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Der Zug des Vergessens

Moira Millán erzählt mit ihrem ersten Roman die Geschichte der Mapuche
Alix Arnold

Eine Liebesgeschichte (wobei es bei einer nicht bleibt) und die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen lassen uns eintauchen in die Welt der Mapuche im argentinischen Patagonien beziehungsweise im Puelwillimapu. Die geschilderten Erlebnisse vermitteln ein vielschichtiges Bild von Kultur und Spiritualität der Mapuche, ihrer Sprache, ihrem Verhältnis zur Natur, ihren Lebensbedingungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der ungeheuren Gewalt, der sie durch den Kolonialismus der Argentinier und europäischen Einwanderer ausgesetzt waren. Für den Eisenbahnbau mit englischem Kapital im Süden Argentiniens wurden die indigenen Völker von ihrem angestammten Land vertrieben, die Gebiete wurden eingezäunt und viele Bewohner*innen ermordet oder zur Zwangsarbeit verschleppt.

Llanlaray erzählt über das Leben ihrer Urgroßmutter und ihrer 1900 geborenen Großmutter Pirenrayen, einer Protagonistin des Romans. „In den Adern der Erzählerin fließt Mapuche- und Tehuelcheblut, sie hat sich entschlossen, Zeugnis abzulegen über ihre Gemeinschaft und deren indigene Wurzeln, damit die Erinnerung über das Vergessen siegt, das die Verfechter des Fortschritts durchsetzen wollen“, heißt es programmatisch im Klappentext. Moira Millán ist nicht nur Schriftstellerin, sondern vor allem schon lange eine Weichafe, eine Kämpferin für die Rechte ihres Volkes. Sie ist 1970 in der Provinz Chubut geboren. Ihr Vater und ihr Großvater waren Eisenbahner. In den 90er-Jahren beteiligte sie sich in verschiedenen Gemeinden an der Rückeroberung von Territorien der Mapuche und an der Verhinderung von Räumungen. 2002 war sie Teil der Bewegung gegen den Mega-Bergbau in Patagonien (siehe auch den Artikel „Aufstand zur Verteidigung des Wassers“ in dieser ila). 2011 gründete sie in Chubut die MLT, die Bewegung für den Kampf um Arbeit. 2013 und 2014 rief sie zu Frauendemonstrationen auf, aus denen 2015 der erste Marsch der indigenen Frauen für das Buen Vivir entstand, bei dem Frauen aus den 36 in Argentinien lebenden indigenen Völkern zusammenkamen. 2018 organisierte sie das erste Parlament der indigenen Frauen, wo beschlossen wurde, dass aus dem jährlichen „Nationalen Frauentreffen“ ein plurinationales werden sollte, was inzwischen auch der Fall ist. Nach den Auseinandersetzungen um das Verschwinden und den Tod von Santiago Maldonado 2017 (siehe ila 410 und den Beitrag „Eine Geschichte aus Blut, Schweiß und Tränen“ in dieser ila) bekamen sie und ihre Familie Morddrohungen.

Aber zurück zu ihrem Roman: Eine männliche Hauptfigur ist Liam O’Sullivan, ein Ire, der durch einen in der irischen Befreiungsbewegung engagierten Freund in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei geraten war und sich gezwungen sah, ins Exil zu gehen. Schon in Irland hatte er sich für Eisenbahnen begeistert, und es war sein Wunsch, Eisenbahningenieur zu werden. In Argentinien fand er eine Anstellung bei der britischen Eisenbahngesellschaft mit der Aufgabe, die Arbeiten zum Ausbau der Bahn zu überwachen. So lernte er Patagonien kennen und Pirenrayen, eine Lawentuchefe, Expertin für Heilkräuter. In ihrer Liebesgeschichte prallen die Kulturen aufeinander. So schlägt ihm seine Geliebte Pirenrayen vor, mit seiner inzwischen auch nach Buenos Aires gekommenen irischen Ehefrau zu dritt zu leben. Für Liam mit seinen katholischen Moralvorstellungen ist eine solche Konstellation von offener Beziehung, die in Mapuche-Gemeinschaften nichts Besonderes war, undenkbar. Der Fortgang der Geschichte lässt jedoch vermuten, dass mit einer solchen Lösung alle Beteiligten um einiges glücklicher hätten werden können.

