ila

Kanonisierung statt Sprengstoff

Rezension der umfassendsten deutsch-spanischen Lyrikanthologie

Die 2022 erschienene vierbändige Mammutanthologie spanischsprachiger Poesie mit deutscher Übersetzung wurde von der Literaturkritik hochgelobt. 2500 Seiten „Spanische und hispanoamerikanische Lyrik“ vorzulegen, also aus einer immensen Fülle hervorragender Dichtung auszuwählen, ist ja auch ein gewaltiges Unternehmen. Unser Autor rezensiert die Anthologie mit Fokus auf Lateinamerika – und mahnt das Fehlen zeitgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Einordnungen an. Es bleibt die Frage: Kann man (lateinamerikanische) Lyrik ohne den Kontext verstehen?

Ulrich Winter

Im Jahr 2022 war Spanien Gastland der Frankfurter Buchmesse – Anlass für den Münchner Romanisten und Komparatisten Martin von Koppenfels, gemeinsam mit Kolleg*innen und Übersetzer*innen die bislang umfassendste Anthologie spanischsprachiger Lyrik im deutschen Sprachraum vorzulegen. Auf 2500 Seiten und in über 800 Gedichten spannt sich der Bogen über den Atlantik, von den Anfängen volkssprachlicher Dichtung im Al-Andalus des 11. Jahrhunderts bis zur chilenischen Gegenwartspoesie. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass Reichtum und Vielfalt spanischsprachiger Literatur wohl am besten in der Dichtung zu greifen sind, dann wäre er hiermit definitiv erbracht.

Für die deutschsprachigen Versionen wurde teils auf bekannte Übertragungen zurückgegriffen – gute, kongeniale, klassische, aber auch einige in die Jahre gekommene Versuche sind hier zu finden –, teils haben sich die Herausgeber*innen für eine Neuübersetzung entschieden. Manche Gedichte liegen erstmals auf Deutsch vor. Wer Gelegenheit hatte, auf der Buchmesse in die Übersetzerwerkstatt hineinzuhören, konnte einen Eindruck von der Gewissenhaftigkeit, Detailverliebtheit und Verbissenheit gewinnen, mit der diese Herausforderung in Angriff genommen wurde. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen beeindruckend. Man kann sicher sein, dass dieser schön gestaltete vierbändige Schuber für die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte eine Referenzausgabe für spanischsprachige Dichtung im deutschen Sprachraum sein wird. Jeder Band ist mit einem Nachwort versehen, und in den Anmerkungen findet man teils knappere, teils ausführlichere biografische Skizzen und Text-Kommentare sowie ein nützliches Register bisheriger Übertragungen.

Für alle Lateinamerika-Interessierten sind vor allem die von Susanne Lange und Petra Strien zusammengestellten letzten beiden Bände der Anthologie ergiebig. Der dritte Band widmet sich dem „Modernismo“ (1880-1940), jener transatlantischen Internationale der Poesie, die erstmals die Objekte des Alltags und den Mief der Großstadt mit musikalischer Wucht in Sprache bannt. Es ist nach dem Barock der zweite große kulturgeschichtliche Moment westlicher Globalisierung, der wesentlich vom lyrischen Ausdruck geprägt ist. Vor allem aber ist es der erste große lateinamerikanische Moment der Dichtung. Die Impulse dieser Erneuerungsbewegung kommen nicht mehr aus Europa. Protagonisten sind vielmehr der cubanische Freiheitskämpfer José Martí mit seinen „Versos sencillos“ (einfache Verse), Rubén Darío, Kulturvermittler zwischen Lateinamerika, Paris und Madrid, die Avantgardisten Vicente Huidobro und César Vallejo, der frühe Pablo Neruda. Der vierte Band setzt in den 1930er-Jahren ein und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart. Neben bekannten Namen wie José Lezama Lima, Octavio Paz, Severo Sarduy, Roque Dalton, Raúl Zurita oder Nicanor Parra sind erfreulich viele hierzulande weniger gelesene Dichter*innen vor allem aus Mexiko, Cuba, Peru, Chile und Argentinien (wieder) zu entdecken.

Das Mammutprojekt hätte natürlich mühelos das Doppelte an Seiten ergeben können. Aber wie immer, wenn es um „spanischsprachige“ Literatur diesseits und jenseits des Atlantiks geht, musste sich auch dieses Herausgeber*innenteam fragen: Soll Einheit in der Vielfalt abgebildet werden oder Heterogenität? Welche philologischen Verzweigungen einerseits, welche kulturellen Kontexte andererseits können oder müssen bereitgestellt werden, um Lyrik verstehbar zu machen? Immerhin ist Lyrik eine Gattung, die sich ja ebenso an der Formensprache abarbeitet wie an konkreten politischen Zeitumständen. Diese Fragen haben die Herausgeber*innen teils schon dadurch beantwortet, dass sie sich gegen einen kulturwissenschaftlichen und für einen eher klassisch literaturwissenschaftlichen Zugang entschieden haben, ein Ansatz, der nicht immer frei von Eurozentrismus und Kanonisierungstendenzen ist. So enthält der Anmerkungsapparat vor allem Deutungen und Rezeptionsgeschichte, wobei freilich sehr schön der internationale Resonanzraum der Gedichte zur Geltung kommt. Im Vordergrund steht, charakteristischerweise, die Aufnahme europäischer Traditionen in der lateinamerikanischen Lyrik oder umgekehrt, wie im Falle des Modernismo. Ein europäischer Zug zeigt sich manchmal auch in den Neuübersetzungen. Zwar wurde das leere Pathos der Lorca-Übersetzungen Heinrich Enrique Becks endgültig ausgemerzt, doch kehrt der goethisierende Ton gelegentlich wieder, etwa wenn die sonst vorzügliche Susanne Lange Roque Daltons Einzeiler „Después de la Bomba atómica“: „Polvo serán, mas, ¿polvo enamorado?“ mit „Staub sein ist ihr Los, doch Staub, der Liebe spürt?“ wiedergibt.

