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Medidas cautelares

Die provisorischen Schutzmaßnahmen des Interamerikanischen Menschenrechtssystems

Die gezielte Verteidigung der Menschenrechte ist ein relativ junges Teilgebiet des internationalen Rechts. Im Spannungsfeld stehen der Wert des Individuums, die Rolle der StaatsbürgerInnen und die Innen- und Außenpolitik der einzelnen Staaten. Funktionieren kann der Schutz der Menschenrechte nur,, wenn die beteiligten Staaten den politischen Willen dazu aufbringen. Und dieser Wille ist oft gewissen Launen unterworfen. Im Falle des Interamerikanischen Menschenrechtssystems sollen die gemeinsamen Erklärungen, die Konvention und ihre Zusatzprotokolle Grundlagen schaffen. Die Urteile des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, die Länderberichte der Menschenrechtskommission und die Médidas Cautelares, die einstweiligen Verfügungen der Kommission, sollen als Instrumente zur Durchsetzung der Rechte dienen. Ein kurzer Blick auf die Thematik.

Helene Kapolnek

Am 19. März 2014 erließ die Interamerikanische Menschenrechtskommission, CIDH, vorläufige Schutzmaßnahmen für Gustavo Petro. Der linksgerichtete Politiker ist seit 2012 Bürgermeister der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Sein unkonventioneller Zugang zum Thema Müllentsorgung gab bald den Anlass zu Konflikten. Unfähigkeit, Willkür und die Verletzung der Prinzipien des freien Marktes wurden dem Bürgermeister vorgeworfen, der angetreten war, um in Bogotá Müllberge, Mafia und die Privatisierung öffentlicher Leistungen zu bekämpfen. Auch der Lebensweg Petros mag einer der Gründe für das harsche Vorgehen der Behörden gegen ihn sein: Petro, ehemaliger Guerillero der M-19, war 2010 für das Linksbündnis Polo Democrático Alternativo (PDA) Gegenkandidat von Juan Manuel Santos bei den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien. Santos gewann die Wahlen, Petro zog mit einer neuen Bewegung, dem Movimiento Progresista, in den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt in Bogotá, nachdem er sich mit dem PDA überworfen hatte. 

Für die dogmatische Linke in Kolumbien ist Petro unbequem, für die Rechte jedoch noch viel unbequemer. Während seiner Zeit als Kongressabgeordneter deckte er unter anderem Verbindungen zwischen dem damaligen Präsidenten Álvaro Uribe und den ultrarechten Paramilitärs auf. Im Dezember 2013 enthob ihn die Procuraduría General de la Nación – ein für die Kontrolle der StaatsdienerInnen zuständiges Verfassungsorgan – des Amtes und schloss ihn darüber hinaus für fünfzehn Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter aus. Petro wandte sich an die Interamerikanische Menschenrechtskommission: Eine solche Entscheidung könne nur ein zuständiges Gericht treffen. So sieht es die Interamerikanische Menschenrechtskonvention vor, die Kolumbien unterzeichnet hat. Der Fall löste im Land eine öffentliche Polemik über die Frage aus, ob die Medidas Cautelares der CIDH für Kolumbien verbindlich seien. Die Regierung verneinte dies zunächst vehement, lenkte aber später ein. Obwohl im Juni 2014 der Oberste Gerichtshof entschied, im speziellen Fall hätten die Medidas Cautelares nicht befolgt werden müssen, u.a. da dem Betroffenen noch Rechtsmittel zur Verfügung gestanden haben, ist Petro mit einer einstweiligen Verfügung des kolumbianischen Consejo de Estado, eine Art Ausführungsorgan des Obersten Verwaltungsgerichts, weiterhin im Amt.

Menschenrechtsverletzungen im akuten Fall abzuwenden oder zu stoppen – also „Schlimmeres zu verhindern“ – sind die Aufgabe der Medidas Cautelares, die die Interamerikanische Menschenrechtskommission auf eigene Initiative oder auf Ersuchen von Betroffenen erlassen kann. Dies sieht das Reglement der Kommission in seinem Artikel 25 vor. Der Erlass einer solchen einstweiligen Verfügung stelle keine Vorverurteilung dar. Er nimmt im Übrigen den Staat in die Pflicht, denn die Maßnahmen können selbstverständlich nur von den Institutionen des jeweiligen Landes umgesetzt werden. Die Medidas Cautelares sollen gewährleisten, dass Entscheidungen über Personen, Gruppen, Situationen nicht zu nicht wiedergutzumachenden Menschenrechtsverletzungen führen und dass eine rechtsstaatliche Klärung herbeigeführt wird. Eine Vielzahl der Medidas Cautelares verpflichtet die Länder dazu, für die Sicherheit von Menschen zu sorgen, die wegen ihres politischen oder sozialen Engagements Opfer von Gewalttaten wurden oder mit dem Tode bedroht werden, wie etwa 2013 bei der Asociación Pro-Búsqueda in El Salvador, die nach im Bürgerkrieg verschleppten Kindern forscht und deren Büros im November 2013 überfallen und verwüstet wurden. Ebenso gibt es Medidas Cautelares im Fall von drohendem gewaltsamem Verschwindenlassen, etwa im Februar 2014 in Mexiko. Die Länder werden aufgefordert, die notwendigen Nachforschungen durchzuführen. Dies ist gerade in Lateinamerika mit seiner noch keineswegs aufgearbeiteten Geschichte des methodischen Verschwindenlassens ein sehr wichtiger Aspekt.1

Zahlreiche Medidas Cautelares betreffen das Thema Todesstrafe. Obwohl die Interamerikanische Menschenrechtskonvention die Todesstrafe nicht explizit ausschließt, schränkt sie sie in ihrem Artikel 4 stark ein. So untersagt sie die Todesstrafe für Minderjährige, Alte und für politische Straftaten sowie die Exekution unter demütigenden und qualvollen Bedingungen. Sie spricht sich auch für die Abschaffung der Todesstrafe aus. Viele der lateinamerikanischen Staaten haben das 1990 in Paraguay verabschiedete Zusatzprotokoll zur Abschaffung der Todesstrafe unterzeichnet, darunter Argentinien, Uruguay, Venezuela, Mexiko und Honduras.

