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Die weiter offenen Adern Lateinamerikas

Über zwei Bücher, historische Gewissheiten und Herausforderungen für die Linke

Ein vor einem halben Jahrhundert veröffentlichtes Buch eines damals 31-jährigen uruguayischen Autors zeigte eindrucksvoll die Zerstörungen und Verheerungen, die 500 Jahre koloniale und neokoloniale Ausbeutung der lateinamerikanischen Rohstoffe angerichtet haben. Knapp 50 Jahre später recherchierte ein britischer Journalist, was sich seither verändert hat.

Gert Eisenbürger

Im Jahr 1971 erschien das Buch „Las venas abiertas de América Latina“ von Eduardo Galeano. Bereits im folgenden Jahr brachte der Wuppertaler Peter Hammer Verlag „Die offenen Adern Lateinamerikas“ in deutscher Übersetzung heraus, 1973 wurde eine englischsprachige Ausgabe veröffentlicht. Galeano beschreibt darin, wie sich seit der Kolonialzeit die imperialen Mächte Europas, später vor allem die USA, die Reichtümer Lateinamerikas angeeignet und damit ihren industriellen Aufstieg finanziert haben. Daran änderte auch die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Republiken nichts. Sie waren weiterhin Rohstofflieferanten, ihre Eliten waren für Galeano lediglich Komplizen bei der Ausbeutung ihrer Länder durch Unternehmen aus den Metropolen. Auf der Strecke blieben Millionen und Abermillionen Indigener und afroamerikanischer Sklav*innen, die sich in den Minen und auf den Plantagen zu Tode schuften mussten.

Das Buch wurde zu einem Standardwerk und prägte eine ganze Generation politisch aktiver Menschen in Lateinamerika, aber auch weltweit. In der Bundesrepublik war seine Lektüre in den 70er- und 80er-Jahren ein Muss für alle zu Lateinamerika Engagierten. Diejenigen, die Kontakte zu unabhängigen Eine-Welt-Gruppen in der DDR hatten, wurden von diesen gebeten, wenn möglich bei Besuchen ein Exemplar im Gepäck zu haben. Las venas abiertas de América Latina wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, die Gesamtauflage soll im siebenstelligen Bereich liegen. Zum 50. Jahrestag seines Erscheinens gab es an der Universität der Republik Uruguay im Juni 2021 ein großes, mehrtägiges internationales Symposium zu dem Buch und seiner Wirkung.

Kurz vorher, 2020, veröffentlichte der in Spanien lebende britische Journalist Andy Robinson in Barcelona „Oro, Petróleo y Aguacates. Las nuevas venas abiertas de America Latina“. Die englische und die deutsche Ausgabe („Gold, Öl und Avocados. Die neuen offenen Adern Lateinamerika“) erschienen 2021. Robinson, der sich nicht nur im Titel, sondern auch im Text immer wieder auf Galeano bezieht, berichtet in 16 Beispielen über die gegenwärtige Struktur der Ausbeutung lateinamerikanischer Rohstoffe durch vorwiegend internationale Unternehmen (vgl. die Besprechung von Alix Arnold in der ila 439).

Robinson zeigt, dass die Menschen in den Regionen, in denen die Mineralien und Agrarprodukte gefördert oder angebaut werden, kaum etwas davon haben – im Gegenteil werden vielerorts ihre Umgebung und häufig auch Lebensgrundlagen zerstört, etwa durch die Verseuchung von Böden und Gewässern oder deren Austrocknung. Diejenigen, die sich dagegen wehren, leben gefährlich. Von den Unternehmen angeheuerte Security-Leute, sprich Schlägertrupps und Auftragsmörder, sowie staatliche Sicherheitskräfte haben die Vertreter*innen renitenter Dorfgemeinschaften und Umweltschützer*innen im Visier. Manche der bei Robinson beschriebenen Produkte wie Gold, Eisenerz, Erdöl und Bananen sind auch Thema bei Galeano, andere wie Lithium, Avocados, Soja oder Quinoa wurden erst in den letzten Jahrzehnten zu begehrten Waren auf den Weltmärkten.

