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„Menospausa“ – Ohne Pause weiter geilen Sound machen

Portrait der mexikanischen Musikerin und DJ Ali Gua Gua

Am 16. August trat Ali Gua Gua im Kölner Sonic Ballroom auf, zehn Jahre nach ihrem letzten Konzert in dieser Stadt mit den Kumbia Queers (bei denen sie die ersten acht Jahre Leadsängerin war). Trotz Hitze und Sommerloch kamen fast 70 Leute und feierten mit Ali und Héctor Guerra eine rauschende Party. Dass Ali dieses Jahr solo in Europa unterwegs war, war spontan zustande gekommen. Unser Glück. So konnten wir nicht nur Ali live erleben, sondern hatten Zeit für ein entspanntes Gespräch über den Dächern von Köln-Kalk.

Alix Arnold
Britt Weyde

Du kannst mich gerne Künstler*in nennen, mittlerweile hab ich keine Angst mehr vor diesem Begriff“, sagt Ali, gefragt nach ihrer Selbstdefinition. Sie ist DJ und spielt mehrere Instrumente: Gitarre, das Saiteninstrument Jarana, Schlagzeug. „Und ich singe total gern.“ Als Kind musste sie auf einer Nonnenschule eine stockkonservative Erziehung über sich ergehen lassen. „Die Messe in der Kirche war erträglicher, wenn du ein Instrument spieltest oder im Chor sangst. Da ich ziemlich schief sang, verbannten sie mich ans Schlagzeug. Auf Schlagzeug und Gitarre lernte ich die Hallelujas und das Vater Unser zu begleiten.“ Autodidaktisch ging es weiter und mit 15 schrieb sie ihre ersten Lieder. „Ich war total überrascht, dass ich das konnte. Und ich sang wieder. Seitdem nenne ich mich cansautora.1 Wir cansautores sind anstrengend: Wir reden viel und spielen weniger.“ Als Jugendliche hörte Ali Gua Gua die cubanische Liedermachermusik Nueva Trova, die ebenfalls viel, oft profunden, Text enthält. „Rockmusik war aber mindestens genauso wichtig.“ Veracruz, wo Ali aufwuchs, ist ein musikalisch inspirierender Schmelztiegel. „Dort hast du die Marimba2, den für Veracruz typischen Son Jarocho3, Música tropical und Salsa. Auf dem zentralen Platz von Veracruz, wo es sehr laut ist, kommt all diese Musik zusammen.“

Ali Gua Gua bezeichnet sich selbst als „Schwamm“, der begierig unterschiedliche Musik aufsaugt. Und tatsächlich: Kirchenlieder, Punkrock, Cumbia, das war die grobe Wegstrecke. Hinzu kommen Rap, Electronica, Reggaeton, Trap, Bolero, Son, alles Genres, die auf Alis neuem Album „Menospausa“ zu hören sind. Gibt es einen bisher wenig genutzten Stil, der Ali reizen würde? „Corridos“, sagt sie direkt. Die für Nordmexiko typische Musik wurde durch Bands wie Tigres del Norte oder Tucanes de Tijuana bekannt. „Corridos entstanden während der mexikanischen Revolution, als es noch keine Zeitungen gab. Sie verbreiteten Geschichten über die Revolutionäre, Pancho Villa oder La Adelita zum Beispiel.“ Heutzutage handeln Corridos hauptsächlich vom Drogenhandel und huldigen den Narco-Bossen. „Es gibt eine neue Generation. Kinder von Immigrant*innen in den USA haben in den letzten Jahren damit begonnen. Sie mischen Corridos mit Trap, meistens geht es ebenfalls um Gangster. Das sind die Corridos Tumbados. Die finde ich total geil.“