In diesem Kontext richten sich fast alle der von der Kommission angeordneten Medidas Cautelares an die Adresse der USA. Von Januar 2012 bis März 2014 hat sich die Kommission in mindestens 16 Fällen mit der Anordnung von Medidas Cautelares an die USA gewandt, so im Fall von Pete Carl Rogovich, der 1995 in Arizona nach einem Amoklauf, der vier Menschen das Leben kostete, zum Tode verurteilt wurde und dem zwei psychiatrische Gutachter paranoide Schizophrenie bescheinigten, und im Fall des Nicaraguaners Bernardo Aban Tercero, im Jahr 2000 in Texas zum Tode verurteilt, der anhand seiner Geburtsurkunde nachweisen will, dass er zum Zeitpunkt des ihm angelasteten Mordes noch minderjährig war. Die Geburtsurkunde wurde jedoch nach den Angaben von Aban Terceros Verteidigern niemals von einem Gericht geprüft. In beiden Fällen wäre auch nach den Gesetzen der entsprechenden US-Bundesstaaten die Todesstrafe wohl ausgeschlossen.

In der Vergangenheit hat die Interamerikanische Menschenrechtskommission immer wieder Medidas Cautelares in Fällen erlassen, bei denen es um die Pressefreiheit und die freie Meinungsäußerung geht. So auch bei den von dem Medienunternehmer Fernando Villavicencio, dem Abgeordneten Cléver Jiménez und dem Gewerkschafter Carlos Figueroa in Ecuador beantragten Verfügungen. Die Kommission erließ diese am 24. März 2014. Hintergrund sind eine Polizeirebellion gegen Präsident Rafael Correa und gewaltsame Auseinandersetzungen in deren Anschluss, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden. Villavicencio, Jiménez und Figueroa, die der ecuadorianischen Opposition angehören, beschuldigten den Präsidenten, die Gewalt mit provozierendem Verhalten herausgefordert zu haben. 2011 reichten sie Klage gegen Correa ein, um dessen Verantwortung gerichtlich prüfen zu lassen. Diese wurde allerdings von der Justiz prompt beerdigt und Correa reagierte mit einer Gegenklage wegen falscher Verdächtigung. Die drei wurden zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt.
 
In seiner Begründung für die Anordnung der Medidas Cautelares führt die CIDH aus, der „nicht wiedergutzumachende Schaden“ liege in diesem Fall in der Einschüchterungswirkung auf die Gesellschaft, deren staatsbürgerliche Freiheiten mit der Aussicht auf Ausgrenzung, Geldstrafen und Gefängnis bedroht werden. Die Möglichkeit, Kritik an politischen Funktionären zu üben und Klagen gegen Autoritäten einzureichen, sei „eine der Grundlagen für das angemessene Funktionieren jeder Demokratie“. 

Nach der Logik der Menschenrechtsverträge im Völkerrecht sollen Medidas Cautelares nicht nur den jeweils Betroffenen konkret helfen, indem sie das Räderwerk anhalten, sie sollen den Staat auch an seine Verpflichtung den StaatsbürgerInnen gegenüber erinnern. Die Staaten sollen Recht sprechen, keine willkürlichen Entscheidungen treffen. Die Diskussion über die Verbindlichkeit der Medidas Cautelares kommt also nicht von ungefähr. Je mehr Oberste Gerichtshöfe die Verbindlichkeit anerkennen, desto besser für das Menschenrechtssystem. Sowohl die USA als auch die Regierungen Kolumbiens und Ecuadors gehören zu denen, die die Verbindlichkeit anhand konkreter, teils politisch opportuner Fälle angezweifelt hatten. 

Die USA fühlten sich bei den Fällen mit Todesstrafe nicht angesprochen, Kolumbien im Falle Petros. Ecuador fühlte sich berufen, die Möglichkeit der Medidas Cautelares durch die CIDH gleich ganz anzuzweifeln. Sie seien nicht Teil der Menschenrechtskonvention, sondern des OAS-Reglements. Ein zahnloses Menschenrechtssystem, das eigentlich nur dekorativen Wert hat und beweisen soll, wie sehr sich die Länder für die Menschenrechte einsetzen, ist sicherlich für so manche Regierung eine reizvolle Vorstellung. Wenn sich Regierungen allerdings nicht an das völkerrechtliche Regelwerk halten, das ihre Staaten unterzeichnet haben, ist dies ein Rückschlag für die Menschenrechte, egal wie reaktionär oder „revolutionär“ diese Regierungen sein mögen. Nicht ohne Grund sehen VölkerrechtlerInnen die Interpretationsmöglichkeiten bei Menschenrechtsregelungen sehr eng: Im Mittelpunkt habe das Wohl der Betroffenen zu stehen. 

Für die Betroffenen und alle, die in Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsgruppen und sozialen Bewegungen für die Einhaltung der Menschenrechte kämpfen, sind die Medidas Cautelares allemal keine theoretische Frage. Sie betreffen ihren Alltag und manchmal ihr Weiterleben. Für diejenigen, die „von unten“ für eine menschenwürdigere Welt kämpfen, sind sie eine sinnvolle Waffe.