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Die dunkle Seite des Aufstands

Rechtsextremist Milei gewinnt die Vorwahlen in Argentinien

2001, nach dem Zusammenbruch des neoliberalen Staates in Argentinien, forderte das Volk auf den Straßen: „Alle sollen gehen!“. Einige sind tatsächlich gegangen, und seitdem sind zwei neue parteipolitische Blöcke, der tendenziell sozialdemokratische Kirchnerismus (der von 2003-2015 an der Regierung war) und der konservative Macrismus (der von 2015-2019 regierte), entstanden. Seit 2019 stellt eine vom Kirchnerismus geprägte sozialliberale Koalition die Regierung. Heute, wo die jährliche Inflation mehr als 120 Prozent beträgt und 40 Prozent der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, fand der Protest einen institutionellen Weg: 30 Prozent der argentinischen Wähler*innen stimmten bei den Vorwahlen am 13. August für den rechtsextremen Kandidaten Javier Milei.

Roberto Frankenthal

Der bestenfalls mittelmäßige und nicht eben seriöse Wirtschaftswissenschaftler (seine Bücher sind voll von Plagiaten anderer Autoren) Javier Milei ist durch sein Auftreten in TV-Talk-Shows bekannt geworden. Dort nahm er die Rolle des nicht zu bremsenden Schreihalses ein und glänzte durch Sprechdurchfall. Zwischendurch war er auch Berater des wegen mehrfacher Menschenrechtsverletzungen verurteilten Generals Antonio Domingo Bussi. Milei ist ein typischer Vertreter des Faschismus neuen Typs, wie wir ihn aus Europa kennen. Anders als die historischen faschistischen Führer, steht er nicht an der Spitze einer ihm treu ergebenen Massenpartei, sondern kommt aus der Mitte einer Gesellschaft, die sich nicht einmal im Klaren darüber ist, was Faschismus bedeutet. „Das Gebrüll kommt nicht von Milei, sondern vom Knarren eines demokratischen Systems, das auf einer kapitalistischen Gesellschaft basiert, die mit dem Treibstoff der neoliberalen Ideologie betrieben wird, die aus der Diktatur stammt und von den mehr oder weniger demokratischen Regierungen, die ihr mühsam folgten, eingeimpft wurde. Eine Gesellschaft, in der die Mehrheit der informell Beschäftigten nicht anerkannt wird, in der ein Prekariat von qualifizierten und ungelernten Arbeiter*innen mit Löhnen lebt, die nicht zum Lebensunterhalt reichen, in der verarmte Wissenschaftler*innen um ihre Existenz besorgt sind, in der desillusionierten Staatsangestellten eine Perspektive fehlt, in der Lehrer*innen einen ungleichen Kampf angesichts eines fehlenden politischen Willens für die ausreichende Finanzierung des Bildungswesen führen“ (Micael Cuesta, Revista Anfibia).

Milei verspricht der Bevölkerung alle möglichen Ein­schränkungen: Privatisierung des Erziehungs- und Gesund­­heits­wesens, Abschaffung der Gesetze zum Schwanger­schaftsabbruch und zum Sexualkundeunterricht in den Schulen, Streichung des Finanzausgleiches zwischen den argentinischen Provinzen, Schließung der Zentralbank, ein Ausgabenkürzungsplan für den Staat, der selbst harte IWF-Auflagen wie eine nette Vorschlagsliste erscheinen lässt, und vieles mehr. Gleichzeitig fordert er eine Liberalisierung des Organhandels und das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen. Am Wahlabend betonte Milei, sein Leitgedanke wäre „die Abschaffung der sozialen Gerechtigkeit, dieses politische Greuel“. Die möglichen desaströsen Konsequenzen seiner Vorschläge werden von den meisten seiner Wähler*innen ignoriert. Sie lassen sich durch seine Angriffe auf die „politische Kaste“ und seine Forderung nach einer „Dollarisierung“ der Wirtschaft blenden.

Die Widmung seines Wahlerfolges an seine Schwester Karina („el jefe“, er benutzt die männliche Form) und seine fünf Hunde oder „Kinder“, wie er sie nennt (geklonte Kopien seines Lieblinghundes Conan), bietet einen ersten Einblick in das Seelenleben dieses argentinischen Politikers. Dazu verrät er uns: In seiner Kindheit wurde er von seinem Vater fürchterlich verprügelt, mit der passiven Zustimmung der Mutter. Aus dieser Zeit stammt die Verbundenheit zur Schwester. Karina und Conan seien die beiden einzigen Wesen auf der Welt, denen er vertraue, betonte Milei in einem Interview mit CNN.

