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Die Dynamik des Unvorstellbaren

Wie ein Rechtsextremist zum argentinischen Präsidenten gewählt wurde

Nach dem ersten Wahlgang am 22. Oktober keimte bei den für Demokratie und Menschenrechte eintretenden Argentinier*innen die Hoffnung auf, der prognostizierte Wahlsieg des Rechtsextremisten Javier Milei könne doch noch verhindert werden. Doch die Hoffnung trog: Mit knapp 56 Prozent der Stimmen siegte Javier Milei im zweiten Wahlgang am 19. November deutlich gegen den gemäßigten Peronisten Sergio Massa, der nur auf 44 Prozent kam.

Roberto Frankenthal

Beim ersten Wahlgang am 22. Oktober lag Sergio Massa, der Kandidat der Regierungsallianz, die diesmal unter dem Namen „Unión por la Patria“ angetreten war, zur Überraschung vieler mit 37 Prozent der Stimmen vorne. Javier Milei, der eigentlich bereits in der ersten Runde alles klar machen wollte, kam nur auf 30 Prozent und die Konservative Patricia Bullrich auf 23 Prozent. Während die beiden Letztgenannten mehr oder weniger ihre Ergebnisse aus den Vorwahlen im August wiederholten, erhielt Massa fast drei Millionen mehr Stimmen als in den Vorwahlen.

Während des Wahlkampfes hatte Javier Milei (ausgestattet mit einer Kettensäge in der Hand) angekündigt, die Zentralbank aufzulösen, die Landeswährung Peso aufzugeben und durch den US-Dollar zu ersetzen, Subventionen radikal zu kürzen und die Ministerien für Umwelt, Kultur, Frauen, Soziales und einige mehr abzuschaffen. Seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel verurteilte die von den letzten Regierungen praktizierte Politik von „Recht, Wahrheit und Erinnerung“, also die Verfolgung der Verbrechen der letzten Diktatur (1976-83), und versprach, diese rückgängig zu machen. Offensichtlich ein „Programm“, das noch nicht mehrheitsfähig war.

In der Woche nach dem ersten Wahlgang zog sich Massa aus der Öffentlichkeit zurück und traf sich mit Würdenträgern auf provinzieller und lokaler Ebene, um den zukünftigen Wahlkampf zu organisieren. In seiner Ansprache versprach er die Bildung einer Regierung der „Nationalen Einheit“, der auch Minister aus den Reihen der jetzigen Opposition angehören sollten. Massa gewann in den Wochen darauf die Unterstützung vieler Führungsmitglieder der liberal-konservativen „Unión Cívica Radical“ (UCR), die bis dahin ein Teil der konservativen Koalition „Juntos por el Cambio“ gewesen war, der besonders in der Provinz Santa Fe starken sozialdemokratischen „Partido Socialista“, zahlreicher Intellektueller und Menschen aus dem argentinischen Kulturbetrieb. Sogar ein Teil der – traditionell streng antiperonistischen – Trotzkist*innen und ihrer Wahlallianz „Frente de Izquierda y de Trabajadores (FIT) sprach sich für ihn als geringeres Übel aus. Unterstützung erhielt er auch aus den Kreisen der argentinischen Menschenrechtsbewegung. Seine Bemühungen, zwischen beiden Wahlgängen eine breitere Koalition zu bilden, trugen also durchaus Früchte. Dennoch wurden sie von den Wähler*innen nicht honoriert.

Milei war da viel erfolgreicher. Der Typ, der vor dem 22. Oktober die gesamte „politische Kaste“, ob peronistisch oder rechts, in Bausch und Bogen verurteilte, entdeckte nun seine Liebe für die Konservativen. Am 24. Oktober fand ein Treffen im Hause des ehemaligen Präsidenten Macri statt. Unter den Augen des Hausherrn trafen sich dort Milei und die erfolglose Kandidatin Bullrich. Nach eigenen Angaben entschuldigte man sich für die Beschimpfungen vor dem ersten Wahlgang (Bullrich nannte Mileis Vorschläge hirnrissig, Milei bezeichnete die Gegenkandidatin als ehemalige Bombenwerferin der Montoneros), und am Ende des Abends beschlossen Macri und Bullrich, die Kandidatur von Milei zu unterstützen. Dieser hatte schon am Wahlabend des 22. Oktober sehr konziliante Töne angeschlagen, bezeichnete nur noch den Kirchnerismus als Verkörperung der verhassten politischen Kaste und ging so weit, der trotzkistischen Koalition FIT die Übernahme eines Kabinettspostens in einer künftigen Regierung anzubieten. Und das, obwohl die trotzkistische Präsidentschaftskandidatin Myriam Bregman Milei, der sich im Wahlkampf als „Löwe“ präsentierte, umgekehrt als „Schmusekatze des Establishments“ charakterisierte.

