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Warum Cortés wirklich siegte

Klaus Theweleits Technologiegeschichte der eurasisch-lateinamerikanischen Kolonialismen
Gert Eisenbürger

Eigentlich lese ich lieber Romane und Erzählungen als Sachbücher. Allerdings gibt es Ausnahmen, nämlich solche Bücher, die eindeutig nicht zum Genre der Belletristik gehören und somit als Non-Fiction zu bezeichnen sind, deren Lektüre aber dennoch einen literarischen Genuss bedeutet. Dazu gehören die meisten Bücher von Klaus Theweleit. Seit seinen zweibändigen „Männerphantasien“ aus dem Jahr 1977, inzwischen ein Standardwerk zum Verständnis der psychosozialen Strukturen, die den Nationalsozialismus ermöglicht oder sogar verursacht haben, hat er immer wieder Bücher vorgelegt, die eine Analyse historischer Entwicklungen und sozialer Phänomene auf der Basis eines ganz eigenen, durch kritische Theorie, Psychoanalyse, feministische beziehungsweise Genderanalysen sowie profunder Kenntnisse in Literatur- und Kunstgeschichte geprägten Ansatz leisten.

Gleichzeitig sind seine Bücher literarische Collagen. In seinen Arbeiten bezieht er sich immer wieder auf Bücher und Aufsätze anderer Autor*innen, referiert deren Inhalte und Analysen oft so begeistert und engagiert, dass man als Leser*in das Interesse verspürt, sich diese Bücher schnellstmöglich zu besorgen und zu lesen (was man dann meistens doch nicht tut, weil ein paar Seiten später wieder ein anderer spannender Titel in den Blick gerückt wird und man ja ohnehin erstmal den dicken Wälzer von Theweleit zu Ende lesen möchte).

In seinem jüngsten Buch „Warum Cortés wirklich siegte“ setzt sich Klaus Theweleit mit den Voraussetzungen des europäischen Kolonialismus auseinander und der Frage, warum eine Handvoll europäischer Kolonialisten (ausschließlich Männer) die Großreiche der Inka und der Azteken erobern und dort neue, aus Europa importierte Herrschafts- und Produktionsverhältnisse durchsetzen konnten. Das wird in der europäischen Geschichtsschreibung gemeinhin mit der (waffen-)technologischen Überlegenheit der Europäer sowie deren geschickter Ausnutzung politischer Widersprüche in den genannten Reichen begründet. Sowohl die Großreiche der Inka als auch der Azteken waren relativ junge Gebilde, die viele Territorien erst im Jahrhundert vor der spanischen Eroberung erobert und deren Bevölkerungen tributpflichtig gemacht hatten. Indem sie die Widersprüche zwischen den vormaligen Eliten der unterworfenen Völker und den Repräsentanten des Inka- beziehungsweise Azteken-Staates instrumentalisierten und Bündnisse mit verschiedenen Führungspersönlichkeiten aus von den Inka und Azteken unterworfener Gruppen schlossen, konnten die spanischen Kolonialisten ihre extreme personelle Unterlegenheit kompensieren.

Mit diesem Aspekt beschäftigt sich Theweleit nur am Rande. Ihn interessiert vor allem die Frage der technologischen Überlegenheit, die für ihn weit über die – sicherlich bedeutsame – Verfügung über Feuerwaffen hinausgeht. Sein Buch trägt den Untertitel „Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen“. Dabei geht er sehr weit zurück – bis in die Antike und sogar die ersten Agrarkulturen. Der Beginn des Ackerbaus und der Tierhaltung, schreibt Theweleit, war der Beginn einer auf Selektion und Segmentierung basierenden Entwicklung. Zum Anbau wurden die Samen der Pflanzen selektiert, die sich durch positive Erfahrung bezüglich Ertrag und Robustheit auszeichneten. Auch bei der Domestizierung von Tieren wurden die Arten gezüchtet, deren Fleisch oder Produkte (Milch, Eier) die Ernährungspalette erweiterten oder die für den Arbeitseinsatz, vor allem als Zugtiere und für die Bewachung von Häusern oder Herden, geeignet waren. Zur Etablierung der Viehzucht gehörte auch, dass die Menschen über Jahrhunderte eine Immunisierung gegen die Krankheiten entwickelten, die von den domestizierten Tieren übertragen wurden. Dieser Prozess hat zahlreiche Menschenleben gefordert, weil über Generationen hinweg viele in die Tierzucht involvierte Menschen und deren Kinder an von Tieren übertragenen Krankheiten starben, ehe immer größere Menschengruppen dagegen immunisiert waren. Als die Europäer*innen dann ihre Haustiere in die Kolonien brachten, verursachten sie damit enorme Pandemien unter der autochthonen Bevölkerung der Amerikas, die gegen die von den europäischen Haustieren übertragenen Krankheiten nicht immunisiert waren. Heute geht man davon aus, dass in vielen Regionen bis zu 90 Prozent der Bevölkerung, die vor der Kolonisierung dort lebten, an aus Europa eingeführten Krankheiten starben. Es gab aber auch Kolonialist*innen (nach der ersten Phase der Eroberung wanderten auch europäische Frauen in den Amerikas ein), die aufgrund fehlender Immunisierung den in den neuen Kolonien vorkommenden Infektionskrankheiten zum Opfer fielen, allerdings längst nicht so viele, was unter anderem damit zu tun hat, dass es im vorkolonialen Amerika nur sehr wenige domestizierte Tierarten (vor allem Kamelide, also Lamas, Alpacas etc.) gab, die eng mit Menschen zusammenlebten.