Der zweite Track auf Ali Gua Guas neuem Album „Menospausa“ heißt „Jarochilanga“. Das steht für die Orte, mit denen sich Ali Gua Gua identifiziert. Als Jarocho/a werden die Bewohner*innen des Bundesstaats Veracruz bezeichnet, Chilangos/as sind aus dem DF (heute CDMX), dem Hauptstadtdistrikt. Für ihr neues Album hat sich Ali eine Menge Musiker*innen mit ins Boot geholt: die mexikanischen Marimba-Punk-Cumbieros von Son Rompe Pera oder Miss Bolivia aus Argentinien, mit der sie über „Santería“ und ihre Freundschaft singt. Auch die indigene Rapperin MareAdvertencia Lírika ist mit dabei. „Mare macht unfassbar gute, manchmal etwas traurige Songs. Mit mir wollte sie etwas Tanzbares machen.“ Der Song „Ay ke Cumbión“, an dem zudem Son Rompe Pera mit ihren Marimba-Sounds mitwirken, ist in der Tat eine Aufforderung zum Tanz. „El Chavelazo“, in der gleichen Konstellation, fängt als langsamer Bolero an. Leicht melancholisch singt Ali, wie wichtig Freundinnen sind, Mare antwortet ihr mit einem Rap. Im letzten Drittel ändert sich das Tempo, Son Rompe Pera schwingen die Marimbaschlägel auf einen Skarhythmus. „Kollaborationen machen einfach Spaß. Ohne sie würde es ein bisschen langweilig werden, immer nur die eine Stimme zu hören“, meint Ali.

Neben den Tanzsongs gibt es nachdenklichere, depressivere Tracks, etwa das punkig-trotzig-sarkastische „Menospausa“. „Und in ‚Vicio‘ singe ich darüber, wie Freunde von mir harten Drogen verfallen sind, vor allem Crystal Meth. Und daran zugrunde gegangen sind.“ Songs über gebrochene Herzen dürfen nicht fehlen, zum Beispiel „Salía el sol“ oder der Reggaeton „Cry Baby“, in dem es darum geht, wie eine coole Fassade einen weichen, verletzlichen Kern verbirgt. Schließlich sind da noch sexpositive, genüssliche Tracks wie „Fuck you“ oder „Mama“. Was verbirgt sich hinter dem Song „Flota Maravilla“? „In der Hafenstadt Veracruz sagen wir ‚flota‘ (Flotte) zu den Leuten, mit denen wir gerne abhängen. Der Song ‚Flota maravilla‘ ist eine Hymne an die wunderbare eigene Clique oder Generation. Ich bin irgendwann nach DF gegangen. Früher war Veracruz eine sichere Stadt, in der du gut leben und dich weiterentwickeln konntest. Doch ab 2008/2009, als sich das Kartell der Zetas breitzumachen begann (gegründet von ehemaligen Elitesoldaten, d. Red.), ging alles den Bach herunter. Du durftest nicht mal mehr das Z am Ende aussprechen. Ab da hieß es nur noch ‚Veracru‘. Viele meiner Freunde oder deren Kinder wurden entführt, zum Verschwinden gebracht oder auch rekrutiert. Fast alle meine Leute sind weg von dort. Nur noch einer ist da. Der hat von seiner Oma ein Haus geerbt. ‚Flota maravilla‘ ist der erste Song, den ich zusammen mit DJ Rambón aufnahm. Mir gefällt der Sound der Jarana und der nostalgische Vibe. Er feiert das, was war, all die Leute, die gegangen sind.“

Die Zusammenarbeit mit DJ Rambón war die Initialzündung für die Produktion des Albums „Menospausa“. Mit Rambón entwickelte Ali auch den Soundtrack für die Amazon-Prime-Serie „Ana“, eine fiktionalisierte Dokuserie über das Leben ihrer Schwester Ana de la Reguera, die eine bekannte mexikanische Schauspielerin ist. „Ich komme auch darin vor, spiele mich selbst, ihre Schwester. Für den Soundtrack nahmen wir eine Menge Son-Jarocho-Musiker auf. Diese Songs werden von den Protagonist*innen der Serie gesungen. Für die Aufnahmen konnten wir ein super Tonstudio nutzen. Sorry, Schwester, aber das war auch die Gelegenheit, um mein neues Album aufzunehmen.“

