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Ende einer linken Hoffnung

Vor 40 Jahren wurde die Revolution auf Grenada brutal beendet

Im vergangenen Monat gab es in den deutschsprachigen Medien erfreulich viele Beiträge zum 50. Jahrestag des Militärputschs in Chile. „Grausames Ende einer linken Hoffnung“ überschrieb die Wochenendausgabe des nd vom 9./10. September 2023 ihren sehr interessanten Themenblock. Der Titel passt ebenso gut auf das, was vor 40 Jahren, im Oktober 1983, auf der Karibikinsel Grenada geschah. Auch hier wurde eine linke Hoffnung – gleich zweifach – im Blut erstickt.

Gert Eisenbürger

Chile und Grenada lassen sich sicher nur bedingt vergleichen. In Chile hatte das Linksbündnis Unidad Popular 1970 die Wahlen gewonnen. Sein Wahlsieg war Ergebnis einer politisierten und gut organisierten Bewegung und starker linker Parteien, die ein politisches Programm präsentierten, das viele Menschen überzeugte. An der Spitze des Prozesses stand mit Salvador Allende ein erfahrener Politiker, der seit den 1930er-Jahren eine politische Rolle im Land spielte. Seine Regierung stand von Anfang an unter massivem Druck einer straff organisierten und extrem aggressiven Rechten, der chilenischen Oligarchie und der entscheidenden Machtgruppen in den USA. Mit der Unterstützung dieser Kräfte putschte das chilenische Militär am 11. September 1973 und beendete gewaltsam den eingeleiteten Veränderungsprozess.

In Grenada, einem Land mit weniger als 100 000 Einwohner*innen, gab es vor der Revolution keine gut organisierten Bewegungen und starken linken Parteien. Zwar hatte die People’s Alliance, eine Wahlallianz des linken New Jewel Movement und der gemäßigt konservativen Grenada National Party 1976 mit ihrem Spitzenkandidaten Maurice Bishop die Parlamentswahlen eigentlich gewonnen (anders als Chile ist Grenada keine präsidiale, sondern eine parlamentarische Demokratie nach dem Vorbild der einstigen Kolonialmacht Großbritannien), doch wurde ihr Sieg durch Wahlbetrug in eine knappe Niederlage verwandelt. So ergriff das New Jewel Movement im März 1979 in einem fast als Schelmenstück zu bezeichnenden Handstreich die Macht: Als der autoritäre Premierminister Eric Gairy anlässlich der UN-Vollversammlung in New York weilte, wurden der lokale Radiosender besetzt und die überwiegend schlafenden Soldaten in der einzigen Kaserne der kleinen Armee Grenadas überwältigt und festgesetzt. Opfer gab es dabei keine. Das Radio verkündete die Bildung einer „Revolutionären Volksregierung“ mit Maurice Bishop als Premierminister. Die Menschen wurden aufgerufen, für die „People’s Revolution“ auf die Straße zu gehen, was viele Tausende – in fröhlicher Feierlaune – auch taten. Der Umsturz wurde vor allem von der frustrierten Jugend Grenadas getragen, die unter der von Korruption und Vetternwirtschaft geprägten De-facto-Diktatur Eric Gairys keine Zukunftsperspektiven sah. Die im New Jewel Movement organisierten Leute waren vor allem junge Akademiker*innen, die an einem der Standorte der University of the West Indies in Barbados, Trinidad oder Jamaika studiert und dort in Teach-ins und linken Zirkeln politische Alternativen für die Region diskutiert hatten. Die meisten waren altersmäßig in den Zwanzigern, nur die Führungsriege um Maurice Bishop, Unison Whiteman, Kenrick Radix, Jacqueline Creft sowie Bernard und Phyllis Coard waren Mitte dreißig – also Vertreter*innen der karibischen 68er.

Trotz ihrer relativen politischen Unerfahrenheit begannen die jungen Revolutionär*innen rasch, ein beeindruckendes wirtschaftliches und soziales Reformprogramm umzusetzen. Sie strebten eine gemischte Wirtschaft mit einem privaten, einem staatlichen und einem genossenschaftlichen Sektor an. Die Besitztümer Gairys und seiner engsten Günstlinge wurden verstaatlicht, ansonsten wurde die Privatwirtschaft nicht angetastet. Die Unternehmen sollten lediglich ihre Steuern zahlen.

