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Die Kinder des Drogenkrieges

Von kindlichen Opfern und Tätern im mexikanischen Drogenkrieg

Dem sogenannten Drogenkrieg in Mexiko sind in den letzten sechs Jahren mehrere Zehntausend Menschen zum Opfer gefallen. Doch über die Zahl der toten und traumatisierten Kinder schweigen sich die offiziellen Statistiken aus. Während die Schlagzeilen gelegentlich von minderjährigen Auftragskillern berichten, drohen die „Drogenwaisen“ in der Nachrichtenflut von massakrierten Leichen unterzugehen. Bislang richtete der mexikanische Staat seine Anti-Drogen-Strategie vorwiegend auf die militärische Zerschlagung der Drogenkartelle. Aber wie erfolgreich ist ein Kampf, bei dem auf einen Drogenboss hinter Gittern Tausende von zerstörten Familien kommen? Welche Spuren hinterlässt die Gewalt bei den Kindern, den Familien und letztendlich in der gesamten Gesellschaft?

Viola Campos

Knapp 30 Prozent der über 100 Millionen EinwohnerInnen Mexikos sind jünger als 14 Jahre. Um zu verhindern, dass diese junge Generation in die Drogenabhängigkeit abgleitet, so erklärte der damalige Präsident Felipe Calderón, sei ein Frontalangriff auf die Drogenkartelle unerlässlich. Calderón ließ also 2006 das Militär ausschwärmen und erklärte der Organisierten Kriminalität den Krieg. Ist diese Strategie aufgegangen? Die aktuellste Regierungsumfrage über Suchtverhalten aus dem Jahr 2011 widerspricht der Annahme, dass sich Mexiko von einem Drogentransferland in ein Drogenkonsumland verwandelt hätte. Das durchschnittliche Einstiegsalter liegt bei Männern bei 18 und bei Frauen bei 20 Jahren. Mit 80 Prozent ist Marihuana die meistkonsumierte Droge, gefolgt von Kokain. Insgesamt ist der Drogenkonsum im Verhältnis zur Bevölkerung nach wie vor minimal, sowohl im regionalen als auch im internationalen Vergleich.

Über Kinder, die Opfer der entfesselten Gewalt geworden sind, gibt es keine offiziellen Statistiken. 2010 begann deshalb das Netzwerk für Kinderrechte in Mexiko (REDIM) – ein Verband aus 63 zivilgesellschaftlichen Organisationen – anhand der Informationen in den Zeitungen die Todesfälle von Kindern bis zu 17 Jahren zu dokumentieren, die im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität stehen. Von 2006 bis April 2013 zählte REDIM über 1700 Todesfälle. Die meisten davon wurden durch Schusswaffenverletzungen verursacht, aber auch Morde in Form von Erhängen, Erwürgen oder Ersticken haben deutlich zugenommen. Aus den wenigen Fällen, bei denen einE TäterIn ermittelt wurde, geht hervor, dass sowohl die kriminellen Banden als auch das Militär für den Tod der Kinder verantwortlich sind. Mindestens 3 Prozent der Opfer gehen auf das Konto der Streitkräfte. Allerdings werden bei Weitem nicht alle Taten angezeigt, geschweige denn aufgeklärt oder von den Medien erfasst, und somit ist die Arbeit von REDIM nur eine Annäherung an die Realität.

Tag für Tag hinterlässt der Drogenkrieg zudem immer mehr Waisen, indem er überwiegend das Leben junger Menschen fordert. Obwohl das Phänomen der sogenannten „Drogenwaisen“ erschreckende Ausmaße angenommen hat, gibt es hierzu von staatlicher Seite keine Untersuchungen. Laut Schätzungen der unabhängigen Forscher Aram Barra und Daniel Joloy von der Jugendorganisation ESPOLEA beläuft sich die Zahl der Waisen des Drogenkrieges auf über 50 000.

