ila

Kein Recht auf Leben

Feminicidio – Staat und Gewalt in Ciudad Juárez

Seit 1993 werden in Ciudad Juárez in Mexiko ständig und systematisch Frauen ermordet, aus unterschiedlichen Gründen. Obwohl inzwischen mehr als zehn von der Regierung eingerichtete Instanzen sich mit dem Thema beschäftigen und obwohl es neue Berichte von lokalen, nationalen und internationalen Organisationen dazu gibt, ist es bis heute noch nicht einmal möglich, die genaue Zahl der Opfer in diesen Jahren herauszufinden. Der Grund liegt vermutlich in der allgemeinen Gleichgültigkeit gegenüber diesen Morden, so dass die Regierung und die Polizei sich nicht veranlasst sahen, die Verbrechen sorgfältig und genau zu untersuchen oder zumindest eine ernsthafte Aufnahme jedes einzelnen Mordes vorzunehmen. Aber abgesehen von dem Streit um die Zahlen, der nur dazu geführt hat, dass wir nun wissen, wer sich Gehör verschafft und wer gebrandmarkt wird, geht es bei der ganzen Angelegenheit nicht nur um die Frage, wer ermordet wird – denn das herauszufinden ist nach unserem Rechtssystem Sache der mexikanischen Justiz, sondern genau so wichtig ist die Antwort auf die Frage: Warum werden sie ermordet? Und hier tauchen verschiedene Einzelheiten auf, die zwar nicht alle Aspekte des Falles erklären können, uns aber zumindest die Dimension und Größe dieser Tragödie erkennen lassen.

Servando Pineda Jaimes

Ciudad Juárez, Bundesstaat Chihuahua, liegt im Norden Mexikos und nur der Río Bravo (auch Río Grande genannt) trennt die Stadt von El Paso in Texas. Wenige Kilometer entfernt liegt auch Las Cruces, New Mexico. Alle drei zusammen bilden das Grenzgebiet, das früher unter dem Namen „Paso de Norte“ bekannt war: drei Orte, drei Bundesstaaten (zwei davon in den USA) und zwei Länder. Diese Städte sind geradezu exemplarisch für die Globalisierung. So ähnlich und doch so anders, so naheliegend und doch so vergessen, so vereint und doch so gegensätzlich. Während Ciudad Juárez als die fünftwichtigste Stadt Mexikos gilt, gehören El Paso und Las Cruces zu den ärmsten Städten der USA. Dennoch ist das Lebensniveau in ihnen ungleich höher als bei uns in Ciudad Juárez. Anders gesagt, man lebt besser dort als hier. Die Gegensätze sind zahlreich. Während Ciudad Juárez eine hohe Kriminalitätsrate aufweist, gehört El Paso zu den zehn sichersten Städten der USA. Während in Juárez Hunderte von Frauen ermordet werden, haben sie drüben eine der geringsten Mordraten des Landes. Woran liegt das? Einige weitere Spuren werden uns helfen, das Problem zu verstehen.

Die Stadt erlebte einen kulturellen Zusammenprall, auf die sie in keinster Weise vorbereitet war. Anfang 1900 war es eine kleine, friedliche Stadt. Seit den 40er Jahren begann sie jedoch explosionsartig zu wachsen. Die konstante und andauernde Migration nach Ciudad Juárez lag an der Maquiladora-Industrie für den Export, die sich nach dem Freihandelsabkommen NAFTA dort ansiedelte und große Mengen an ungelernten Arbeitskräften brauchte. In Verbindung mit den ökonomischen Krisen, die das Land danach erschütterten, wurden Ciudad Juárez und andere Grenzstädte plötzlich zu attraktiven Orten. Es gab aber in der Stadt keine bürgerlichen und kulturellen Einrichtungen, um einen derartigen Zuwachs aufzufangen.
Plötzlich änderten sich die traditionellen Rollenverhältnisse. Es waren nicht mehr die Männer, die hauptsächlich zum Familieneinkommen beitrugen, sondern mehr und mehr die Frauen. Aufgrund der Industrie, die sich in und um die Stadt ansiedelte und die vor allem ungelernte, billige Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten suchte, zum Teil ausschließlich Frauen, begann sich die Rolle der Frau in der Familie zu ändern. Die Männer verloren ihre Vormachtstellung – und das in einer Gesellschaft wie der mexikanischen, die tief im Machismo verwurzelt ist.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt führte also dazu, dass der Mann nicht mehr der einzige Versorger der Familie war und sich die Frauen ökonomisch emanzipierten. Sie entdeckten, dass ihr Ort nicht mehr ausschließlich im Haus war, sondern auch draußen, nicht nur in der Fabrik, sondern auch in den Vergnügungsstätten. Sie übernahmen die Kontrolle über ihr Leben. Das war für eine vom Machismus geprägte Gesellschaft zu viel. Heute ist es üblich, dass der Mann zu Hause bleibt und auf die Familie aufpasst, während die Frau arbeitet. Die Männer sind also nicht mehr die Hauptversorger der Familie, diese Rolle übernehmen ohne Probleme die Frauen. Aber das hat Folgen. Die Gewalt in den Familien ist sprunghaft angestiegen. Man darf auch nicht vergessen, dass die massive Industrialisierung der Stadt mit dem Niedergang des traditionellen Handwerks und der Kleinindustrie einherging, von denen die Stadt bisher hauptsächlich gelebt hatte. Während die herkömmlichen ProduzentInnen einen immer geringeren Teil der aktiven Bevölkerung ausmachten, stieg der Dienstleistungssektor überproportional an. Das veränderte nicht nur die Struktur der Stadt, sondern auch ihre demographische Zusammensetzung. Die Maquiladoras brauchten eine große Menge an unqualifizierten Arbeitskräften, die bestimmte, sich wiederholende Tätigkeiten auf Dauer ausführen konnten, und viele Arbeitsplätze waren dabei speziell für Frauen ausgerichtet. Das veränderte definitiv das Gesicht der Stadt. Das urbane Umfeld dehnte sich aus, die angefragten Dienstleistungen überforderten die lokalen Behörden, und so fand die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt unter chaotischen Bedingungen statt.

