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Argentiniens bekannteste politische Gefangene

Interview mit dem Abgeordneten Juan Manuel Esquivel über die Lage von Milagro Sala

Die indigene Politaktivistin Milagro Sala war seit 2001/2002 die bekannteste Organisatorin der Piquetero-Organisation „Tupac Amaru“ im nordargentinischen Bundesstaat Jujuy, der direkt an Bolivien grenzt. Während der Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner baute sie mit erheblichen finanziellen Zuwendungen der Zentralregierung „Tupac Amaru“ zu einem imposanten Sozialprojekt aus, das Sozialwohnungen, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen errichtete. Durch diese sozialen Errungenschaften und die dadurch entstandenen Arbeitsplätze wurde „Tupac Amaru“ zu einem relevanten Machtfaktor in der Provinz Jujuy, die bis dahin von den Repräsentant*innen der traditionellen Oligarchie kontrolliert worden war. Nach der Wahlniederlage des Kirchnerismus im Jahr 2015 versuchte Gouverneur Morales in Jujuy, die Arbeit von „Tupac Amaru“ zu zerstören. Milagro Sala wurde unter dem Vorwurf der Zweckentfremdung öffentlicher Gelder festgenommen. Zunächst war sie im Gefängnis, derzeit befindet sie sich aufgrund des Drucks zahlreicher internationaler Institutionen in Hausarrest.

Sandra Schmidt

„Was denken Sie über Milagro Sala?“ mit dieser Frage wandte ich mich kurz vor Weihnachten auf der Plaza Belgrano von San Salvador de Jujuy an Passanten. Genau dort also, wo soziale Organisationen im Januar 2016 aus Protest ihre Zelte vor der Landesregierung aufgeschlagen hatten, was der Provinzgouverneur Gerardo Morales als Anlass genutzt hatte, Milagro Sala, den Kopf der Bewegung Tupac Amaru, festzunehmen. „Oh, keine Worte!“ – In welchem Sinn? – „In negativem Sinne!“ antwortet mir die erste Frau, mittleren Alters, dem Ansehen nach mittlere Schicht. Die nächsten drei Versuche scheitern, alle winken ab. Ein Paar um die 40 bleibt stehen. „Aus meiner Sicht hat sie gute Dinge getan und schlechte Dinge. Die ganze Welt sagt, dass sie Geld genommen hat,“ sagt sie. „Für mich hat sie sehr schlechte Dinge getan, es war eine Parallelregierung, sie hatte die Macht über das ganze Geld, hat die Leute nicht bezahlt, das war eine Mafia,“ sagt er. Beide wollen mir nicht mal ihre Vornamen verraten. Anders Segundo Zarate, Ex-Eisenbahner, der jetzt auf dem Platz Diätprodukte verkauft: „Fragen Sie doch da drüben, da im Regierungssitz, bei Morales! Wir werden von allen verarscht, den Radikalen, den Peronisten,von allen.“ Die öffentliche Meinung scheint einhellig, einhellig negativ. Also treffe ich Juan Manuel Esquivel, momentan einziger Abgeordneter der Tupac Amaru im Landesparlament von Jujuy.

Wie ist die Lage von Milagro Sala momentan?

Sie ist weiterhin Gefangene in ihrem eigenen Haus, die Auflagen des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte werden nicht erfüllt. Aber sie ist guter Dinge und verfolgt die lokale und nationale politische Entwicklung und mischt sich ein, so weit es geht. Wir betrachten den gesamten Prozess als willkürlich und politisch intendiert. Die UNO-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen hat das ganz klar bestätigt. Es werden immer weiter Anklagen erhoben, sodass sie in Haft bleibt. Sie ist bis heute nicht von einem Gericht verurteilt und wird trotzdem festgehalten. Sie ist eine politische Gefangene.

Gibt es Einschätzungen eines Gerichts höherer Ebene?

Verschiedene Organisationen, auch die Organisation Amerikanischer Staaten und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, haben ihre Positionen formuliert, denen zufolge sie unter Hausarrest oder einer ähnlichen Form überwachter Freiheit stehen. Aber die Justiz in Jujuy hat dies nicht umgesetzt. Als die Forderung explizit an Argentinien, also Präsident Mauricio Macri, gerichtet wurde, weil es hier um internationale Abkommen geht, da hat man sie aus dem Gefängnis in einen Hausarrest überführt. Man hat sie in ein Haus gebracht, das völlig isoliert außerhalb der Stadt liegt und im Grunde ist es ein kleines Gefängnis: Sie wird dort vom Militär überwacht und von der regionalen Polizei. Wir nennen es das Guantánamo von Jujuy. Wir haben ein republikanisches System hier, das heißt, die Gewalten sollten unabhängig sein, aber es gibt, das sagt auch die UNO, Verstrickungen zwischen der politischen Macht und der Justiz. Provinzgouverneur Morales selbst hat alles dafür getan, dass Milagro Sala festgenommen wird. Das steht ihm nicht zu.