Ein wütender Löwe, ein brodelnder Vulkan, eine weinende Wolke oder ein gebrochenes Herz voller Narben: Bilder wie diese, gemalt von Kindern, die mit ansehen mussten, wie ein Elternteil oder mehrere Familienmitglieder umgebracht wurden, verdeutlichen ihre innere Gefühlswelt. Schuldgefühle, Depressionen, Aggressivität, Wut, Hass und Rachsucht sind die unmittelbaren Reaktionen, die nur durch eine entsprechende Spieltherapie kanalisiert werden können. Während sich diese Gefühle anfänglich hauptsächlich gegen die MörderInnen der Eltern richten, können sie auf Dauer auf den Staat übertragen werden, der nichts unternommen hat, um die Familie zu schützen. Ohne psychologische Betreuung werden die Opfer früher oder später häufig selber zu Gewalttätern und die Gewaltspirale dreht sich weiter.

In ihrem Buch Fuego Cruzado erzählt die mexikanische Journalistin Marcela Turati die Geschichten jener Opfer des Drogenkrieges, deren Stimme von der gewalttätigen Sprache des Militärs und der Narcos 1 übertönt wird. Die Trägerin des Louis M. Lyons Preises der Universität Harvard für gewissenhaften und integeren Journalismus berichtet z.B. von ganzen Dörfern, deren BewohnerInnen vor der Gewalt geflohen sind. In einem solchen Geisterdorf erklärte ihr ein alter Mann, dass sie keine Soldaten, sondern ein Heer von Psychologen bräuchten, weil die meisten Menschen völlig traumatisiert seien. Dennoch setzt die Anti-Drogen-Strategie des Staates verstärkt auf die Streitkräfte und lässt dabei präventive Maßnahmen weitgehend außer Acht.

Auch der alltägliche Überlebenskampf der Drogenwaisen in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez, einer der gefährlichsten Gegenden des Landes, offenbart die Ineffizienz bzw. Abwesenheit staatlicher Hilfsstrukturen. Hier streiften ganze Gruppen von Kindern völlig orientierungslos durch die Straßen, nachdem sie ihre Familien verloren hatten. Daraufhin schlossen sich mehrere Kirchengemeinden und Privatpersonen zusammen, um den traumatisierten Jugendlichen eine erste Anlaufstelle zu bieten. Ein ähnliches Schicksal widerfährt in Mexiko den Kindern der mehr als 60 000 Erwachsenen, die eine Gefängnisstrafe wegen Drogenkriminalität absitzen.

Laut Marcela Turati ist die Stigmatisierung der Opfer als Narcos ein wesentliches Problem, mit dem die überlebenden Familienmitglieder zu kämpfen haben. Ohne dass die Mehrheit der Morde überhaupt aufgeklärt würde, bezeichnet der mexikanische Staat die Toten in seinem rechtfertigenden Diskurs meistens als Kriminelle, um sich der Verantwortung zu entziehen, die Fälle zu untersuchen. Gleichzeitig werden viele Familien gesellschaftlich ausgegrenzt, weil man ihnen Beziehungen zu den Drogenkartellen nachsagt. Neben der extremen psychologischen Belastung, der diejenigen Kinder ausgesetzt sind, die ihre Eltern oder ein Elternteil verloren haben, geraten viele zusätzlich in Armut, weil häufig der/die ErnährerIn wegfällt. Nicht selten müssen diese Jugendlichen die Schule abbrechen, um Geld zu verdienen. Wenn der Ernährer oder die Ernährerin der Familie stirbt, verlieren die Kinder auf eine gewisse Art auch das andere Elternteil, weil dieses daraufhin oft doppelte Schichtarbeit leisten muss und sich komplett verändert. Gleichzeitig nimmt auch die innerfamiliäre Gewalt zu. Umgekehrt lassen sich viele Paare, denen ein oder mehrere Kinder gewaltsam entrissen wurden, scheiden, weil sie die Trauerarbeit ganz unterschiedlich wahrnehmen. Turati spricht sogar von ganzen Gemeinden im Land, die depressiv geworden sind.

