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Null Müll

Die Cartoneros von Buenos Aires machen Abfallpolitik

Mehr als 5000 Tonnen Müll fallen in Buenos Aires täglich an, Tendenz steigend. 35 bis 40 Prozent davon sind Papier, Karton, Glas, Metall und somit wieder aufbereitbar. Man muss es nur tun. Als die argentinische Krise um die Jahrtausendwende am schlimmsten war, taten es viele aus purem Überlebenswillen. Jede Nacht zogen bis zu 40 000 MüllsammlerInnen mit improvisierten Karren durch Groß-Buenos Aires und luden Zeitungen, Verpackungen und Flaschen auf, um sie an Müllfirmen weiterzuverkaufen. Auf eigene Faust und für einen lächerlichen Preis. Das Sammeln war illegal, bis eine der SammlerInnen begann, die Cartoneros zu organisieren, und eine regelrechte Müllpolitik in Gang kam. Heute ist diese Cartonera Kooperativenchefin. Doch statt einen vorbildlichen Ansatz weiterzuentwickeln dreht der derzeitige Bürgermeister, der rechte Populist Mauricio Macri, seit seinem Amtsantritt Ende 2007 das Rad wieder zurück.

Gaby Küppers

Nach der letzten Biegung wird es trostlos. Links hinter einer Böschung Autobahnlärm, rechts eine schnurgerade Reihe von unansehnlichen Schuppen und Lagerhallen. Keine heimelige Gegend. Vor uns rumpelt ein geschlossener Lastwagen durch Schlaglöcher, dreht schließlich und fährt vorsichtig rückwärts eine Rampe hinauf und in eines der wenig einladenden Gebäude hinein. Wir parken und steigen aus. Ein junger Mann mit einem Müllkarren und Plastikschutzweste winkt herüber. „Hallo, Grüner, wie geht's?“ Er meint unseren Begleiter Juan Manuel Velasco, der zurückgrüßt und dem Müllmann erklärt, dass er gerade zwei Europäerinnen mit der anderen Seite von Buenos Aires bekannt machen wolle. Freilich eine, auf die er stolz ist: In Sachen Müll konnte er in seiner kurzen Amtszeit als Umweltminister in Buenos Aires punkten. Bürgermeister Jorge Telerman hatte den rührigen Abgeordneten aus dem Umweltausschuss Anfang 2007 in sein Kabinett geholt. Doch seine Initiativen blieben ein kurzes Intermezzo. Bei den Wahlen Ende 2007 verlor die linke Stadtregierung. Seither recycelt der neue Bürgermeister Macri, ein rechter Populist, in umgekehrter Richtung. Juan Manuel Velasco engagiert sich weiter, im Aufbau der Grünen Partei, und weist auf den Müllmann: „Die Cartoneros sind ein wichtiger Teil unserer sozialen Basis“, verblüfft er uns. 

Aus einer Tür neben der Rampe kommt eine schmächtige Frau in Arbeitskleidung auf uns zu. Die schätzungsweise Mitfünfzigerin begrüßt uns auf argentinisch überschwängliche Weise. „Ich bin Cristina Lescano. Willkommen in El Ceibo“, sagt sie und breitet die Arme aus. Bescheiden ist der Name der Müllkooperative nicht: Der Ceibo ist der flammend rot blühende Nationalbaum Argentiniens. Einige Exemplare davon sind dekorativ vor dem ansonsten funktionellen Eingang gepflanzt. Wir betreten Cristina Lescanos ziemlich außergewöhnliches Reich. Im Vorraum packen gerade ein paar niederländische Journalisten ihre Kameras zusammen. Daneben stehen Möbel aus Karton. Es ist gerade mal ein paar Tage her, dass der UN-Entwicklungsfonds UNDP El Ceibo einen Preis als sozial vorbildliches Projekt verliehen hat. Da sind wir beileibe nicht die einzigen Neugierigen.

Das dachte auch ein findiger Unternehmer. Seit die Kooperative zu internationalen Ehren kam, sieht er die Gunst der Stunde gekommen. Bevor einE BesucherIn noch in die eigentliche Müllhalle gelangt, führt er sie durch seine improvisierte Ausstellung: Paletten aus Karton stehen da, die mit sieben Kilo viel leichter und transportabler seien als die herkömmlichen, die über 40 Kilo wögen und dazu noch unökologische Nägel enthielten. Dahinter stehen Sessel, ziehharmonikaförmige Ausziehbänke, ein Tisch und dann der Clou: ein Sarg aus Karton, erschwinglich für Arme, aber auch geeignet zur Verschickung in Katastrophengebiete. „Die Hälfte der Bevölkerung von Buenos Aires kann sich kein ordentliches Begräbnis leisten“, sagt Mauricio Kalinov, „aber für einen Sarg zu 60 Dollar können auch sie sich würdig von einem Angehörigen verabschieden.“ 400 solcher Kartonsärge gingen auseinandergefaltet in einen einzigen Container, verrät er uns noch. Der Unternhemer will mit El Ceibo ins Geschäft kommen. Sie sollen ihm ihr aussortiertes Altpapier verkaufen, so dass die Endprodukte das El Ceibo-Siegel tragen – sozusagen als Markenzeichen für Öko und fairen Handel. Cristina Lescano lässt ihn reden, aber man merkt, sie will sich nicht mit Geschäftsideen verzetteln, die vom Kern der Sache ablenken.