Als im Dezember 2015 die Besetzung der Plaza Belgrano begann, haben verschiedene soziale Gruppen daran teilgenommen. Agiert Morales explizit gegen die Tupac Amaru?

Die Tupac Amaru haben eine wichtige Rolle gespielt, das hatte auch mit den Fähigkeiten von Milagro zu tun, mit der Nationalregierung (jener unter Cristina Fernández de Kirchner, 2007-2015, A.d.R.) über Beihilfen und Mittel zu verhandeln. Damit sind in einer Spanne von acht bis zehn Jahren rund 8000 Sozialwohnungen entstanden, auf Betreiben einer Stadtteilinitiative, einer sozialen Organisation. Wir sind keine Baufirma, keine Unternehmer, sondern ursprünglich ein Zusammenschluss von Arbeitslosen, die sich selbst Arbeit gegeben haben.

Wann ist die Tupac Amaru hier entstanden?

Während des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Krise von 2001 sind damals viele soziale Organisationen entstanden, auch die Tupac. Die Ziele waren klar: etwas gegen den Hunger tun, etwas für die Gesundheit, die Erziehung und die Arbeit, und zwar in Selbstverwaltung. Natürlich suchen wir Unterstützung beim Staat, aber wir sind zu keiner Zeit eine parastaatliche Organisation gewesen, wie uns vorgeworfen wird. Die Zuwendungen haben uns lediglich erlaubt, im Inneren eine eigene finanzielle Struktur aufzubauen und nicht nur Häuser zu bauen, sondern auch Gesundheitszentren, Orte der Kultur sowie Schulen und Sportstätten.

Es heißt, Milagro Sala habe eine große Schwäche für Schwimmbäder?

Das mag vielleicht an anderen Orten der Welt seltsam klingen, aber wir haben über die Jahre 19 Schwimmbäder gebaut. Bis zum Jahr 2000 gab es in Jujuy, einer Provinz mit 800-  000 Einwohner*innen, drei Schwimmbäder, zwei öffentlich, eins privat. Jetzt gibt es 19 Schwimmbäder, außerdem Mehrzweckhallen und Schulen – bis 2015 haben wir jedes Jahr 5000 Schüler neu aufgenommen. Und Gesundheitseinrichtungen, die auch präventive Arbeit machen, die versuchen, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, und sich nicht komplett einem Profitstreben unterwerfen. Bei all dem war es niemals unsere Absicht, mit dem Staat in einen Wettbewerb zu treten, der ja ähnliche Einrichtungen betreibt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt haben fast 60 000 im Kontext der Tupac gearbeitet, das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung und das war ein Problem. 2013 haben wir entschieden, uns auch als politische Partei zu formieren.

Was ist seit der Festnahme von Milagro Sala mit der Organisation geschehen?

Uns wurden die finanziellen Mittel gestrichen, 4500 Menschen standen von einem Tag auf den nächsten auf der Straße. Vertreter der Organisation werden verfolgt, man versucht, sie zu Aussagen gegen Milagro zu bewegen. Sie wird als öffentlicher Feind Nummer eins dargestellt, die Tupac insgesamt werden stigmatisiert, sehr viele Menschen haben sich abgewandt.

Hat aus Ihrer Sicht Gerardo Morales die Tupac als Bedrohung seiner Macht aufgefasst?

Ich glaube, dass so etwas wie die Macht des Volkes auf gewisse Art und Weise immer präsent ist, der Unterschied besteht darin, sich selbst auch wirklich zu organisieren. Argentinien, ganz Lateinamerika, hat eine lange Tradition, seine politischen Bewegungen eng mit zentralen Persönlichkeiten, mit mächtigen Caudillos zu verknüpfen. Milagro steht in dieser Traditionslinie, mit einer enormen Fähigkeit, das zu katalysieren, zu konzentrieren und zu kanalisieren, was die Menschen aus den unteren Schichten brauchen und wollen. Deshalb ist sie eine Gefahr, wenn sie in Freiheit ist. Sie wäre eine Gefahr für die herrschende Macht, wenn sie jetzt frei auf den Straßen von Jujuy oder sonstwo in Argentinien herumlaufen würde. Sie würde Forderungen formulieren, auch grundsätzliche, zum Beispiel Argentinien nicht – wie es unter Macri geschieht – auszuliefern, und das unter dem Motto, sich der Welt zu öffnen. Das bedeutet ja letztlich nur, dass Argentinien nichts weiter tut, als Ressourcen für den Rest der Welt zu liefern, aber seine eigene Industrie und Technologie sich nicht weiter entwickeln wird. Das sind grundsätzliche Fragen, die nicht nur die unteren Schichten betreffen.