Ist also Robinsons Buch eine Fortschreibung des Klassikers von Galeano? In gewisser Weise ja. Aber gleichzeitig auch nicht. Denn in den knapp 50 Jahren, die zwischen der Veröffentlichung beider Titel liegen, hat sich manches verändert. Darum soll es im Folgenden gehen.

Galeanos „Die offenen Adern Lateinamerikas“ ist in seinem literarischen Stil und seiner wunderbar bildhaften Sprache als Werk kritischer Geschichtsschreibung sicher einzigartig1, reflektiert aber in seinen Grundaussagen die seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Lateinamerika und den USA geführten Debatten kritischer Intellektueller. Dass sich der Wohlstand in den Metropolen des Nordens und die Armut in Lateinamerika gegenseitig bedingen und dass der Subkontinent in der internationalen Arbeitsteilung auf seine Rolle als Rohstofflieferant ohne Perspektiven für eine selbstbestimmte ökonomische und soziale Entwicklung festgelegt wurde, waren Kernthesen der Dependenztheorie, die Ökonomen und Sozialwissenschaftler wie Fernando Henrique Cardoso, Celso Furtado, Theotônio dos Santos, André Gunder Frank oder Paul Sweezy formulierten. Ihre theoretischen Reflexionen füllte Eduardo Galeano sozusagen mit Fleisch, und zwar so, dass es für viele Menschen verständlich war.

Zumindest für den linken, marxistischen Flügel der Dependenztheorie (die Brasilianer Cardoso, Furtado und dos Santos sahen das später anders) war klar, dass der Ausweg aus diesem Zustand nur durch tiefgreifende politische Veränderungen und einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg zu erreichen war. Diese Position vertrat auch Galeano, der bis zu seinem Tod 2015 zum linken Flügel der Sozialistischen Partei Uruguays zählte. Weil progressive Regierungen mit diesem abhängigen Wirtschaftsmodell und den es tragenden Besitzverhältnissen brechen wollten, hätten das Imperium, also der industrielle Norden unter Führung der USA, und die jeweiligen nationalen Eliten aus Großgrundbesitz und dem Import-Export-Sektor alles daran gesetzt, selbstbestimmte, auf Industrialisierung, gerechteren Zugang zu Land und Ressourcen und die Befriedigung lokaler Bedürfnisse orientierte Entwicklungswege zu vernichten.

Im Buch beschreibt er etwa die Zerstörung der unter den Regierungen von Gaspar Rodríguez de Francia, Carlos Antonio López und Francisco Solana in Paraguay im 19. Jahrhundert erreichten wirtschaftlichen Unabhängigkeit durch den von Großbritannien und Frankreich geförderten Dreibundkrieg (Guerra de Triple Alianza) Argentiniens, Brasiliens und Uruguays gegen das Land. Der Waffengang, der zwischen 1864 und 1870 allein auf paraguayischer Seite 300000 Todesopfer forderte, endete mit der weitgehenden Vernichtung der verarbeitenden Betriebe, der Infrastruktur und des Bildungswesens Paraguays. Ebenso beschreibt er den 1954 von US-Stellen koordinierten, ausgerüsteten und finanzierten Feldzug guatemaltekischer Paramilitärs zum Sturz des Präsidenten Jacobo Arbenz, der die von seinem Vorgänger Juan José Arévalo begonnene Agrarreform fortgesetzt und dabei auch die Ländereien des US-Konzerns United Fruit Company (Chiquita) gegen Entschädigung enteignet und an Landlose verteilt hatte. Und er berichtet über den 1964 von den USA unterstützten Putsch gegen den linksnationalistischen brasilianischen Präsidenten João Goulart, der ebenfalls den Landbesitz demokratisieren und die Aktivitäten des internationalen Kapitals beschränken wollte.