Auch weitere Entwicklungsschritte wie etwa die Metallschmelze oder der Schiffbau basierten auf Selektion und Segmentierung. Dabei ging es darum, welche Gesteine nützliche Metalle enthielten, welche Hölzer für den Schiffbau geeignet waren oder wie die Arbeitsprozesse, die zu deren Gewinnung und Verarbeitung notwendig waren, so zerlegt und aufgespalten werden konnten, dass sie für die jeweiligen Kollektive leistbar wurden. Ein absolutes Meisterstück der Segmentierung in der Antike war die Buchstabenschrift, die es ermöglichte, alle Wörter in gerade mal zwei Dutzend Zeichen, sprich Buchstaben, zu zerlegen und damit fast alles, bestimmte Gefühlsäußerungen vielleicht ausgenommen, darstellen und beschreiben zu können.

Überraschend, aber typisch für Theweleits multidisziplinäre Betrachtungsweise sind dann die folgenden Ausführungen. Einen entscheidenden technologischen Schub bedeutete die Entdeckung und Einführung der Zentralperspektive im Europa des 13. Jahrhunderts. Was zunächst einmal nur eine Revolution in der Malerei bedeutete und diese über mehrere Jahrhunderte bestimmte (ehe sie von der Moderne wieder teilweise aufgegeben wurde), hatte Auswirkungen weit über die Kunst hinaus. Denn ohne die Zentralperspektive wäre die gesamte Kartografie nicht möglich gewesen. Die war aber wiederum von entscheidender Bedeutung für die Seefahrt, aber auch die Eroberungszüge von Cortés und Co. Mithilfe der Kartografie konnten die Konquistadoren Entfernungen nicht nur schätzen (das konnten auch die Inka und Azteken auf der Basis empirischer Befunde, also den Erfahrungen, wie viele Tagesmärsche bestimmte, ihnen bekannte Orte entfernt waren) sondern auch berechnen. Theweleit weist darauf hin, dass keine der von Europäern kolonisierten Territorien, – nicht nur in Amerika, sondern auch in Asien und Afrika, – die Zentralperspektive und die darauf basierenden Möglichkeiten der Kartografie kannten.

Damit wäre die im Buchtitel gestellte Frage „Warum Cortés wirklich siegte“ eigentlich schon beantwortet. Es war die Überlegenheit nicht nur in der Waffentechnologie, sondern auch im räumlichen Denken und der Betrachtung der Natur und der sich aus ihrer umfassenden Nutzung ergebenden ökonomischen Potenziale. Dazu kamen die aus Europa angeschleppten Krankheiten, die die kolonisierte Bevölkerung radikal dezimierten und die Verbliebenen in der ersten Phase ihres Kontaktes mit den Weißen dazu zwangen, sich vor allem mit dem eigenen Überleben zu beschäftigen, und wenig Kapazitäten für die rasche Aneignung technologischer Kenntnisse aus Europa und die Organisation des Widerstands gegen Kolonisierung, Unterwerfung und Zwangsarbeit ließ. Wie schnell sich die Einwohner*innen der Andenregion europäische Kenntnisse und Konzepte aneignen konnten, zeigt die vom kolonialen Klerus zur Ausstattung der zahlreichen Kirchen initiierte Malerschule von Cusco. Die indigenen Künstler operierten dort bereits nach kurzer Einführung selbstverständlich mit der Zentralperspektive.
Da es Theweleit in dem Buch aber längst nicht alleine um die Frage geht, warum Cortés wirklich siegte, endet sein Buch nicht im 16., sondern im 21. Jahrhundert. Er zeichnet nach, wie die technologische Entwicklung einerseits den Kolonialismus ermöglichte, wie der aber umgekehrt die weitere technologische und gesellschaftliche Entwicklung forcierte, etwa durch die Durchsetzung neuer Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen. Die globalen Großreiche Spanien, Portugal und bald auch England waren nicht mehr durch die bis ins 15. Jahrhundert vorherrschenden personalisierten Herrschaftsverhältnisse zu kontrollieren und zu verwalten. Es entwickelten sich, zunächst in Spanien, Staatsbürokratien und neue Formen der Kommunikation und Dokumentation. So wurden Handelsaktivitäten genauestens aufgezeichnet und archiviert, um staatliche Ansprüche auf Steuern und Abgaben begründen und durchsetzen zu können.

Diese Tendenz zur Dokumentation und Überwachung der immer stärker segmentierten Arbeits-, Verwaltungs- und Lebensabläufe schreibt Theweleit bis ins 21. Jahrhunderts fort und skizziert Zukunftsszenarien aufgrund der technologischen Entwicklung.

Wie in allen seinen Veröffentlichungen interessieren Theweleit auch im vorliegenden Buch die psychischen Strukturen der Individuen, die bestimmte Entwicklungen einerseits ermöglichen, andererseits aber auch hervorbringen. Wenn Frantz Fanon einst in Bezug auf den antikolonialen Kampf den Satz „Das kolonisierte Ding wird Mensch“ formulierte, beschreibt Theweleit wie aus Menschen Kolonialisten werden, die andere Lebensformen als minderwertig und unwert betrachten und alles und jede*n einzig unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit analysieren, also was daraus maximal herauszuholen ist. Aber genau genommen beschreibt er nicht, wie aus Menschen Kolonialisten werden, sondern wie aus Männern solche werden. Verweisen, dass auch Frauen an Eroberungen und Kolonisierungen beteiligt waren, entgegnet er, dass es genauso war: Einzelne Frauen, manchmal auch Gruppen von Frauen, waren an dem beteiligt und hatten Nebenrollen in dem, was andere, nämlich Männer, organisiert, betrieben und angeführt haben: Eroberungs- und Unterwerfungskriege. Das ist etwas anderes als weibliche Täterinnenschaft.