Auf Drängen Macris, der seine Kampagne auch finanziell unterstützen sollte, wurde Milei tatsächlich zu einer Art Schmusekatze der Konservativen, zumindest in seinen öffentlichen Auftritten. Abgelegt und versteckt blieb nunmehr die Kettensäge, die er bis dahin als künftiges Regierungsinstrument angepriesen hatte. Er präsentierte sich fortan deutlich zurückhaltender und auch für große Teile des traditionell antiperonistischen Mittelstands wählbar, die in der ersten Runde für Bullrich votiert hatten.

Mileis Bewegung verfügt über keinerlei parteipolitische Strukturen, und so übernahm Macri (dessen Koalition „Juntos por el Cambio“ nach seiner Annäherung an den Rechtsextremisten zusammenbrach) die Aufgabe, genügend Wahlhelfer*innen für ihn zu organisieren und zu finanzieren. Als Gegenleistung sollte Milei in einer künftigen Regierung seinem Vorgänger Macri in zwei Bereichen besonderen Einfluss gewähren, im öffentlichen Bauwesen (in dem zufälligerweise Macris Wirtschaftsunternehmen tätig ist) und in der Justiz, um weiterhin Untersuchungen über seine Amtszeit und die Tätigkeit der Macri-Unternehmensgruppe zu verhindern.

Seine Anbiederung an das konservative Establishment schadete Milei bei seiner überwiegend männlich-jungen, von allen Parteien enttäuschten Klientel keineswegs. Sie wählte ihn auch in der zweiten Runde. Zusammen mit den Wähler*innen Bullrichs verhalfen sie ihm zu dem klaren Sieg. Am Ende lag Milei in 21 der 24 Provinzen vorne. Wie bei anderen Wahlen davor gewannen Massa und die Peronist*innen zwar in der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires, aber ihr knapper Vorsprung dort reichte nicht aus, um die zum Teil empfindlichen Wahlverluste in anderen Provinzen auszugleichen.

Man kann den Wahlausgang vom 19. November wirklich als historisch bezeichnen, denn bis jetzt ist in keinem Land der Welt ein „Anarcho-Kapitalist“, wie Milei sich selber nennt, zum Präsidenten gewählt worden. Seinen grundsätzlichen Hass auf den Staat hat er einmal folgendermaßen beschrieben: „Der Staat ist wie ein Kinderschänder, dem man alleine in einen Kindergarten Zutritt gewährt.“

Allerdings muss man sagen, dass auch ein Wahlsieg Massas historisch gewesen wäre. Noch nie konnte ein amtierender Wirtschaftsminister bei über 140 Prozent Jahresinflation und 40 Prozent der Bevölkerung, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben, eine Wahl gewinnen. Massa war erst seit Juli 2022 Wirtschaftsminister und sicher nicht für die gesamte Krise verantwortlich, aber er war seit 2019 ein wichtiger Teil der Regierungskoalition „Frente de Todos“ (jetzt „Unión por la Patria“).

Am 22. Oktober fanden auch Wahlen zur Teilerneuerung des argentinischen Parlaments statt. Für Mileis „La Libertad Avanza“ (LLA) enttäuschend. Sie wird in der Abgeordnetenkammer nur 37 von 257 Mandaten stellen, im Senat sieben der 72 Sitze. Mileis Partei wird Alliierte suchen müssen, um Gesetze beschließen zu lassen. Der naheliegende Partner ist die konservative Koalition „Juntos por el Cambio“, aber die hat sich faktisch aufgelöst. Die liberal-konservative UCR, die von der früheren Abgeordneten Elisa Carrió geprägte „Coalición Cívica“ und andere kleinere Partner von „Juntos“ äußerten sich massiv gegen Milei. Ob ihre Abgeordneten nach dem 10. Dezember, dem Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten, ihre grundsätzliche Opposition gegen Milei aufgeben, steht noch offen.

Selbst die Unterstützung Mileis durch die Abgeordneten der Macri-Partei PRO ist nicht zu 100 Prozent sicher. Umgekehrt waren einige gewählte Vertreter*innen von Mileis LLA gegen den Zusammenschluss mit Macri und gaben bereits ihre Zugehörigkeit zu deren Fraktion auf. Andererseits werden sicherlich einige Abgeordnete der Peronist*innen und der Provinzparteien – gegen entsprechende Posten- oder Finanzzusagen – auf den Wahlgewinner setzen. Trotzdem wird die parlamentarische Arbeit der neuen Regierung nicht einfach werden.