Tourismus und Agroindustrie, also die Weiterverarbeitung der auf der Insel angebauten Produkte (Bananen, Kakao, Zuckerrohr, Früchte und Gewürze) etwa zu Säften, Marmeladen, Saucen oder Chutneys, sollten wichtigste Säulen der Wirtschaft werden. Der Schul- und Erwachsenenbildung wurde Priorität eingeräumt, das Gesundheitswesen ausgebaut. Dabei waren Ärzt*innen aus Cuba, Kanada oder der BRD im Einsatz, wobei die Cubaner*innen und Kanadier*innen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ihrer Länder tätig waren, während eine bundesdeutsche Ärztin selbstorganisiert auf die Insel kam, um die Revolution zu unterstützen.

Bei einem großen Teil der Bevölkerung kamen die Regierung Bishop und ihre Maßnahmen gut an. Das war mein Eindruck während der vier Monate (Juli bis Oktober 1983), in denen ich in Grenada lebte. Die meisten Leute äußerten sich zufrieden, auch wenn immer wieder Kritik an einzelnen Verantwortlichen oder Maßnahmen zu hören war. Angst, sich kritisch zu äußern, hatte niemand. Nicht ganz so begeistert waren die lokalen „Businessmen“. Sie traf man zum Beispiel in einem von einem Österreicher betriebenen Restaurant an der Hafenmole der kleinen Inselhauptstadt St. George’s. Aber so unzufrieden, dass sie sich – wie die Bourgeoisie in Chile – gegen die Revolution organisiert hätten, waren sie nicht. Vermutlich transferierten sie einen Teil ihrer in Grenada verdienten Dollars ins Ausland, was ihre Kolleg*innen auf den konservativ regierten Nachbarinseln allerdings auch taten. Das Vertrauen der Wohlhabenden in britische und US-amerikanische Banken ist überall in der Karibik größer als das in die eigenen Volkswirtschaften, in denen sie ihr Vermögen vermehren.

Die Identifikation der meisten Grenadiner*innen mit der Revolution lief über „Comrade Maurice Bishop“. Der charismatische junge Premierminister war ein genialer Kommunikator. Er registrierte genau, was die Leute bewegte und was sie störte. Das griff er in seinen Reden auf und erklärte, was die Regierung ändern wolle, damit dieses oder jenes Problem gelöst würde. Dabei waren seine Lösungsvorschläge, anders als bei Populist*innen, die immer blumig und vage bleiben, meist sehr konkret. Ich habe ihn im August 1983 auf einer internationalen Solidaritätskonferenz in St. George’s erlebt. Er war erfrischend offen, spontan und humorvoll, hatte überhaupt nichts von einem realsozialistischen Apparatschik oder dem damals schon kantigen und humorlosen Bürokraten Daniel Ortega.

Die Revolution in Grenada passte der Reagan-Regierung in den USA überhaupt nicht. Offiziell wurde die Gefahr einer sowjetisch-cubanischen Expansion in der Karibik beschworen, inoffiziell fürchtete man vor allem die Wirkung, die das Beispiel Grenada auf die afroamerikanische Bevölkerung in den USA haben könnte. Im Gegensatz zum Kommunismusgeschwätz war diese Annahme keineswegs grundlos. Schwarze US-Aktivist*innen und Intellektuelle wie Angela Davis, Harry Belafonte oder Audrey Lorde (deren Eltern aus Grenada stammten) verfolgten die Entwicklung Grenadas mit großer Sympathie und mobilisierten zur Unterstützung der Revolution.

Ins Zentrum der US-Propaganda gegen die Regierung Maurice Bishop stand deren wichtigstes Projekt für den Ausbau des Tourismus. Anders als Nachbarinseln wie Barbados oder St. Lucia verfügte Grenada über keinen Flughafen, der von größeren Maschinen angeflogen werden konnte. Jede*r, die/der nach Grenada wollte, musste über Barbados, Trinidad oder Cuba fliegen und dort in eine kleine Propellermaschine umsteigen. Deshalb hatte die Weltbank schon lange vor der Revolution den Bau eines neuen Flughafens angeregt. Die Regierung Bishop setzte dieses Vorhaben um. Weil es auf der Insel keine Baufirmen gab, die ein solches Projekt hätten stemmen können, und die internationalen Finanzinstitutionen auf Druck Washingtons den Bau plötzlich nicht mehr finanzieren wollten, schloss die Regierung Grenadas ein Abkommen mit Cuba, das Know-how und das notwendige Gerät lieferte sowie 600 Bauarbeiter schickte. Die Reagan-Regierung sprach postwendend vom Bau eines „cubanischen Luftwaffenstützpunktes“ und bezeichnete die Bauarbeiter als „cubanische Truppen“.