In einem aktualisierenden Nachwort aus dem Jahr 1978 ergänzte Galeano die Liste der gewaltsamen Machtwechsel zur Absicherung des bestehenden ökonomischen Modells um den Putsch gegen den Sozialisten Salvador Allende 1973 in Chile, die Absetzung der radikal-reformistischen Generäle Juan José Torres 1971 in Bolivien und Juan Velasco Alvarado 1975 in Peru durch ihre US-treuen „Waffenbrüder“ sowie die Staatsstreiche 1973 in seinem Heimatland Uruguay und 1976 in Argentinien. Aus heutiger Sicht kann man ergänzen, dass damit von den Militärs in den genannten Ländern der Weg für die Durchsetzung des Neoliberalismus freigeschossen wurde. Dafür wurde eine ganze Generation linker Aktivist*innen verhaftet und gefoltert, ermordet oder – wie Eduardo Galeano – ins Exil gezwungen.

Das von Andy Robinson beschriebene Modell in seiner gegenwärtigen Ausprägung wird nicht von finsteren Militärs aufrechterhalten. Die es tragenden internationalen Konzerne und Finanzgruppen sind zwar teilweise dieselben wie in den 70er-Jahren (oder deren durch Umschichtungen in Konzernen und Banken entstandene Klone), aber viele Regierungen, die diese Prozesse in jüngerer Zeit unterstützt hatten, wurden von Parteien der Linken getragen. Eine beträchtliche Zahl ihrer Minister*innen und sogar Präsident*innen, wie Salvador Sánchez Cerén in El Salvador, Pepe Mujica in Uruguay und Dilma Rousseff in Brasilien, sind ehemalige Guerilleros/as und politische Gefangene. Da es sich bei ihnen keineswegs um Konvertit*innen handelte, die ihrer linken Vergangenheit abgeschworen haben (die gibt es auch, aber sie tummeln sich in rechten Parteien) oder wie Daniel Ortega zu zynischen Autokraten wurden, stellt sich die Frage, warum sie ein Wirtschaftsmodell förderten, das sie früher bekämpft hatten.

Die bürgerlichen Medien meinen, die Linken seien vernünftig geworden. Ernsthafter argumentierten manche Linke mit der Einschätzung, die politischen Prioritäten der progressiven Regierungen in den vergangenen 20 Jahren seien den Kräfteverhältnissen geschuldet. Auch in Ländern mit linken Regierungen blieb das Machtgefüge (Ökonomie, Medien, Militär) von den reaktionären Eliten dominiert. Progressive Regierungsprojekte hätten ein allzu radikales politisches Umsteuern vermieden, um gesellschaftlichen Polarisierungen und der Gefahr neuerlicher Staatsstreiche zu vorzubeugen. Die gab es allerdings dennoch: Fernando Lugo in Paraguay, Mel Zelaya in Honduras oder Dilma Rousseff in Brasilien sind weder freiwillig abgetreten, noch haben sie Wahlen verloren. Sie wurden gestürzt, obwohl sie wirtschaftspolitisch äußerst moderat agierten und eisern an den Rohstoffexportmodellen festhielten, sie sogar noch vertieften.

Ich denke, der entscheidende Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Linken besteht in ihrer politischen Zielsetzung. Wie oben skizziert, ging es der Linken der 70er-Jahre um eine Befreiung aus jahrhundertealten Abhängigkeiten, die Überwindung der Festlegung ihrer Länder auf ihre Rolle als Rohstofflieferanten und ein Modell einer eigenständigen, staatlich geplanten industriellen Entwicklung als Voraussetzung der Beseitigung der Armut und der Schaffung besserer Lebensbedingungen für alle.