Eine ähnliche Situation ergibt sich bei der Bildung der neuen Regierungsmannschaft. Ein Regierungswechsel in Argentinien bedeutet nicht nur die Auswechslung der Minister*innen und Spitzenbeamt*innen, sondern auch von großen Teilen der Ministerialbürokratie. Es wird geschätzt, dass jede neue Regierung rund 10000 eigene Leute braucht, um die Hebel des Staates in Bewegung zu setzen. Auch wenn Milei fest vorhat, den Staatsapparat radikal zu verkleinern, braucht auch er viele politische Beamt*innen mit Erfahrung. Da er die nicht hat, muss er zwangsweise auf den Apparat Macris und sogar die alten Kräfte zurückgreifen, die schon Menem (neoliberaler Präsident von 1989-1999) gedient hatten.

Ein anderer Aspekt kann nicht unerwähnt bleiben. Der Verfasser dieser Zeilen ist weder Psychologe noch Psychiater, verfügt aber über ein Mindestmaß an Menschenverstand. Und jede*r, die/der ein Fernsehinterview oder eine Ansprache des künftigen argentinischen Präsidenten gesehen hat, kann auch ohne Fachkenntnisse erkennen, dass sich Herr Milei schwertut mit seinem Gemütshaushalt. Seine Verbalattacken bei Widerspruch, sein Zurückgreifen auf die Fäkalsprache sind Teil einer – gelinde gesagt – sehr komplexen Persönlichkeit. Seine Fixierung auf seine Schwester Karina Milei (zweifellos die Kampagnenleiterin seines Wahlerfolges), die er selber als „El Jefe“ (ja maskulin, obwohl es die Schwester ist) bezeichnet und schon mal mit Moses verglichen hat (er selbst wäre bei dieser Konstellation Aaron, der Verbreiter der Worte Moses‘), und die abgöttische Liebe für seinen bereits 2017 gestorbenen Hund Conan (den er aber weiterhin regelmäßig vor wichtigen Entscheidungen konsultiert) zeigen das Profil einer mindestens leicht gestörten Persönlichkeit. Wie eine solche Person das chaotische Land am südlichen Zipfel Lateinamerikas leiten will, wird man ab dem 10. Dezember sehen.

Begleitet wird er von einer Vizepräsidentin, die dafür umso transparenter ist. Victoria Villarruel ist eine 48 Jahre alte Rechtsanwältin. Sie ist seit rund 25 Jahren politisch aktiv – mit nur einem Ziel: der Relativierung und inzwischen Negation der während der letzten Militärdiktatur (1976-83) begangenen Menschenrechtsverbrechen. Sowohl ihr Vater als auch ihr Onkel, Offiziere der argentinischen Armee in der damaligen Zeit, waren an solchen Verbrechen beteiligt. Ihr Vater unterstützte 1987 sogar die Carapintadas-Aufstände gegen die demokratische Regierung Alfonsín und weigerte sich, einen Eid auf die Verfassung zu schwören, was seine Versetzung in den Ruhestand zur Folge hatte. Frau Villarruel ist auch diejenige, die mit rechtsextremistischen Gruppen auf der ganzen Welt, besonders in Europa, Kontakt aufrechterhält. Nicht ohne Grund wird sie als Botschafterin der spanischen rechtsextremen Partei VOX in Lateinamerika bezeichnet. Bei einer Wahlkampfveranstaltung noch vor wenigen Wochen griff sie Estela de Carlotto an, die Leiterin der Großmütter der Plaza de Mayo („Mit diesem Anschein einer gütigen Großmutter hat sie den Terrorismus gerechtfertigt“). Am 24. März 2024, Jahrestag des Putsches von 1976 und bis jetzt ein Nationalfeiertag in Argentinien, wird man feststellen können, inwieweit der Negationismus von Milei-Villarruel sich durchgesetzt hat.

Schlussbemerkung frei nach Shakespeare: „Etwas ist faul in der argentinischen Gesellschaft.“ Schon der rasante Aufstieg Mileis bedeutete, dass sehr viele Argentinier*innen nicht mehr an die gemeinsamen Werte, die seit 1983 erkämpft worden sind, glauben und/oder diese überhaupt nicht kennen. Seit der Pandemie verbreitet sich im Land eine tiefe Abkehr von einem solidarischen Verhalten hin zu einem „Rette sich wer kann“-Individualismus. Der breitet sich auch anderswo aus, aber vor dem Hintergrund der nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden mörderischsten Diktatur in der Geschichte ganz Lateinamerikas ist die Lage in Argentinien eine besondere. Die tolerierte und von manchen konservativen Kräften unterstützte Gewalt in den Straßen brach sich bereits in dem gescheiterten Mordversuch an Cristina Fernández de Kirchner im September 2022 Bahn. In den Regierungspalast „Casa Rosada“ zieht am 10. Dezember ein Präsident ein, der seit Jahren nur noch Hass über die Medien verbreitet. Leider sind die Aussichten, dass dieser Hass nicht in Taten umgesetzt wird, gering. Es bleibt abzuwarten, ob Widerstand oder Resilienz eines Teils der argentinischen Bevölkerung diese Hasswelle brechen können.