Die US-Propaganda verfehlte ihre Wirkung nicht. Aus den USA, woher bis 1979 die meisten Tourist*innen nach Grenada gekommen waren, reisten nun deutlich weniger Menschen auf die Insel. Das bedeutete geringere Deviseneinnahmen. Halbleere Hotels bedeuteten auch weniger Nachfrage nach den Produkten der neuen Lebensmittel verarbeitenden Betriebe.

Als Reaktion auf die feindselige Politik der USA bemühte sich die Regierung Grenadas um bessere Beziehungen mit Kanada und verschiedenen europäischen Staaten. Eine Fraktion im New Jewel Movement verlangte dagegen eine Verschärfung des politischen Kurses, insbesondere sollten die privaten Betriebe stärker belastet oder gleich verstaatlicht werden. Dies lehnte die Mehrheit der Regierung ab, weil sie für ein Verstaatlichungsprogramm nicht die Fachleute hatte, die die Betriebe hätten führen können. Zudem hätte das ihre außenpolitische Offensive torpediert.

Das New Jewel Movement hatte nach dem März 1979 keine große politische Rolle mehr gespielt. Die meisten Leute, die es gegründet hatten, waren in der Regierung oder nahmen sonstige öffentliche Aufgaben wahr, hatten keine Zeit und wohl auch kein Interesse mehr, sich in die Parteiarbeit einzubringen. Bernard und Phyllis Coard nutzten dies und bauten die Partei zusammen mit Armeechef Hudson Austin zu ihrem Machtinstrument aus. Sie schulten die noch nicht in politischen Ämtern tätigen, sehr jungen Parteimitglieder in den Dogmen und Regeln des Marxismus-Leninismus. Es sei notwendig, dass die Arbeiterklasse (in Ermangelung einer solchen die Führung der Partei, also sie) die Führung des revolutionären Prozesses übernehme.

Da Bernard Coard in der Bevölkerung wenig populär war, verlangten sie eine „kollektive Führung“, womit gemeint war, dass Coard die Macht übernehmen und Maurice Bishop seine Entscheidungen gegenüber der Bevölkerung kommunizieren sollte. Nach Beratungen mit Fidel Castro, mit dem ihn ein besonderes Vertrauensverhältnis verband, lehnte Bishop dieses Ansinnen ab. Daraufhin ließen ihn die Coards und Austin von Sicherheitskräften verhaften und unter Hausarrest stellen. In seinem dieses Jahr bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung erschienenen grandiosen Kriminalroman „Shadowman“ beschreibt Jacob Ross, Grenadas wichtigster Schriftsteller, in einer Szene den ehemaligen Sitz des Premierministers: „Ein Mann, den die Nation geliebt hatte, hatte die Insel von dort oben aus regiert. Eines Tages hatten ihn seine Parteigenossen in die große Eingangshalle dieser verfallenen Villa bestellt und ihn wissen lassen, dass sie ihn vernichten würden, wenn er nicht tat, was sie sagten. Fünf Tage später war er tot.“ (S. 449)

Das ist in sehr knappen Worten das, was am 14. und 19. Oktober in Grenada geschah.