Aber die inhaftierte Milagro hat viel Zuspruch erfahren. Schadet das Morales nicht auch enorm?

Es stimmt, dass es quasi Morales’ Verdienst ist, dass Milagro jetzt auf dem ganzen Kontinent ein bekanntes Gesicht geworden ist und man eventuell sogar hier und dort in Europa weiß, dass sie eine politische Gefangene in Argentinien ist. Es gibt 60 lokale Komitees, die sich für die Freiheit von Milagro einsetzen, es gibt Menschen, die bis nach Jujuy reisen, ja quasi herpilgern, um sie zu treffen. Das ist für uns seltsam, aber natürlich freuen wir uns auch über so viel Empathie und Zuspruch von Menschen, die sie gar nicht kennen.

Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen Punkte, für die Milagro in der Provinz Jujuy steht?

Ich würde einige Aspekte ausmachen, die sie als Person verkörpert, aus Sicht derjenigen, die sie gefangen halten: Erstens, sie hat dem herrschenden wirtschaftlichen System der Provinz die Stirn geboten, den vier, fünf Unternehmern, die hier alles in Händen hielten, darunter auch die Firma Ledesma und ihr Besitzer Carlos Pedro Blaquier. Wir nennen das in Argentinien auch die reale Macht. Es gibt die institutionelle Macht, aber dahinter gibt es die reale Macht, die Wirtschaft eben. Milagro hat sie herausgefordert und dafür bezahlt sie jetzt. Jujuy war immer eine enge und konservative Gesellschaft, in der die Armen eben arm sind und arm bleiben. Es gab kaum Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Mit Milagro sind die Armen plötzlich ins Zentrum von Jujuy gekommen, das wurde sofort als Gefahr interpretiert.

Zweitens, Milagro hat den religiösen und kulturellen Status quo der Provinz angegriffen, indem sie die indigenen Völker auf die öffentliche Bühne gebracht hat. Sie durften Reden in ihren Sprachen halten und die Fahne der indigenen Völker, die Wiphala, schwingen. Die Gesellschaft hat dazu gesagt: „Die Bolivianer sind angekommen, sie haben die argentinische Fahne eingeholt, wir verlieren Jujuy!“ Obwohl wir hier fast alle bolivianisches Blut haben, werden die Bolivianer*innen extrem stigmatisiert.

Drittens, Milagro ist eine Frau, eine tapfere, rebellische, indigene Frau. Das hier ist eine machistische Gesellschaft. Die Frau soll fügsam sein, weiblich und liebend – und wenn sie groß gewachsen und dünn ist, ist es noch besser. Aber keine Leaderin, die im Fußballtrikot ins Stadion geht und die Hymnen der Fans mitsingt. Milagro hat auch in diesem Sinne den Status quo herausgefordert. Hier in der Gegend, überall in der Andenregion, gibt es zwar starke matriarchalische Strukturen, aber gleichzeitig gibt es einen sehr ausgeprägten Machismus. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte man ihr alles verziehen, aber so nicht.

Und viertens hat sie das Zweiparteiensystem hier durchbrochen. Die Geschichte dieser Provinz war im gesamten 20. Jahrhundert ein Kampf zwischen Radikalismus und Peronismus. Ihr ist es gelungen, auch auf politischer Ebene, eine dritte Kraft zu etablieren. Wir sind zu Wahlen angetreten und gewählt worden und das haben uns beide traditionellen Kräfte sehr übel genommen. Historisch sind wir dem Peronismus sehr verbunden, rund 80 Prozent der Menschen bei der Tupac kommen aus dem Peronismus und viele unserer Grundprinzipien sind den peronistischen ähnlich. Trotzdem hat auch der klassische Peronismus uns als Gefahr wahrgenommen.

Was wird Ihrer Meinung nach geschehen?

Ich bin überzeugt, dass Milagro in Haft bleiben wird, so lange es diese Regierung gibt. Und zwar ohne dass es je ein ordentliches Verfahren und ein Urteil geben wird.

Das interview mit Juan Manuel Esquivel führte Sandra Schmidt am 22. Dezember 2017 in Jujuy.