Immer wieder vermischen und überlagern sich auch die Kolonialismen. England hat Irland kolonisiert, die europäischen Migrant*innen kolonisieren die Mapuche, und es gibt dabei durchaus Ähnlichkeiten. Liams Frau Christine kann nicht verstehen, dass sie von den Indigenen als Wingka angesehen wird, als bedrohliche Europäerin, und als Irin mit den Engländern in einen Topf geworfen wird – ohne sich klar zu machen, dass auch sie keinen Unterschied macht zwischen den verschiedenen indigenen Völkern. Neben der rohen Gewalt versuchen die Invasoren, durch Assimilierung und Schulpflicht ihre Kultur durchzusetzen. Aber nicht alle Indigenen finden es schlecht, dass ihre Kinder in diese Schulen gehen. Denn wenn sie die Sprache der Kolonisatoren verstehen, können sie diese auch besser bekämpfen.

Moira Millán zeichnet diese Geschichte Argentiniens nicht in Schwarz-Weiß-Bildern, sondern in Widersprüchen. Neben den Helden des Widerstands kommen im Buch auch Longkos vor, Anführer der indigenen Gemeinden, die hinterrücks Verträge mit den englischen Firmen abschließen, in denen sie ihnen den Besitz an dem Land zugestehen und damit den Landraub legalisieren. Die Eisenbahn ist einerseits für viele faszinierend, sie bietet neue Möglichkeiten von Kommunikation und Mobilität, und ist gleichzeitig der Grund für gigantische Vertreibungen. Eine der widersprüchlichsten Figuren ist Liam, der als aus Irland Geflüchteter für die englische Invasorenfirma arbeitet, sich in eine Mapuche und ihr Volk verliebt, deren Sprache Mapudungun lernt, den Mapuche-Gemeinden Informationen über bevorstehende Angriffe mitteilt, von denen er durch die Firma erfahren hat, und ein Doppelleben zwischen zwei Familien führt, im mondänen Buenos Aires und in bescheidenen Verhältnissen auf dem Land in Patagonien.

Es ist merkwürdig, dass es den Unterdrückern immer wieder gelingt, nur diejenigen Schlachten in der Erinnerung der Unterdrückten zu verankern, die sie selbst gewonnen haben. Sie machen daraus epische Erzählungen und sorgen andererseits für das Nicht-Erinnern, um den Völkern den süßen Geschmack der kollektiven Siege zu rauben.“ (S. 433) Neben den vielen erlittenen Gräueltaten erinnert dieser Roman auch an große und kleine Schlachten, die die Indigenen gewonnen haben, wie eine gelungene kollektive Aktion der Befreiung von Mapuche-Gefangenen, die völlig widerrechtlich unter demütigenden Bedingungen auf dem Landgut eines englischen Großgrundbesitzers festgehalten wurden. Das Buch endet mit der Entsendung von Militär nach Patagonien, nachdem Mapuche einen heiligen Zeremonienort, der ihnen von der Eisenbahngesellschaft abgenommen worden war, wieder besetzt hatten. Die Soldaten kommen nicht an, denn ihr Zug entgleist, woran auch die Geister der Ahnen ihren Anteil haben. Aber auch Liam ist in diesem Zug und stirbt.

Der vielleicht größte Sieg der Mapuche ist, dass sie den Völkermord überlebt haben, dass sie noch da sind und ihre Sprache und Kultur bewahren konnten. Gegen Ende der fast 500 Seiten des Buches werden Begriffe aus dem Mapudungun mit zunehmender Selbstverständlichkeit ohne spanische Übersetzung benutzt. Moira Millán hat es als erste indigene Schriftstellerin in Argentinien geschafft, einen Roman in einem großen Verlag herauszubringen. Hoffentlich haben viele Menschen in Argentinien diese Möglichkeit genutzt, sich auf unterhaltsame Weise Hintergrundwissen für den stärker werdenden Widerstand der Mapuche anzueignen, und hoffentlich macht das Beispiel der Autorin Schule. Moira Millán arbeitet zurzeit an ihrem nächsten Roman mit dem Titel „Die Wege des Koriander“, in dem sie die Geschichte fortschreiben will.