Kinderpsychologin und Antifaschistin Nelly Meffert-Guggenbühl. 1995 hatten wir sie in den Lebenswegen vorgestellt (ila 182).
Ich lernte Nelly 1994 kennen. Bei meiner Beschäftigung mit dem antifaschistischen Exil in Argentinien war ich immer wieder auf Carl Meffert gestoßen, einen Maler und Grafiker, der dort unvergleichliche Zeichnungen und Schnitte geschaffen hatte. Jeder Strich darin war ein Aufschrei gegen die Barbarei des Faschismus. Auf Nelly, Mefferts Witwe, stieß ich über meinen Freund Pieter Siemsen, selbst Emigrant in Argentinien und Mitarbeiter der Exilorganisation „Das Andere Deutschland“. Er gab mir ihre Adresse. Sie sei eine absolut beeindruckende Frau, sagte er. Nelly war zu diesem Zeitpunkt schon 90 Jahre alt und ich war etwas skeptisch, ob sie zu einem Interview bereit und in der Lage wäre. Als ich sie schließlich anrief und vorsichtig mein Anliegen vortrug, lud sie mich sofort ein und meinte, ich könne jederzeit kommen. Sie sei aber viel unterwegs – daher sei eine kurze Voranmeldung vonnöten.
Als wir – Gaby Küppers und ich – sie dann trafen, konnten wir kaum glauben, einer Neunzigjährigen gegenüber zu sitzen. Sie war faszinierend offen und interessiert, voller Herzlichkeit und Humor. Sie sagte sofort, als Gleichgesinnte wäre es doch klar, dass wir uns duzen würden.
Nelly wurde 1904 in St. Gallen geboren. Obwohl sie aus großbürgerlichen Verhältnissen stammte, sympathisierte sie schon als Teenager mit sozialistischen Ideen und wollte Sozialarbeiterin werden. Nach dem Abitur schickten sie ihre Eltern nach London, als höhere Tochter sollte sie in einem vornehmen Pensionat perfektes Benehmen lernen. Sie zog es aber vor, in einem Sozialprojekt in einem Armenviertel in London zu arbeiten.
Als sie in die Schweiz zurückkehrte, ging sie nach Zürich und jobbte im Büro einer Gruppe linker Architekten. Bald wurde dieses Büro zu einem wichtigen Anlaufpunkt für Flüchtlinge aus Nazideutschland. Abgesehen von einigen prominenten KünstlerInnen und (bürgerlichen) Politikern, war es für deutsche Flüchtlinge kaum möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz zu bekommen. Engagierte Leute aus der Linken und dem aufgeklärten Bürgertum organisierten die Unterstützung für die illegalisierten ImmigrantInnen. Unterkünfte und Papiere mussten beschafft, die Versorgung der Leute sichergestellt werden. Nelly wurde eine wichtige Person in dieser Unterstützerszene. Als sie uns davon erzählte, klang alles völlig unspektakulär. Sie habe halt getan, was zu tun war. Kaum sprach sie von Schwierigkeiten und Problemen. Vielmehr erzählte sie mit leuchtenden Augen von den vielen tollen Erlebnissen und Begegnungen. „In gewisser Weise war es eine wunderbare Zeit. Ich lernte unheimlich viele interessante Leute kennen: Thomas Mann, Friedrich Wolf, Ernst Toller, Johannes R. Becher, Else Lasker-Schüler. Die Frau des in Deutschland inhaftierten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann kam einmal zu mir, um sich meinen Pass auszuleihen. Und schließlich habe ich bei der Arbeit Jupp kennengelernt, meinen späteren Mann. Sein richtiger Name war Carl Meffert, aus Tarnungsgründen hatte er sich den Künstlernamen Clement Moreau zugelegt.“
Jupp war ihre große Liebe, doch diese Liebe war ständig gefährdet, denn Meffert war illegal in der Schweiz, „er lebte in der ständigen Gefahr, verhaftet und abgeschoben zu werden.“
Nelly und Jupp beschlossen, Europa zu verlassen, und emigrierten 1935 nach Argentinien. In Buenos Aires heirateten sie und bekamen zwei Kinder. Jupp versuchte, sich als Zeichenlehrer und mit kleinen  Werbeaufträgen durchzuschlagen, und machte seine antifaschistischen Grafiken, die in der linken Exilzeitschrift „Das Andere Deutschland“ und später auch in argentinischen Publikationen erschienen. Viel Geld war damit nicht zu verdienen. Hinzu kam, dass Jupp seit seiner Jugend drogenabhängig war, regelmäßig brauchte er seine Morphiumspritze. Nelly organisierte das Leben. Sie kümmerte sich um Kinder und Haushalt, half Jupp bei seiner Arbeit – sie druckte gewöhnlich die Linolschnitte – und begann, mit einer Kinderpsychologin in der Uniklinik von Buenos Aires zu arbeiten. Die Arbeitsteilung, dass die Frauen die Familie ernährten, war typisch im Emigrantenmilieu. Nelly erklärte warum: „Es war für uns Frauen leichter, Arbeit zu finden, als Kindermädchen, im Haushalt. Die Männer suchten natürlich ‚wichtige‘ Arbeit, und das war nicht so leicht, das ist ja klar.“
Trotz aller Probleme fühlten sich Nelly und Jupp in Argentinien wohl. Sie hatten einen großen Freundeskreis – neben den EmigrantInnen viele argentinische KünstlerInnen und Intellektuelle – und verspürten nach 1945 kein Bedürfnis, nach Europa zurückzukehren. Sie blieben in Argentinien – bis die politischen Verhältnisse sie wieder einholten. Nach dem Militärputsch von 1962 war Jupp akut gefährdet, und sie entschieden sich zur Übersiedlung in die Schweiz.
Nach dreißig Jahren Abwesenheit kehrte Nelly nach St. Gallen zurück. Sie fand schnell Anschluss und konnte auch wieder mit Kindern arbeiten. Das machte sie noch zwanzig Jahre lang, erst mit 82 (!) ging sie in den Ruhestand. Sie blieb ein politischer Mensch, verfolgte die Entwicklung, las die linke Presse und unterstützte die Ärztevereinigung gegen den Atomkrieg IPPNW. Argentinien hat sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz nicht mehr besucht, aber es sei, wie sie sagte, immer ihr „Heimwehland“ geblieben.