Chihuahua wurde zu einem der vier Bundesstaaten mit der höchsten Sterblichkeit durch Morde. 2002 gab es in Chihuahua und Nayarit zwischen 64 und 84 Tote pro 100 000 EinwohnerInnen aufgrund von Fremdeinwirkung. In Ciudad Juárez sind in neun von zehn Fällen Männer die Opfer und in einem Fall eine Frau. Bei den Männern ist meist ihre Verwicklung in Drogengeschäfte der Hintergrund. Obwohl also viel weniger Frauen als Männer ermordet werden, so sind doch die Morde an Frauen in den letzten zwölf Jahren sprunghaft angestiegen. 1993 waren es 18 Morde an Frauen im Jahr, zwei Jahre später 37 und in diesem Jahr 363 – laut dem Programm für Öffentliche Sicherheit, das Daten der Staatsanwaltschaft verwendet. Die Zahlen wechseln je nach Herausgeber, sie gehen von den genannten 363 bis zu 400 Morden in einigen Fällen. Die unterschiedlichen Zahlen haben zu heftigen Diskussionen geführt. Auf der einen Seite sind die Angehörigen der Opfer und die Nichtregierungsorganisationen, die darum kämpfen, die Morde anzuzeigen und öffentlich zu machen, und auf der anderen Seite die Unternehmer- und Regierungskreise, die das Problem herunterspielen möchten.<

Der Streit um die Zahlen ist zu einer Frage des Dazugehörens oder Ausgeschlossenseins geworden. Entweder du bist für oder gegen die Stadt. Wer die Fälle aufdeckt und anzeigt, wird als Person oder Organisation angegriffen. Er oder sie wird beschuldigt, „das Bild der Stadt zu beschmutzen“. Dabei geht es bei diesen Anklagen weniger um das Bild der Stadt als darum, das Modell ökonomischen Fortschritts durch die Maquiladoras nicht anzutasten. Was dabei unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass nicht die Stadt ihre Frauen ermordet, sondern dass es Täter gibt, die einen Namen haben und die für die Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Ohne die Komplizenschaft eines großen Teils der Presse wäre diese Kampagne der Unternehmerklasse, die den Status Quo unbedingt erhalten möchte, nicht möglich. Die Auseinandersetzung spiegelt sich auch in der Art und Weise, wie das Problem beschrieben wird. Zu der – absichtlich herbeigeführten oder tatsächlich empfundenen – Konfusion gesellen sich alte Bekannte des mexikanischen Machismo, so die Gleichstellung der Art von Verbrechen gegen Frauen und Männer: In Zeitungsartikeln wird z.B. gefordert, wenn man von feminicidio (systematischer Mord an Frauen) rede, müsse man auch von hombricidio (systematischet Mord an Männern) sprechen. Als die ersten Leichen 1993 auftauchten, war eines der größten Probleme der Stadt, wie das Geschehene zu erklären ist. Offensichtlich handelte es sich um Morde, aber die Bedingungen und Charakteristika waren anders als das bisher Bekannte. Die Motive, die zur Ermordung der Frauen führten, waren ganz anders als die Motive der Verbrechen an Männern. Es ging nicht um Raub oder Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden, sondern es waren eher symbolische Machtmechanismen gegen Frauen. Vor allem die Grausamkeit gegen die Körper und das Leben der Frauen zeigt eine neue Dimension bei der Gewalt gegen Frauen.