Allerdings erlebte Grenada in den fünf Tagen eine zweite People’s Revolution, die dann blutig beendet wurde. Als die Nachricht von der Inhaftierung Bishops im Radio verkündet wurde, waren zunächst alle geschockt. Bereits am folgenden Tag begann der Widerstand. Es gab einzelne kleinere Demonstrationen und erste Streiks. Am 17. und 18. Oktober begannen immer mehr Schüler*innen, dem Unterricht fernzubleiben, und zogen mit dem Ruf „No Bishop, no school“ durch ihre Gemeinden. Immer mehr Beschäftigte verließen ihre Arbeitsplätze, Ladenbesitzer*innen schlossen ihre Geschäfte. Ab dem 18. Oktober gab es faktisch einen landesweiten Generalstreik. Obwohl den niemand offiziell ausgerufen hatte, koordinierten der Gewerkschaftsbund TUC und sein Vorsitzender Fitzroy Bain die Aktivitäten und stellten die Verbindungen zwischen den Streikenden her. Ich wohnte damals mit einigen anderen Internationalist*innen an einer Zufahrtsstraße zum Zentrum von St. George’s. Am 19. Oktober wurden wir durch lauten Verkehrslärm geweckt. Ab dem frühen Morgen fuhren lange Schlangen von PKWs, Pickups und Lastwagen, die Ladeflächen voller Leute, in die Stadt. Viele waren zu Fuß unterwegs. Überall gab es selbstgemalte Schilder, auf denen „Bishop, not Coard!“ stand. Am frühen Vormittag meldete Radio Free Grenada, eine große Menschenmenge habe Maurice Bishop aus seinem Hausarrest befreit. Er habe sich zum Fort Rupert, einer alten Festung oberhalb des Stadtzentrums, begeben, um sich mit anderen Regierungsmitgliedern zu beraten. Für 14 Uhr wurde eine Rede angekündigt. Gegen 13 Uhr waren bis in die Außenbezirke Detonationen und Schüsse zu hören. Dann herrschte gespenstische Ruhe. Zwei Panzer und mehrere Mannschaftswagen der Armee waren in die Stadt gefahren und hatten das Feuer auf die Demonstrierenden eröffnet. Später erfuhr ich, dass eine Gruppe unter Führung eines 25-jährigen Unteroffiziers, der länger in den USA gelebt hatte, zum Fort Rupert gerast war und die dort versammelten Regierungsmitglieder beschossen hatte. Insgesamt gab es in der Stadt und im Fort zwischen 60 und 150 Tote und Verwundete. Unter den Toten waren Maurice Bishop sowie die Minister Norris Bain, Jacqueline Creft, Vincent Noel, Unison Whiteman und Gewerkschaftschef Fitzroy Bain.

Etwas später meldete das Radio, Bishop und mehrere Minister hätten Widerstand gegen die Anweisungen der Sicherheitskräfte geleistet und seien bei einem Feuergefecht getötet waren. Ein Revolutionärer Militärrat habe die Macht übernommen, eine Ausgangssperre wurde verhängt.

Die Reagan-Regierung nutzte die Gunst der Stunde. Die Ermordung Bishops, den sie seit Jahren bekämpft hatte, nahm sie zum Anlass für eine Militäraktion: Am 25. Oktober landeten US-Truppen auf Grenada. Ein Angriffskrieg, der, wie Großmächte das zu tun pflegen, nicht Krieg, sondern Spezialoperation genannt wurde, konkret „Operation Urgent Fury“. Nach vier Tagen war der letzte Widerstand der Armee Grenadas gebrochen.

Da direkte US-Militärinterventionen in Lateinamerika und der Karibik einen zunehmend schlechten Ruf hatten, wurde das Ganze als Unterstützung einer Operation der Organisation Ostkaribischer Staaten bezeichnet. Deren „Beteiligung“ bestand darin, dass die US-Luftwaffe nach Ende der Kämpfe ein Flugzeug mit Soldaten aus Jamaica, Trinidad & Tobago, Dominica und anderen Karibikinseln nach Grenada schickte, die dann für die ebenfalls eingeladene internationale Presse auf den Straßen von St. George’s patrouillieren durften.

Die grenadinische Revolution endete nicht mit der US-Invasion am 25. Oktober, sondern mit den Morden am 19. Oktober. Wie Patrice Lumumba 1961 im Kongo, Salvador Allende 1973 in Chile und Thomas Sankara 1987 in Burkino Faso wurde auch Maurice Bishop getötet, weil er an der Spitze eines Prozesses stand, der die neokolonialen Machtverhältnisse herausforderte. Wie bei Lumumba, Allende und Sankara mussten sich die Machthaber in Brüssel, Paris und Washington die Hände dabei nicht selber schmutzig machen. Sie fanden lokale Handlanger, die das für sie erledigten. In Grenada sogar welche, die sich selbst als Linke bezeichneten.