Die Linken, die in den vergangen zwei Jahrzehnten an die Regierung kamen, hatten als prioritäres Ziel die Verbesserungen der Lebensbedingungen und des Konsumniveaus der armen Bevölkerungsgruppen und der – durchaus privilegierten – Mittelschichten. Dies war ihr Versprechen und dafür wurden sie gewählt. Das war allerdings erst einmal nur durch ein Festhalten am extraktivistischen Modell möglich. Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war durch einen außergewöhnlichen Rohstoffboom gekennzeichnet, vor allem wegen des rasanten Aufstiegs Chinas und anderer asiatischer Länder. Die Nachfrage nach Rohstoffen und damit auch deren Weltmarktpreise schnellten nach oben. Weil die lateinamerikanischen Linksregierungen in Verhandlungen mit den multinationalen Rohstoffkonzernen offensiver agierten und mehr durchsetzten, floss viel Geld in die Staatskassen. Ohne die Wohlhabenden in den Ländern zur Kasse zu bitten und damit deren energischen Widerstand hervorzurufen, standen Mittel zur Verfügung, die für Sozialprogramme, Investitionen im Gesundheitswesen und spürbare Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor eingesetzt werden konnten. Der Anspruch, ihre Wirtschaften zu diversifizieren und die geförderten Rohstoffe weiter zu verarbeiten, blieb zwar bestehen, wurde aber erst einmal aufgeschoben. Die von der Arbeiterpartei PT gestellte Regierung Brasiliens konnte nach acht Jahren Präsidentschaft Lula da Silvas stolz verkünden, den Hunger im Land, vor allem im armen Nordosten, besiegt und 20 bis 30 Millionen Brasilianer*innen aus der Armut in die untere Mittelschicht gehievt zu haben. Dass in den Ausfuhrstatistiken des am weitesten industrialisierten südamerikanischen Landes nicht mehr Flugzeuge und Autos als wichtigste Exportprodukte auftauchten, sondern wieder ein Agrarprodukt, nämlich Soja, wurde damit erklärt, dass die Industrie weiter gut laufe, aber dass die Sojapreise auf dem Weltmarkt so angezogen hätten, dass sie alle anderen Produkte überrundet hätten. Dass das nur um den Preis massenhafter gewaltsamer Vertreibungen und Entwaldung zu haben war, wurde unterschlagen.

In der lateinamerikanischen wie der internationalen Linken wurde diese Entwicklung unterschiedlich interpretiert. Während der größte Teil der Basis der regierenden Parteien lange von deren Politik überzeugt war und es auch international eine große Begeisterung für die sozial- und wirtschaftspolitischen Erfolge der progressiven Regierungen gab, waren zunehmend auch kritische Stimmen zu hören. Das auf Extraktivismus, also der intensiven Ausbeutung natürlicher Ressourcen, basierende Entwicklungsmodell habe langfristig verheerende ökologische und letztlich auch soziale Folgen. Bereits in der Gegenwart würden etwa infolge des massiven Wasserbedarfs des Bergbaus und der industriellen Landwirtschaft die Wasserreserven vielerorts knapp, sodass bei Fortsetzung der bisherigen Praxis in Zukunft die Verwüstung ganzer Regionen drohe. Auch die Verseuchung der Böden und Flüsse durch den Einsatz von Quecksilber und anderen Schwermetallen im Bergbau habe schon heute gravierende gesundheitliche Folgen (vgl. dazu die Beiträge von Karen Gil und Peter Strack in dieser ila), ähnliches gelte für den intensiven Einsatz von Roundup-Pestiziden wie Glyphosat in der industriellen Landwirtschaft.