Der mexikanische Staat lässt die zerrütteten Familien nicht nur alleine in ihrem Schmerz, sondern er zwingt sie auch indirekt dazu, Aufgaben zu übernehmen, die in seinen Kompetenzbereich fallen. Das Buch Fuego Cruzado ist voller Geschichten von Eltern, die angesichts der Untätigkeit der Staatskräfte wahre Detektivarbeit leisten, um herauszufinden, wer ihre Kinder ermordet hat oder was aus ihren verschwundenen Söhnen und Töchtern geworden ist. Insbesondere die Mütter erweisen sich als unermüdliche Kämpferinnen, so z.B. im Falle des Massakers von Creel, dem ersten bekanntgewordenen Massaker an Jugendlichen, bei dem 13 Jungen von einem Drogenkommando hingerichtet wurden.

Die Schwestern Gloria und Ana Luisa Lozano, deren Söhne dabei umkamen, schlossen sich mit mehreren Eltern im Ort zusammen, um die TäterInnen ausfindig zu machen. Auf eigene Faust fanden sie heraus, dass es sich bei ihrem Dorf um einen wichtigen Ort auf der Drogenroute nach Ciudad Juárez handelte, sie ermittelten, wer am Drogenhandel beteiligt war und wie die Operation vonstattenging. Außerdem identifizierten sie die Verantwortlichen des Massakers und reichten bei der Staatsanwaltschaft deren Telefonnummern und Adressen ein. Da jedoch niemand die MörderInnen festnehmen ließ, blockierten die „Töchter Pancho Villas“, wie sie sich selber bezeichneten, sogar die Gleise des Zuges von Chihuahua nach Sinaloa, um Gerechtigkeit einzufordern. Erst nach massiven Einschüchterungsversuchen mussten sie ihre Arbeit einstellen. Wiederum andere Mütter durchforsten z.B. jeden Tag die Zeitungen nach Hinweisen auf den Verbleib ihrer Kinder und reisen durch das ganze Land, um die neu aufgedeckten Massengräber nach ihren Leichen abzusuchen.

Im Zuge des Drogenkrieges verlieren die Kinder in Mexiko nach und nach den Zugang zu öffentlichen Räumen wie Parks und Straßen, wo sie spielen und sich entfalten können. In einer Befragung der Kinderrechtsorganisation RIRIKI bezeichneten 85 Prozent der SchülerInnen der 2. und 3. Klasse in Ciudad Juárez die Straße als den gefährlichsten Ort. Sowohl das Treiben der Drogenbanden als auch die Präsenz bewaffneter Polizisten und Soldaten flößen ihnen Angst ein. Manche Gegenden Mexikos sind sogar zu gefährlich geworden, um die Kinder in die Schule zu schicken, wodurch ihnen eine elementare Phase ihrer Entwicklung verwehrt bleibt. In anderen Gegenden wiederum hat die Drogengewalt auf verschiedene Art und Weise Eingang in den Schulalltag gefunden.

2011 ging ein YouTube-Video um die Welt, in dem eine mexikanische Lehrerin aus Monterrey versucht, ihre SchülerInnen zu beruhigen, weil in der Nähe des Schulgebäudes ein heftiger Schusswechsel stattfindet. Während die kleinen Kinder bäuchlings auf dem Boden liegen und zur Ablenkung ein Lied singen, hört man im Hintergrund Schüsse fallen. Die Lehrerin Martha Ivette Rivera wurde für ihren Einsatz mit einem Preis der Interamerikanischen Entwicklungsbank als beste Erzieherin Lateinamerikas geehrt. Allerdings handelt es sich hierbei um einen Einzelfall. Die Lehrerschaft in Mexiko ist nicht geschult, um unter den gegebenen Gewaltbedingungen zu arbeiten oder mit den Traumata der SchülerInnen umzugehen. Viele Kinder stumpfen angesichts der alltäglichen Gewalt, die sie in den Medien sehen oder persönlich erleben, ab und empfinden sie zunehmend als normal.

