ila

Energiewende in Lateinamerika: top oder flop?

Aktuelle Debatten und Analysen bei den Hofgeismarer Lateinamerikagesprächen

Die Rohstoffe für die E-SUVs auf Deutschlands Straßen sollen unter anderem aus Lateinamerika kommen. Werden in der Energiewende alte Ungleichheiten in neuem Gewand aufgelegt? Darum drehte sich die fünfte Edition der Hofgeismarer Lateinamerikagespräche, die jährlich vom Maria Sybilla Merian Center for Advanced Latin American Studies und der Evangelischen Akademie Hofgeismar organisiert werden. Jari Bertolini war vor Ort und berichtet von den Analysen, Perspektiven und Fragen der Tagung.

Jari Bertolini

Freitagabend ist der Auftakt der Konferenz. Kristina Dietz, Professorin für Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Lateinamerika an der Universität Kassel und Mitorganisatorin der Veranstaltung, führt in die Thematik der Energiewende in Lateinamerika ein. Sie weist auf die globalen Interdependenzen der europäischen und lateinamerikanischen Energiewendepolitiken hin. Denn so, wie es gerade läuft, braucht Europa für die Energiewende Massen an Rohstoffen wie Lithium, das in Lateinamerika reichlich vorhanden ist, sowie Kobalt und andere. Deutschland, dessen bewusst, startete daher seit letztem Jahr eine „Charmeoffensive“ in Lateinamerika (siehe ila 468 Geopolitik), um Extrahierungsorte für die benötigten Rohstoffe zu erschließen. Lateinamerika erhält so neue Absatzmärkte mit hohem Nachfragepotenzial und profitiert von einem Wissens- und Technologietransfer, der es erlaubt, Infrastruktur für den neuen Wirtschaftszweig aufzubauen. Soweit die Theorie, wenn da nicht gewisse Fallstricke wären. So erkennt Dietz in dem Wissenstransfer eine „epistemische Kolonisierung“: Energiewende durch technologischen Fortschritt wird zum unhinterfragbaren Paradigma, das lokales Wissen und Alternativen ausschließt.

Hannes Warnecke-Berger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen der Uni Kassel, betont, dass sich die Energiewendepolitik um die Rohstoffe drehen wird, die nicht oder kaum substituierbar sind. Das sind Rohstoffe wie Magnesium, die sich nur schwer oder gar nicht durch andere Rohstoffe ersetzen lassen. Die Welt werde in Zukunft von denen bestimmt, die über die Technologien und das Wissen zur Gewinnung dieser Rohstoffe verfügen, während 25 Prozent der Weltbevölkerung gänzlich von den Profiten der Energiewende ausgeschlossen sein werden, so die dystopische Prognose Warnecke-Bergers.

Wer profitiert? Abschied vom Schwarz-Weiß-Denken

Die Energiewende in Lateinamerika ist komplex, wie Nina Schlosser, Doktorandin der Sozialwissenschaften an der Universität Wien und an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, anhand des Lithiumabbaus in Chile zeigt. Die lokale Bevölkerung profitiert auch von den Bergbauaktivitäten. Die Unternehmen machen direkte Geldzahlungen, fördern Infrastrukturmaßnahmen. Das seien Strategien des Unternehmens, um die Zustimmung der lokalen Bevölkerung zu erlangen. Oder, wie Nina Schlosser es nennt, einen sozialen Konsens zu schaffen. Dieser materielle Profit der lokalen Bevölkerung führe zur Bildung von „Lithium-Allianzen“, die sich für die Förderung von Lithium aussprechen. Dieser Konsens müsse jedoch immer wieder zwischen den Akteur*innen ausgehandelt werden. Die Frage sei also, inwiefern dieser Pro-Lithium-Konsens erhalten bleibt, wenn der lokalen Bevölkerung die langfristigen Folgen des Lithiumabbaus, wie zum Beispiel Wasserknappheit, bewusst werden.

Die Analysen der Wissenschaftler*innen zeigen, dass ein Schwarz-Weiß-Denken, das lediglich zwischen denen unterscheidet, die im globalen Norden profitieren, und denen, die in Lateinamerika verlieren, zu kurz greift. Die Energiewende ist ein Zusammenspiel komplexer Wechselwirkungen mit ambivalenten Implikationen, das begriffen und beforscht werden muss. So treffend formuliert es Kristina Dietz in der abschließenden Reflexionsrunde.

Einige Teilnehmende äußerten sich kritisch: Die Tagung befasse sich nicht mit Perspektiven aus Lateinamerika und der Zivilgesellschaft, sondern sei ein hoch akademisierter Austausch über Lateinamerika. An den Tagungen nahmen keine Referent*innen aus Lateinamerika teil und lediglich Powershift trug eine zivilgesellschaftliche Perspektive bei. Das liege am Bahnstreik und Übersetzungsschwierigkeiten, so der Mitveranstalter Hans-Jürgen Burchardt, Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen.

Ich verlasse die Tagung mit vielen spannenden und aktuellen Analysen im Gepäck und mit der Frage: Wie können zukünftig solche Veranstaltungen dazu genutzt werden, Menschen und Perspektiven aus Lateinamerika eine Plattform zu bieten, anstatt mit dem Ziel: „Wir kämpfen für eine gerechtere Welt“ über sie Gespräche zu führen?