Zumeist greift der Kommentar zeithistorische Umstände auf und endet mit einer ästhetischen Einordnung. Ein stärkerer kulturwissenschaftlicher Zugriff hätte erhellen können, in welchem Maße es politische, soziale und kulturelle Machtverhältnisse und die Gewalt der Putsche und Revolutionen sind, die bestimmte Formen, Bilder und Schreibweisen hervorbringen. Für das Verständnis mancher Gedichte ist dies unabdingbar. Dabei variieren die Anmerkungen je nach Übersetzer*in. Dass etwa Nicolás Guillén spanische Metrik durch afrocubanische Rhythmik aufbricht und dabei das Schicksal afrikanischer Sklaven auf Cuba thematisiert oder Octavio Paz mit seinem „Piedra de sol“ die präkolumbischen Kulturen evoziert, wird mehr als ästhetische und weniger als politische Dimension der Gedichte verbucht. Die Anmerkungen zu Raúl Zuritas Landschaftsszenen hingegen sind sehr ausgewogen. Vielleicht ist der eher traditionelle Zugang einer der Gründe, weshalb manche weibliche Autorinnen in der Anthologie nicht vorkommen, geschweige denn Fragen von Genderdiversität. Die einflussreichen zentralamerikanischen Autorinnen und Frauenrechtlerinnen Gioconda Belli und Ana María Rodas sucht man vergeblich, ebenso den Befreiungstheologen und Revolutionär Ernesto Cardenal – eine besonders schmerzliche Lücke.

Brisant für den transatlantischen Raum ist die Sprachen­frage. Das beginnt schon damit, dass gemeinhin als Beginn „spanischer“ Lyrik auf der Iberischen Halbinsel die „jarchas“ gelten, altspanische Schlussverse arabischer Muwaschschahs, und endet damit, dass zahlreiche Lyriker*innen Lateinamerikas auch Einflüsse indigener Sprachen geltend machen. Die Anthologie nimmt hier eine großzügig hegemoniale Sichtweise ein: „spanische und hispanoamerikanische Lyrik“. Dass brasi­lianische Lyrik fehlt, liegt dann in der Logik der Sache – warum aber die portugiesische Dichtung mit Luis de Camões (1524-1579/80?) vertreten ist, wo doch Portugal zu Lebzeiten des Dichters von Spanien unabhängig war, bleibt rätselhaft. Mit dem gleichen Recht, mit dem die Muwaschschahs auf Arabisch abgedruckt werden, hätte man zum Beispiel die indigenen Sprachen Mesoamerikas oder Chiles mit hineinnehmen können. Ähnliches gilt für die peninsulare Lyrik: Rosalia de Castro steht stellvertretend für das Galizische als Literatursprache, aber diese wie auch die übrigen Minderheitensprachen der Iberischen Halbinsel kommen ansonsten kaum oder gar nicht vor. Freilich hatten viele indigene Sprachen bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts (wenn sie nicht sowieso vorher ausgestorben waren) gar keine Schriftkultur und sind (wenn überhaupt) in Publikationen mit nur kleinen Auflagen eingegangen. Vielleicht wurden sie deshalb von den Herausgeber*innen übersehen. Ähnlich verhält es sich mit der Präsenz Schwarzer Lyrik in Lateinamerika.

Diese Anthologie – und das ist auch sinnvoll und gut so – wird sicherlich einen wichtigen Beitrag zur Kanonisierung leisten. Man hätte ihr gerade deshalb gewünscht, dass sie auch zum Ort für die symbolische Anerkennung der über 600 indigenen Völker Lateinamerikas mit ihren Sprachen und Weltbildern werden würde. Zum Trost kann man sich hier die Worte Jaime Huenún Villas in Erinnerung rufen. Im Vorwort seiner „Antología de poesía indígena latinoamericana: los cantos ocultos“ (Anthologie indigener lateinamerikanischer Poesie: versteckte Gesänge) von 2008 schreibt er, dass einige dieser verlorenen Kulturen selbst bei den Kanonautoren noch durchzuhören sind, so etwa in der gebrochenen Syntax César Vallejos die Sprache der Chimú und „in den kostbaren Alexandrinern Rubén Daríos der Chor der Chorotega und die vegetale Symphonie der Maya“ (2008, 7). Die von der Kritik zu Recht umjubelte Anthologie ist, so oder so, eine aufregende Entdeckungsreise, die die lateinamerikanische Lyrik für Leser*innen im deutschsprachigen Raum präsent macht wie nie zuvor.

Ulrich Winter ist Romanistikprofessor an der Philipps-Universität Marburg.