Das Video zu „Ay ke Cumbión“, in dem neben den beteiligten Musiker*innen auch Trickfilmfiguren auftauchen, hat Alis Freundin Dolores de Bernardo gedreht. „Wir wussten, dass das aufwändig wird, aber wir wollten kein typisches Cumbiavideo mit Mädels und nackten Ärschen.“ Apropos Körper, das Cover von Alis neuem Album bietet viel Raum für Interpretation. Was für einige wie ein Keuschheitsgürtel aussieht, könnte auch ganz im Gegenteil ein Harness sein, ein Sextoy, aus dem ein Zentimetermaß herausragt. Was soll da gemessen werden? Ali lacht. „Das Foto stammt von einer befreundeten Fotografin, Bárbara Sánchez Kane, die ich bewundere. Sie entwarf übrigens auch das Kleid von Mon Laferte, als sie bei der Latin Grammy-Preisverleihung gegen die Polizeirepression in Chile protestierte.4 Bárbara ist eine sehr politische Künstlerin. Ihr Coverentwurf gibt die Idee des Albums sehr gut wieder. Jede*r einzelne kann das für sich selbst interpretieren. Das Maßband könnte ja auch abmessen, wie viel Menopause du gerade hast.“

Zurück zur diesjährigen Tour von Ali Gua Gua. Ali hatte am 24. Februar im Foro Alicia aufgelegt, einem legendären Veranstaltungsort in Mexiko-Stadt, der nach Tausenden Konzerten und 25 Jahren Selbstverwaltung geschlossen wurde. Zum Abschluss gab es ein Cumbiakonzert mit Sonido Gallo Negro und Grupo Kual. Ali war als DJ eingeladen. „An dem Abend gab ich alles. Ich war sehr ergriffen und rief Parolen. Eine Mexikanerin fragte mich danach, ob ich für einen Auftritt nach Berlin kommen wolle, sie lebe dort. Zwei Wochen später gab sie mir die Flugtickets, am 1. August hin, am 31. zurück. Sie hatte gar nicht gefragt, wann ich reisen wollte. Ich würde am 4. August einen Auftritt haben. Wie sollte ich damit einen ganzen Monat über die Runden kommen?“

Ohne Management und mit sehr kurzfristigen Anfragen kam letztlich doch noch eine runde Tour zustande: „In der dritten Woche wusste ich nicht, ob ich nach Amsterdam oder Wien fahren sollte. Ich guckte mir die Landkarte an. Bei den Touren mit den Kumbia Queers habe ich gelernt, dass es nicht geht, wenn ein Ort zu weit weg ist. Am Anfang wusste ich gar nicht, wo München oder Köln liegen. Letzten Endes habe ich die Auftritte über Freund*innen wie euch organisiert. Eine Freundin aus Leipzig, die jetzt in Berlin lebt, organisierte einen Auftritt im Klunkerkranich, einer Dachterrasse in Neukölln. Mein Freund Kuto, der schon als DJ dabei war, als wir mit den Kumbia Queers im Hafenklang in Hamburg spielten, war gerade mit Panchita Peligro unterwegs, einem Mitglied des Frauenmusikkollektivs Chingona Sound aus Mexiko. Über sie konnte ich drei weitere Auftritte in Hamburg, Hannover und Bremen klar machen. Dann gab‘s noch eine Einladung in die Schweiz. Ich habe echt Glück gehabt.“

Eigentlich wollte Ali die Tour zusammen mit einer befreundeten Tontechnikerin machen, die jedoch nach den ersten Auftritten absprang. So war sie allein mit einem Mietauto unterwegs. Ohne Kreditkarte und Deutschkenntnisse ein Auto zu mieten war auch nicht einfach. Neben ihren Auftritten als DJ und Sängerin bot Ali auch Veranstaltungen zur Musikszene in Mexiko und der Situation der Frauenbands an: „In Bremen zeigte ich einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm über meine Punkband Ultrasónicas von 2000 und erzählte, wie wir uns zusammentaten: eine Fabrikarbeiterin, eine alleinerziehende Mutter und eine Bankangestellte. Nach zehn Jahren Pause haben wir wieder angefangen zu spielen, und das mit ziemlichem Erfolg.“