Doch das Modell war nicht nur aus ökologischen Gründen problematisch, sondern erwies sich, wie Andy Robinson zeigt, auch ökonomisch als nicht nachhaltig. Hatten noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts viele geglaubt, die wachsenden globalen Märkte würden langfristig hohe Preise für Primärgüter garantieren, zeigte sich nach der Finanzkrise 2007/8, dass dies keineswegs so war. Als die chinesische Regierung begann, den rasanten Wachstumsprozess der Volkswirtschaft etwas zu drosseln und zu konsolidieren, sanken die Rohstoffpreise und damit die Exporterlöse der meisten lateinamerikanischen Länder deutlich. Die Zuwendungen für das Gesundheitswesen, die Schulen und die Kultur mussten zurückgefahren werden, das Geld für Sozialprogramme fehlte. Aber gerade daran wurde die Linke gemessen. Als auch das Konsumniveau des Mittelstands zurückging und die in die untere Mittelschicht Aufgestiegenen ihre Hoffnungen auf mehr Wohlstand, bessere Wohnungen und die Anschaffung eines Pkw, dem wichtigsten Statussymbol, schwinden sahen, wuchs die Unzufriedenheit. Anders als etwa 1972/73 in Chile, als die Arbeiter*innen und Bewohner*innen der Armenviertel die Regierung der Unidad Popular auch dann noch verteidigten, als es ihnen materiell schlechter ging, und sich vielerorts selbst organisierten, um die Angriffe der Rechten abzuwehren und die Produktion und Lebensmittelversorgung aufrechtzuerhalten, betrachteten sich die in die Mittelschicht Aufgestiegenen etwa in den Städten Brasiliens nie als soziales Kollektiv und identifizierten sich nicht mit dem politisch-ökonomischen Projekt der PT, für das sie auch keinen Anlass sahen, auf die Straße zu gehen.

Es wurde auch kaum über die Widersprüche des extraktivistischen Modells diskutiert, weil die nationalen und internationalen Eliten daran um jeden Preis festhalten wollten. Stattdessen rückten die konservativen Medienmonopole tatsächliche und vermeintliche Korruptionsfälle in den Mittelpunkt, die zum wahren Grund allen Übels hochstilisiert wurden. So verlor die Arbeiterpartei in Brasilien ebenso wie die meisten linken Allianzen in den anderen Ländern Lateinamerikas die Wahlen und die neoliberale Rechte übernahm wieder die meisten Regierungen, ohne freilich auch nur ansatzweise über alternative wirtschaftspolitische Konzepte zu verfügen. In Brasilien ist heute der Hunger in den Nordosten zurückgekehrt, und die Hälfte derer, die in der Ära Lula in die untere Mittelschicht aufgestiegen waren, sind wieder in die Armut zurückgefallen.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich die Frage, was dies alles für eine künftige linke Politik bedeutet, deren Ziele eine soziale Entwicklung, die Verteidigung der Lebensgrundlagen (wozu zuallererst eine Begrenzung der Erderwärmung gehört) und eine gerechtere Einkommensverteilung sein müssen. Eduardo Galeano und Andy Robinson haben gezeigt, dass auf den Export von Primärgütern setzende Modelle keine Perspektive für Lateinamerika bieten können.

Die Schwäche der ökosozialen Kritik am Extraktivismus besteht indessen darin, dass sie zwar richtig ist, aber kaum gesellschaftlich tragfähige Alternativen aufzeigt.

Bis heute produzieren die oft unter prekärsten Bedingungen lebenden und arbeitenden Kleinbauern und -bäuerinnen den Großteil der in Lateinamerika konsumierten Nahrungsmittel. Die Förderung einer ökologischen, bäuerlichen oder genossenschaftlich betriebenen Landwirtschaft wäre sicherlich ein wichtiges Element, um die Lebensbedingungen in den ländlichen Regionen zu verbessern. Die linken Regierungen haben mit ihrer einseitigen Förderung der großen Agroexportbetriebe diesen Sektor sträflich vernachlässigt.

Ihr Interesse galt und gilt vor allem den Menschen, die in den Städten leben, die heute die Mehrheit der Lateinamerikaner*innen sind. Vor allem diejenigen, denen das Nötigste fehlt, fordern mit allem Recht der Welt ein geregeltes Auskommen, ausreichend große Wohnungen mit Elektrizität, Wasseranschluss und Abwasserentsorgung, bezahlbare Transportmittel, eine anständige gesundheitliche Versorgung, allgemein zugängliche Schulen, Zugang auch zu höherer Bildung und öffentliche Räume für gesellige Aktivitäten, Sport und Kultur. Wie ihnen ein gutes und würdiges Leben ermöglicht werden kann, bleibt die große Herausforderung für die fortschrittlichen sozialen und politischen Bewegungen, innerhalb und außerhalb der linken Parteien.