Die Tür zur Müllhalle wird aufgeschoben. Ein paar Männer sind inzwischen aus dem LKW gesprungen, haben die Hecktüre geöffnet und begonnen, überdimensionale Müllsäcke herauszuwuchten. Vor ihnen sitzt eine junge Frau und notiert die Anzahl der Säcke. Das macht sie 13 bis 14 Mal am Tag. So viele Lastwagen spucken täglich den eingesammelten Trockenabfall in El Ceibo aus. Insgesamt rund 13 Tonnen oder 260 Tonnen im Monat – am Wochenende wird nicht gearbeitet. Die Männer wuchten, Jackie Flores führt Buch. Offenbar werden die Leitungsfunktionen in der Kooperative von Frauen ausgeübt. Cristina Lescano überlegt und schmunzelt dann: „Stimmt. Die meisten Frauen sind einfach verantwortungsbewusster.“

Cristina lädt uns zu einem Rundgang durch ihr Reich ein. Ich will mir schon vorsichtshalber die Nase zuhalten, als ich mich dem ersten Müllhaufen nähere, aber die Cartonera winkt ab. Tatsächlich, der erwartete stechende Gestank bleibt aus. „Hier ist alles trocken“, erklärt Cristina Lescano, „Glas, Plastikflaschen, Papier, Karton. Wenn ein Lastwagen mit feuchten Substanzen kommt, schicken wir ihn zurück. Wir achten sehr darauf, dass alles sauber ist. Keine Mäuse, kein Schimmel.“ Es geht zu wie in einer Fabrik. An einer Art Fließband stehen Männer und Frauen und sortieren Materialien. Andere stehen an einer Presse oder stellen sortiertes Material zum Abtransport bereit. Rund 100 Menschen arbeiten in El Ceibo, die Hälfte draußen als UmweltpromotorInnen und MüllsammlerInnen, die andere Hälfte hier in der Halle. Einheitslohn gibt es nicht, bezahlt wird nach Art der Tätigkeit und monatlichem Umsatz der Kooperative. Das soll verhindern, dass Einzelne ausscheren, bummeln oder individuell Müll weiterverkaufen. Gemeinschaftsgeist wird genau so groß geschrieben wie das geregelte Erscheinen am Arbeitsplatz. Gearbeitet wird wochentags von 7 bis 16 Uhr und mittags gibt es eine warme Mahlzeit.

Als der entladene LKW die Rampe zurückrollt, kommt die Selfmadefrau endlich dazu, uns ihre Geschichte zu erzählen. Pure Not sei es gewesen, die die Idee zu El Ceibo gebar. Cristina war Angestellte in der Buchhaltungsabteilung des Rathauses, als sie 1989 erfuhr, dass die Stadtverwaltung ihren Vertrag diesmal nicht wie üblich verlängern würde. Die Krise war bei ihr angekommen. Drei Monate später stand Cristina wortwörtlich auf der Straße, drei Kinder mussten versorgt werden. Was tun? Cristina zog in ein besetztes Haus. Sie besorgte sich einen Karren und durchwühlte abends den Müll vor den Häusern nach Kartons und Flaschen, das Gesicht hinter Schal und Mütze verborgen. Nicht nur wegen der Kälte, sondern vor allem auch aus Scham. Auf sich gestellt wurschtelte sie sich durch. Sieben Jahre später hatte sie die Nase voll vom Einzelkämpfertum. Sie begann, die MüllsammlerInnen im Stadtteil Palermo zu organisieren, „Ich wollte nicht mehr nur Müll wiedergewinnen, sondern auch Menschen“, erinnert sie sich. Die denkbar ineffizienteste Art, an wiederverwendbares Material zu kommen – fand sie –, war auf sich gestellt Müllsäcke auf der Straße auseinander zu zerren. Und die für MüllsammlerInnen am wenigsten Gewinn bringende, die Ausbeute individuell an Müllhaie zu verkaufen. Müll, dachte sie, gehört niemandem. „Also stehlen wir nicht, sondern machen eine für die Umwelt wichtige Arbeit.“ Zusammen mit Gleichgesinnten begann sie, an Wohnungstüren zu klingeln, aufzuklären und die BewohnerInnen zu bitten, selbst den Müll zu trennen und an sie abzugeben, statt Abend für Abend zu erleben, wie Plastikbeutel auf der Straße auf der Suche nach etwas Verwertbarem zerrissen wurden.