Von einem Genderstandpunkt aus führt das zu der Unterscheidung zwischen Mord (homicidio), der Ermordung von Menschen, und feminicidio, der Ermordung von Frauen, wie es Dr. Julia Monárrez von der Universität Frontera Norte definiert, die sich als eine der ersten mit diesem sozialen Phänomen beschäftigt hat. Monárrez unterscheidet auch innerhalb des feminicidio verschiedene Kategorien, so den systematischen Serien-Feminizid, um diejenigen Morde zu unterscheiden, die dieselben Charakteristika aufweisen, wie die sexuelle Gewalt, die die Frauen vor ihrer Ermordung erlitten haben. Das hilft uns, diese Art Morde zu klassifizieren. Wir können sie nicht nur definieren – wie Marcela Lagarde, die sich ebenfalls intensiv mit dem Thema beschäftigt hat – als Mord an einer Frau, in einem Kontext von unterlassener Hilfeleistung, Vernachlässigung oder Komplizenschaft, sondern es gibt außerdem den „intimen Feminizid“, Verbrechen aus Hass gegen Frauen, nur weil sie Frauen sind, die Morde durch Partner, egal ob es langfristige oder Gelegenheitsbeziehungen sind. Dazu kommen die Nachahmungsmorde, von denen eine unbestimmte Anzahl Serienmorde sind, erleichtert durch die Straflosigkeit bei Morden an Frauen.

Der letzte Punkt ist ganz wichtig, weil er mit der Art und Weise zu tun hat, wie der mexikanische Staat mit dem Problem umgeht. Die verschiedenen Etappen reichen von Negation der Ereignisse, Ablehnung, Herunterspielen bis zur Akzeptanz. Der mexikanische Staat verhindert durch sein Verhalten auch jede Form der Entschädigung oder Wiedergutmachung – durch seine Unfähigkeit, die Morde aufzuklären, die Mörder zu finden und zu verurteilen. Er steht auf dem Standpunkt, dass häusliche Gewalt nicht in seine Kompetenz fällt. Wenn also eine Frau von ihrem Partner ermordet wird, ist das Privatangelegenheit, und der Staat weigert sich einzugreifen. Er behält sich die Morde vor, die im öffentlichen Bereich begangen werden. Er vergisst dabei, dass es seine Aufgabe ist, das Recht auf Leben zu garantieren, abgesehen davon ist ein Mord immer eine öffentliche Angelegenheit. Der Staat hat in Ciudad Juárez in dieser Hinsicht versagt. Er kann das Recht auf Leben, dieses elementarste Menschenrecht, für Frauen nicht garantieren. Stattdessen gibt es einen hohen Anteil an Straflosigkeit, denn jeder Mann kann im privaten Bereich über das Leben von Frauen verfügen.

Die Bundesregierung sieht das Problem der Morde als rein kriminalistisches Problem, nicht als soziales. Die Diskussion geht nicht darum, wessen Kompetenz es ist, ein Verbrechen zu untersuchen – denn niemand kommt offenbar auf diesem Wege weiter –, sondern wir fordern, dass der Staat eingreift und vollständig alle Hintergründe dieser Morde untersucht. Denn den oder die Mörder zu finden ist nur ein Teil der Sache. Dahinter steht die Frage: Warum ist es so einfach, eine Frau umzubringen? Und das hat Auswirkungen und Verwicklungen in soziologischer Hinsicht (die soziale Anomalie, von der Durkheim spricht), ist eine Gender-Frage (Veränderungen in den Beziehungen zwischen Frauen und Männern), hat wirtschaftliche Aspekte (eine ernsthafte Diskussion des aktuellen Maquila-Modells als wirtschaftlicher Motor der Stadt, das in den Frauenmorden sein perverses Gesicht zeigt) und nicht zuletzt politische Implikationen (Politiker und Parteien, die im Wahlkampf nur auf ihren Vorteil bedacht sind) und natürlich die Frage der Entschädigung/Wiedergutmachung, die uns zu der Frage führt: Was wurde für die Überlebenden dieses Horrors getan? Erst wenn wir die Frage aus all diesen Blickwinkeln betrachten, können wir das, was in Ciudad Juárez passiert, wirklich verstehen.

Übersetzung: Laura Held