Das extraktivistische Modell ist dafür ebenso untauglich wie die auf einem extrem niedrigen Lohnniveau basierende Teilfertigungsindustrie Maquilas, was in Mexiko und Zentralamerika zu sehen ist. Die Weiterverarbeitung der im Land geförderten und angebauten Primärgüter bleibt weiter auf der Tagesordnung. Allerdings weist Andy Robinson darauf hin, dass eine international auch nur halbwegs konkurrenzfähige Industrie ein relativ niedriges Lohnniveau voraussetzt. Das müsste durch staatliche Transferleistungen in anderen Bereichen kompensiert werden.2 Dafür müssten aber die Wohlhabenden stärker besteuert werden, was die natürlich niemals widerstandslos hinnehmen.

Wie wir in den letzten beiden Jahren gesehen haben, braucht es unbedingt eine Förderung des Aufbaus oder der Weiterentwicklung bestehender pharmazeutischer Betriebe und vor allem einer eigenständigen Forschung in den Unternehmen und Universitäten. Denn nur das kann eine Unabhängigkeit in der Produktion von Medikamenten und Impfstoffen gewährleisten. Hierfür war Cuba – trotz aller politischen Konflikte, auf die die Führung leider wieder repressiv reagierte, und wirtschaftlichen Probleme, vor allem wegen des Wegbrechens des Tourismus – in der Bewältigung der Pandemie und der erfolgreichen Entwicklung wirksamer Impfstoffe ein ermutigendes Beispiel, nicht nur für Lateinamerika.

Vor allem können politische und ökonomische Veränderungen und Projekte niemals über die Köpfe derer hinweg entschieden werden, die davon betroffen sind oder die sie umsetzen müssen. Das sind Beschäftigte in den Betrieben und auf den Feldern ebenso wie die Anwohner*innen im Umfeld von Bergwerken, Industrieanlagen und Agrarflächen. Das sind Bauern und Bäuerinnen ebenso wie diejenigen, die an den Universitäten und Agrarinstituten über neue Anbauprodukte und -methoden forschen. Das sind diejenigen, die die Busse und Lkws fahren, ebenso wie die, die auf deren Nutzung angewiesen sind. Die Liste ließe sich seitenlang fortsetzen. Aber sie alle müssen gefragt werden und mitbestimmen, so mühsam und langwierig eine radikale Demokratisierung auch sein mag. Sonst wird die große Wunde, die offenen Adern Lateinamerikas, bleiben und der Subkontinent weiter ausbluten.

  • 1. Ähnlich faktenreich und spannend, aber wesentlich nüchterner geschrieben ist Walter Rodneys 1972 veröffentlichtes Buch „How Europe Underdeveloped Africa“ (dt.: „Afrika – Die Geschichte einer Unterentwicklung“, Wagenbach, Berlin 1973). In den USA wurde es 2018 mit einem Vorwort von Angela Davis neu aufgelegt, auf Deutsch ist es leider nicht mehr lieferbar.
  • 2. Wenn zum Beispiel öffentlicher Transport und Schulen gut und gratis wären, fielen für viele Familien sehr drückende Kosten für Mobilität, Schulgeld und Schulmaterialien weg.

Eduardo Galeano: Die offenen Adern Lateinamerikas, Übersetzung: Angelica Ammar, Peter Hammer Verlag, 8. Auflage, Wuppertal 2009, 400 Seiten, 22 Euro

Andy Robinson: Gold, Öl und Avocados. Die neuen offenen Adern Lateinamerikas, Übersetzung: Alix Arnold und Gabriele Schwab, Unrast Verlag, Münster 2021, 318 Seiten, 19,80 Euro (Bei der ila auch als Aboprämie erhältlich!)