Was bedeutet der Erfolg Mileis für die Präsdentschaftswahlen? Am 22. Oktober findet deren erster Wahlgang statt. Aller Voraussicht nach wird keine*r der Kandidat*innen die notwendigen Stimmen für einen Wahlsieg in der ersten Runde erreichen (45% der Stimmen oder mindestens 40% und mehr als 10% Abstand zum/zur nächsten Kanditat*in). Die ausichtsreichen Kandidaten sind nach aktuellen Umfragen Javier Milei und Sergio Massa sowie die Kandidatin Patricia Bullrich.

Der amtierende Wirtschaftsminister Sergio Massa ist der Kandidat der „Unión por la Patria“, eine vom Peronismus/Kirchnerismus geführte Koalition. In den Vorwahlen setzte er sich klar gegen seinen Gegenkandidaten Juan Grabois durch. Obwohl er zum rechten Flügel des Kirchnerismus gehört und beste Verbindungen zu den internationalen Finanzinstitutionen verfügt, kann er mangels Alternativen mit der Unterstützung der peronistischen Gouverneure, der Gewerkschaftsdachverbände CGT und CTA und eines Teils der sozialen Bewegungen rechnen, auch weil er mit Agustín Rossi einen Vizepräsidentschaftskandidaten aus dem eher linkskirchneristischen Lager hat. Trotzdem sind seine Aussichten durch die sehr schlechte wirtschaftliche Lage des Landes getrübt.

Als Nachfolgerin des ehemaligen Präsidenten Macri kandidiert Patricia Bullrich für die konservative Koalition „Juntos x el Cambio“. Sie setzte sich klar gegen den gemäßigten Kandidaten Horacio Rodríguez Larreta bei den Vorwahlen durch. Frau Bullrich war in ihrer Jugend ein engagiertes Mitglied der links-revolutionären Montoneros. In den 90er-Jahren wurde sie dann zunächst zu einer glühenden Anhängerin des neoliberalen Peronisten Carlos Menem, um kurze Zeit danach das Arbeitsministerium unter dem gescheiterten Präsidenten Fernando de la Rúa zu leiten. Ihr Rechtsruck fand seinen vorläufigen Höhepunkt, als sie zwischen 2015 und 2019 Sicherheitsministerin unter Mauricio Macri wurde. In dieser Zeit ließ sie sich gerne in Tarnuniform ablichten und ist mindestens politisch verantwortlich für den Tod der beiden sozialen Aktivisten Santiago Maldonado und Rafael Nahuel. Ihre Parteifreundin (oder -feindin) Elisa Carrió warnte schon im internen Wahlkampf, dass die Politik, die Bullrich durchsetzen will, nur mit staatlicher Gewalt durchzuführen sei und dass die Vollstrecker dieser Politik sich in Zukunft „vor Gericht wegen Menschenrechtsverletzungen verantworten werden müssen“. Bullrich steht gegebenenfalls vor der Aufgabe, einen Spagat zwischen den gemäßigt konservativen Mitgliedern ihrer Koalition und dem rechtsextremistischen Fundamentalismus von Milei hinzubekommen. Ihr ehemaliger Chef Macri würde eine Allianz zwischen Bullrich und Milei in einem zweiten Wahlgang begrüßen.

Javier Milei kandidiert für die Koalition „La Libertad Avanza“. Diese Koalition hat keine eigenen Strukturen, sondern ist ein Sammelbecken gescheiterter Politiker aus dem konservativen und peronistischen Lager. Dazu gesellt sich die Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin,Victoria Villaruel. Sie stammt aus einer Familie von Mitgliedern der argentinischen Streitkräfte und gründete 2006 eine NRO, deren Ziel es ist, die Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), mit dem Hinweis auf die Gewalt der linken politisch-militärischen Organisationen der 70er-Jahre zu rechtfertigen. Außerdem ist sie die inoffizielle Botschafterin der rechtsextremistischen spanischen Partei VOX in Südamerika. Auch Milei ist schon bei VOX-Veranstaltungen in Spanien aufgetreten. Trotz seines neoliberalen Fundamentalismus ist Milei nicht der Wunschkandidat des argentinischen Establishments. Denn eine Präsidentschaft des exzentrischen Wirtschaftswissenschaftlers würde, über kurz oder lang, das Land ins absolute Chaos stürzen. Gegen das, was von ihm zu erwarten wäre, muss selbst die Politik Jair Bolsonaros als gemäßigt gelten.

Egal wie dieser erste Wahlgang am 22. Oktober ausgeht, Milei hat die Koordinaten der argentinischen Politik bereits eindeutig nach rechts gerückt. An dieser Situation kommt keiner seiner Widersacher vorbei.