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Dekoloniale Perspektiven

Der Runde Tisch Brasilien 2023
Laura Held

Vom 20.-22. Oktober 2023 trafen sich mehr als 110 Menschen, darunter viele Brasilianer*innen, in Bonn zum „Runden Tisch Brasilien“ (RTB 23). Thema des jährlich stattfindenden Treffens war diesmal „Dekoloniale Kämpfe: Nunca mais um Brasil sem nós! Nie mehr ein Brasilien ohne uns!“. Der überwiegende Teil der Teilnehmer*innen repräsentierte kirchliche, gewerkschaftliche oder zivile Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit oder der internationalen Solidarität.

Der Freitagabend begann mit der Plenumsdebatte „Ein Jahr Regierung Lula und die Kämpfe gegen strukturellen Rassismus“. Dazu sprachen auf dem Podium drei Frauen: Jéssica Tupinambá, Vertreterin der Rechtsabteilung der Vereinigten Bewegung indigener Völker und Organisationen Bahias (MUPOIBA), Iracema Kaingang, Kazikin der Kaingang aus Rio Grande do Sul, sowie Ana Gualberto, Mitglied in zahlreichen Schwarzen Frauenkollektiven und Geschäftsführerin des Ökumenischen Netzwerks KOINONIA in Bahia.

Jéssica sang und tanzte und sang zunächst ein traditionelles Gebet auf Tupinambá. Dann sprach sie über die aktuellen Kämpfe der Tupinambá für die Verteidigung ihres Territoriums. Agrarunternehmen und Goldsucher versuchen, sich das indigene Land anzueignen. Weil sie dabei äußerst brutal vorgehen, gab es bereits Todesfälle, auch Jéssicas Familie wurde mehrfach angegriffen. Iracema berichtete über die Lage der Kaingang, einem in den Wäldern der Grenzregion zwischen Brasilien und Paraguay lebenden indigenen Volk, dessen Lebensgrundlagen durch den ausufernden Sojaanbau immer stärker bedroht werden.

Ana Gualberto ging kritisch mit der Lula-Regierung ins Gericht. Afrobrasilianer*innen würden weiterhin straflos ermordet, vergewaltigt und beleidigt. In der Verfassung von 1988, für die ihre Vorgänger*innen gekämpft haben, würden die Rechte Schwarzer und Indigener ausdrücklich benannt, aber sie würden nicht umgesetzt.

Am Samstagvormittag gab es vier parallele Workshops. Dabei gab es die Gelegenheit, in einer kleineren Runde mit zweien der Referentinnen des Vortags zu diskutieren, mit Ana Gualberto über afrobrasilianische Gemeinden im Widerstand und mit Jéssica Tupinambá über die Rückführung indigener Artefakte. Ein dritter Workshop mit Felipe Campos von der Landlosenbewegung MST stellte konkrete dekoloniale Projekte für Klimagerechtigkeit und Ernährungssouveränität vor. Im vierten Workshop mit Pedro Affonso Ivo Franco ging es um dekoloniale Perspektiven der Entwicklungszusammenarbeit in Amazonien. Pedro stellte die von ihm und Marina Caetano erstellte Studie „Analysing Decolonial Climate Perspectives. The Case of the Brazilian Legal Amazon“ vor.1

„Feministische internationale Außenpolitik und Dekolonisierung“ war das Thema des Samstagnachmittag. Dabei standen die kürzlich veröffentlichten Leitlinien der Bundesregierung zur „feministischen Entwicklungszusammenarbeit“ im Fokus. Die Podiumsrunde des Vorabends wurde durch Esti Redondo vom „Movimento dos Pequenos Agricultores“, erweitert. Uta Grunert von KoBra fasste zunächst die neuen feministischen Leitlinien zusammen. Es würden dort starke Ziele propagiert: Feminismus, Intersektionalität, Postkolonialismus. Es gehe um die „drei R“, mehr Rechte, mehr Ressourcen und mehr Repräsentanz für Frauen in Entscheidungsgremien. Es werde ausdrücklich anerkannt, dass koloniale Kontinuitäten, rassistische Denkmuster bis heute in der EZ herrschten. Dennoch werde ein alter Entwicklungsbegriff verwendet, Reparationen stünden nicht auf der Agenda, und Kapitalismus- oder Systemkritik fehle ganz.

Auf die Frage an die Sprecher*innen, was sie unter Feminismus verstünden, propagierte Jéssica einen indigenen Feminismus, dessen Voraussetzung eine Dekolonisierung sei. Ana meinte, Schwarzer Feminismus bedeute, dass Schwarze Frauen nie nur für sich kämpften, es ginge ähnlich wie bei den indigenen Frauen um das Leben und die Zukunft aller. Esti plädierte für einen entkolonialisierten, entpatriarchalisierten und popularen Feminismus. Es gebe nicht nur einen, sondern viele Feminismen. Sie als kleine Bauern und Bäuerinnen hätten eine ganz andere Agenda als weiße, urbane Frauen. Bei Kooperationen müssten alle Feminismen berücksichtigt werden.

Beim „Markt der Möglichkeiten“ am Samstagabend wurden konkrete Projekte und Kampagnen vorgestellt und diskutiert. Themen waren unter anderem ein selbstverwalteter Fonds für indigene Projekte im Amazonas; der Kampf ländlicher Gemeinden gegen den geplanten Export-Eisenbahnkorridor Serra do Mar in Paraná, „Nova Ferroeste“, der die dortige Biodiversität (seit 1990 UN Weltnaturerbe) massiv beeinflussen wird; die aktuelle Lage der Guaraná und Kaioná und Wege zur Verbesserung ihrer Ernährungssouveränität sowie die anstehende G20-Präsidentschaft Brasiliens, die am 1. Dezember 2023 beginnt. Um diese kritisch zu begleiten, sucht die brasilianische Zivilgesellschaft Ansprechpartner*innen in Deutschland (siehe auch Notizen S. 18/19 ).

Auf der Website von KoBra wird eine ausführliche Dokumentation des RTB 23 erscheinen unter: https://www.kooperation-brasilien.org/de/veranstaltungen/runder-tisch-br...