Ali ist nicht nur Musikerin. Mit ihrer damaligen Freundin Diana eröffnete sie 2017 die Bar La Cañita im Stadtteil Doctores von Mexiko-Stadt: „Wir wollten gutes, aber bezahlbares Essen anbieten. Und gute Musik. Essen, Trinken und Musik, das sind die Dinge im Leben, die wir am liebsten mögen. Das Lokal war klein, aber unzählige Bands sind dort aufgetreten, DJs aus allen Ecken Lateinamerikas. Das Viertel hat einen schlechten Ruf, ist aber zentral gelegen. Drumherum gibt es schickere Viertel, aber um zum Zentrum zu gelangen, musst du da durch. Ich habe neun Jahre dort gelebt. Von allen meinen Wohnorten in Mexiko habe ich mich hier am meisten zuhause gefühlt. Die Leute grüßten mich, ich hatte zum ersten Mal das Gefühl von ‚meinem Viertel‘“, erinnert sich Ali. „Mit 30 Jahren war ich zum ersten Mal in Europa. Auf den Touren habe ich viel gelernt, aber mir war immer klar, dass ich nicht in Berlin oder New York leben will, sondern in Mexiko, um dort das Gelernte umzusetzen. Das sind zum Beispiel die Arbeit im Kollektiv oder der Versuch, inklusive Räume zu schaffen, wo es nicht in erster Linie um Gewinn geht, sondern um gute Musik ohne superteure Eintrittspreise. Damit meine ich nicht besetzte Häuser oder ähnliches, das geht in Mexiko gar nicht, sie werfen dich sofort raus. Meine Freundin kam aus Spanien, sie kocht supergut und hatte viele Freundinnen aus der Literatur- und queeren Szene. Die Miete war billig, weil dort vorher verschiedenste Geschäfte gewesen waren, alle ohne Erfolg. Uns gaben sie zwei oder drei Monate. Aber es lief gut, es kamen viele Leute, ein sehr gemischtes Publikum.“

Im Mai 2019 gab es einen homophoben Angriff auf die Bar. Zwei Typen forderten erst Gratisgetränke, dann Sex mit Wirtin Diana. Als sie ihnen unmissverständlich klarmachte, dass sie verheiratete Lesbe sei und kein Interesse hätte, griffen sie das Personal an, verletzten mehrere Personen und nahmen die Bar auseinander. In derselben Nacht wurde dort Feuer gelegt. Ali und Diana machten die Geschichte öffentlich und organisierten ein Solifest:, „Keine Gewalt, für nachbarschaftliches Zusammenleben“, mit dem Sonidero (DJ) Sonido La Changa. „Als die Leute aus dem Viertel sahen, dass sich diese berühmte Person solidarisierte, boten sie ebenfalls Unterstützung an.“ Auf dem Fest spielten unter anderem Son Rompe Pera, Mare Advertencia Lírika und Lengua Alerta: „Wir sperrten die Straße ab. Am Ende waren 2000 Leute da. Unglaublich. Dadurch wurde das Lokal zu einem Treffpunkt. Sogar alte Stonewall-Aktivisten kamen in die Bar. Doch dann ging es mit Diana auseinander.“ Und es kam die Pandemie, eine für alle schwierige Zeit. „Das Lokal gibt es immer noch, unter anderem Namen. Wir acht, die dort gearbeitet hatten und dann arbeitslos wurden, haben nun eine Kooperative gegründet und werden in Kürze eine neue Kneipe aufmachen. Sie wird nicht mehr La Cañita heißen, die kleine Caña, sondern La Caña. Wir sind erwachsen geworden! Ein schöner Name, denn Caña kann Angelrute oder Zuckerrohr bedeuten. Oder ein frisch gezapftes Glas Bier.“

Das Album „Menospausa“ von Ali Gua Gua gibt es unter anderem auf Spotify.

  • 1. Wortspiel aus cantautora, Liedermacherin, und cansar, ermüden, also eine Singer-Songwriterin, die ermüdet.
  • 2. Die Marimba, ein Aufschlagidiophon, das zur Familie der Xylophone gehört, ist eine Brücke zwischen Afrika und Lateinamerika. Das Nationalinstrument von Guatemala wird auch in Mexiko, Belize, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica, Kolumbien und Ecuador gespielt. (siehe ila 449)
  • 3. Rhyhtmisch vielfältig hat der Son Jarocho Einflüsse aus Afrika und Spanien. Das typische Saiteninstrument heißt Requinto Jarocho (siehe Interview in der ila 451).
  • 4. Auf der nackten Brust der chilenisch-mexikanischen Sängerin war zu lesen: „In Chile wird gefoltert, vergewaltigt und gemordet“.

Das Interview mit Ali Gua Gua führten Alix Arnold und Britt Weyde am 22. August in Köln.