Marcela Turati erzählt beispielsweise von einer Schule im Bundesstaat Zacatecas, in der eine Gruppe von Sechstklässlern sich in den Hofpausen als Narcos verkleidete und von ihren MitschülerInnen Eintrittsgeld für die Toiletten verlangte. Doch was die LehrerInnen anfangs noch als Spiel abtaten, wurde zunehmend ernster. Die Möchtegern-Dealer hinterließen an den Toilettenspiegeln nachgeahmte Drohbotschaften im Stil der Drogenkartelle und verlangten irgendwann auch Geld für den Eintritt ins Klassenzimmer. Dabei trieben sie ihr „Spiel“ so weit, bis die ErzieherInnen es selber mit der Angst zu tun bekamen.

Im Drogenkrieg sind die Kinder jedoch nicht nur Opfer, sondern häufig auch TäterInnen. Nach Angaben von REDIM kooperieren mehr als 30 000 Kinder im Land auf unterschiedliche Weise mit der Organisierten Kriminalität in Bereichen, die von Drogen- und Menschenhandel über Erpressung, Schmuggel bis hin zu Schwarzmarkthandel und Korruption gehen. Die Drogenkartelle haben sich auch Schwachstellen in der mexikanischen Gesetzgebung zu Nutzen gemacht und engagieren mitunter minderjährige Auftragskiller, weil kein Kind unter 14 Jahren für seine Verbrechen – und seien sie noch so grausam – ins Gefängnis kommen kann. Gerade in Rehabilitationskliniken werden viele drogenabhängige Jugendliche von den kriminellen Banden angeworben oder daraus entführt, um sie als leicht ersetzbare Handlanger für sich arbeiten zu lassen.

Während ihrer journalistischen Recherche unterhielt sich Turati auch mit vielen jugendlichen StraftäterInnen und erfuhr, dass in Ciudad Juárez 90 Prozent dieser Nachwuchsdealer und -killer aus einem bestimmten Stadtbezirk stammten, der keine Infrastruktur besaß und nicht genügend Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bot. Nur Wenigen ist bekannt, dass die Stadt so gebaut wurde, dass es kaum weiterführende Schulen gibt, weil die Jugendlichen nach der Grundschule in den vielen Textilmanufakturen und Montagebetrieben entlang der amerikanischen Grenze unterkommen sollten. Die Autorin von Fuego Cruzado verweist auf die Umstände, die die Kinder in die Arme der Drogenkartelle treiben und bezeichnet Ciudad Juárez als „brutales Vorzeigemodell des Kapitalismus“, in dem Staat und Gesellschaft versagt haben.

Dennoch zeugen ihre Geschichten immer wieder auch von ermutigenden und erfolgreichen Beispielen aus der Zivilgesellschaft, von Gruppen oder Einzelpersonen, die der Drogengewalt die Stirn bieten und ihren Anteil leisten, um das Land voranzubringen. Die Studie der Jugendforscher Aram und Joloy über die vergessenen Opfer des Drogenkrieges endet mit dem mexikanischen Sprichwort: Árbol que crece torcido jamás su tronco endereza („Ein Baum, der schief wächst, wird seinen Stamm nie geradebiegen können“). Wenn den Kindern die öffentlichen Räume wie Schulen, Straßen und Parks genommen werden, bleibt ihnen oft nur noch der Rückzug in den zerstörten Familienkreis. Dennoch solidarisiert sich die Zivilgesellschaft immer wieder aufs Neue mit den Opfern und versucht im Kampf für ihre Jugend Widerstand zu leisten. Allein die Zukunft wird zeigen, ob der mexikanische Staat und die Gesellschaft noch in der Lage sind, das soziale Gefüge wiederherzustellen oder ob die Kinder des Drogenkrieges bereits eine verlorene Generation sind.

  • 1. Spanische Bezeichnung für Drogendealer und Personen, die in irgendeiner Weise in die Drogenkriminalität verwickelt sind.
Literatur zum Thema: 

Marcela Turati, Fuego Cruzado. Las Víctimas Atrapadas En La Guerra Del Narco, 326 S., Grijalbo 2011, ISBN 6073102399