2001, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, entstand dann El Ceibo als Kooperative der Cartoneros. Der nächste Schritt war die Legalisierung der Cartoneros, die sich Cristina Lescano durchaus zu Gute halten kann. Seit dem Gesetz 992 von 2002 ist die Arbeit nicht mehr klandestin und die Stadtregierung gibt an registrierte Cartoneros Arbeitskleidung und Handschuhe aus. Wieder ein Jahr später gelang ein weiterer wichtiger Erfolg bei der Lösung des Abfallproblems: Der Müll wurde von nun an nicht mehr pro abgelieferter Tonne, sondern pro gereinigte Fläche bezahlt. Damit waren die Cartoneros nicht länger die „natürlichen“ Feinde der Müllfirmen. Unter den Bürgermeistern Ibarra und später Telerman entwickelte Buenos Aires wichtige Müllreduktionsziele. 2005 verabschiedete das Stadtparlament das unter Federführung des Abgeordneten Juan Manuel Velasco erarbeitete so genannte „Null-Müll-Gesetz“. Dieses Gesetz 1854 schreibt eine Müllreduktion von 30 Prozent bis 2010, 50 Prozent bis 2012, 75 Prozent bis 2017 und ein Totalverbot für die Entsorgung wiederverwendbarer Abfallsubstanzen bis 2020 vor. Referenzjahr ist 2004. Außerdem wurde die Verbrennung von Müll verboten. 

2007 dann ließ Juan Manuel Velasco, inzwischen Umweltminister, in der Stadt Müllcontainer aufstellen, um die Mülltrennung weiter voranzutreiben. Davon ist heute, 2010, nicht mehr viel übrig. Seit Mauricio Macri Ende 2007 an die Regierung kam, macht Buenos Aires die Rolle rückwärts in Sachen Müll. Nicht nur das Reduktionsziel ist bei weitem nicht erreicht worden. Im Gegenteil, die Müllmenge steigt. Unter Macri verdienen die privaten Entsorgungsfirmen wieder pro Tonne abgeliefertem Müll und nicht mehr nach gereinigter Fläche – Müllreduktion ist damit nicht mehr in ihrem Sinne und auch die Cartoneros werden wieder zur Konkurrenz der privaten Müllunternehmer. Die zur Mülltrennung aufgestellten Container verschwinden nach und nach aus den Stadtvierteln, so mancher wohl auch im Bauch von großen Müllautos, vermutet Carlos Apelbaum. Er lebt im Stadtteil Belgrano, wo die gehobene Mittelschicht durchaus für ökologische Ideen offen ist. Bis zum letzten Frühjahr warf er die angefallenen leeren Flaschen aus seinem Haushalt immer in einen Flaschencontainer um die Ecke. Dann war der Container eines Tages weg. Carlos Apelbaum hat die Mülltrennungsidee seither wieder ganz aufgegeben. Aber die Ökologiebewegung und die Cartoneros organisieren Protestaktionen gegen Macris Stadtregierung. Einen ersten Erfolg konnten sie schon verbuchen: Ende 2009 musste der Umweltdezernent wegen der Müllpolitik seinen Hut nehmen. Sein Nachfolger sucht immerhin den Dialog mit den Cartoneros und machte erste Zugeständnisse.

Unsichere Zeiten für El Ceibo? Cristina Lescano ist keine Frau, die sich unterkriegen lässt, auch nicht von Macri. Im Juni 2009 hat sie sich auf der Liste der Grünen als Kandidatin für die argentinische Nationalversammlung aufstellen lassen. „Ich habe nur zwei Wochen Wahlkampf gemacht und aus dem Stand 10 000 Stimmen bekommen“, sagt sie stolz. Für eine Müllfrau ist das in der Tat beachtlich. Und wenn sie Abgeordnete geworden wäre? Dann hätte sie viel zu tun gehabt, lacht sie. Recycelbarer Trockenmüll, wie ihn die Cartoneros sammeln, sei nur ein Teil des Mülls, nicht einmal der größte. Flaschen, Papier, Plastik und Metall machen etwa 35 Prozent des Gesamtaufkommens auf. Knapp 45 Prozent organischer Abfall kommen dazu. Insgesamt sind also rund 80 Prozent des Abfalls in Buenos Aires wiederverwertbar. Zu umweltfreundlicher Energieproduktion genutzt wird davon nichts. Die Cartoneros sind damit die einzigen, die sich um ökologische Abfallverwertung kümmern, dazu noch ohne öffentliche Unterstützung. Der große Rest des Abfalls der Porteños wird unbehandelt vergraben. Eine Zeitbombe. Aber vielleicht wird Cristina Lescano ja doch noch mal Abgeordnete. Im Moment versucht sie erst einmal, einen weiteren LKW für die Kooperative aufzutreiben.