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Die Kirche auf die Anklagebank!

Sexualisierte Gewalt durch Kleriker in Lateinamerika

„Sobrevivientes“ oder „survivors“, so nennen sich die Opfer sexualisierter Gewalt in Lateinamerika, Nordamerika und fast überall auf der Welt. Das habe ich in Rom gelernt, beim weltweiten Protest kurz vor der Weltsynode, als wir, Opfer sexualisierter Gewalt durch Kleriker der katholischen Kirche, vor Ort protestierten und von der italienischen Polizei daran gehindert wurden. Vom 29. September bis 3. Oktober 2023 weilten 70 Frauen und Männer aus 25 Nationen in Rom, um als ECA (Ending Clergy Abuse) Papst Franziskus einen Vorschlag zu unterbreiten, der eine Verschärfung kirchlicher Gesetzgebung zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker enthält. Es war nicht möglich, im Gegenteil musste ich lernen, dass der oberste Katholik wahrscheinlich selbst zu den Vertuschern dieser Verbrechen gegen Kinder und junge Erwachsene gehört und die Leiden der Überlebenden überhört. „Verdad – Justicia – Reparación“ (Wahrheit – Gerechtigkeit – Wiedergutmachung), diesen Dreischritt kennen wir aus der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktaturen, und diese lateinamerikanische Erfahrung gilt auch für den Umgang mit den Verbrechen kirchlicher Täter: „No a la impunidad“ – keine Straflosigkeit! Sexualisierte Gewalt ist ein Menschenrechtsverbrechen!

Werner Huffer-Kilian

Seit 2002 die ersten Anzeigen sexualisierter Gewalt in Lateinamerika eingingen, formierte sich langsam, aber kontinuierlich mit juristischer Hilfe ein Netz von Betroffenen, das Red de sobrevivientes (Netz der Überlebenden). Juristischer Beistand ist dringend nötig, denn die katholische Kirche ist weiterhin mächtig und einflussreich. Weil ich selbst in den 1980ern ein Jahr in Bolivien in der Landpastoral tätig war, verfolge ich die Aufdeckung in diesem Land genauer. Tief getroffen hat es mich in Rom, als ich dort bei dem Protest im September V. H. begegnete. Er war 1995 von dem Jesuiten P. Antonio „Tuca“ Gausset im bolivianischen Sucre missbraucht worden, von demselben Pater, der schon über 20 Jahre vorher einen meiner Bekannten missbraucht hatte. Dass sich nun die „Juanchos“ organisieren, kann nur begrüßt werden (s. Artikel von Peter Strack in dieser ila). Die Organisation DNI (Derecho del Niño Internacional) oder englisch CRIN (Children Rights International) hat 2019 einen Bericht über Fälle sexualisierter Gewalt durch Kleriker in Lateinamerika erstellt, genannt „La tercera oleada“ – Die dritte Welle.1 Denn die erste Welle, die die römisch-katholische Kirche überrollte, war die US-amerikanische, die zweite Welle die europäische.

CRIN gibt an, dass in Chile 2019 von der Staatsanwaltschaft 166 Anzeigen gegen Kleriker untersucht wurden, Red de sobrevivientes Chile spricht von 243 Anzeigen. Es fordert angesichts dieser großen Zahl die Regierung auf, eine unabhängige Kommission ähnlich der Wahrheitskommission einzurichten, in der auch Opfer beteiligt werden.

In Brasilien gibt es noch keine systematischen Untersuchungen. Man geht davon aus, dass bis zu zehn Prozent des Klerus in Fälle sexueller Gewalt verwickelt sind. Die Opfer kommen meist aus benachteiligten armen Kontexten. Das gilt auch für Bolivien, wo 2019 das Innenministerium von 60 Anzeigen sprach, drei Priester wurden verurteilt. In Costa Rica wurden nach Medieninformationen 29 Priester von 27 Opfern angeklagt. Zehn sind von der Kirche suspendiert worden. Ein Richter ordnete sogar die polizeiliche Durchsuchung des Sitzes der Bischofskonferenz an.

In Cuba konnte keine öffentlich zugängliche Information oder Statistik gefunden werden. Das gleiche öffentliche Schweigen der Kirche gilt für Honduras. In El Salvador gibt es zwar eine kirchliche Untersuchungskommission, deren Arbeit ist aber intransparent und sie vermeidet eine Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden. In Guatemala existiert ebenfalls keine systematische Erfassung, doch seien im Juli 2017 zwölf Kleriker verhaftet und 2015 sieben von der Kirche ihres Amtes enthoben worden. Red de sobrevivientes Mexico zählt 550 Fälle, die Kirche habe 152 Priester von ihren Aufgaben entbunden. In Nicaragua sind vor 2017 nach Zeitungsberichten 13 Priester angeklagt worden, und der Erzbischof von Managua ergänzte zwei Anzeigen für 2019. In Panama gab es 14 Anzeigen, die die Kirche intern untersuchte; die Angeklagten wurden ihrer Aufgaben enthoben. In Paraguay kam es in 13 Fällen zu Anklagen und nur in wenigen Fällen zu Urteilen, meist aus Mangel an Beweisen. Aus Peru liegen CRIN nicht viele Informationen vor, allerdings sticht der Fall einer religiösen Gemeinschaft, Sodalicio de Vida Cristiana, heraus, in der 39 Personen Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Dieser Fall wird auch vom peruanischen Kongress untersucht. Die Bischofskonferenz in Uruguay informiert über 44 Anzeigen gegen 40 Priester, von denen allerdings kein Fall an die zivilen Behörden weitergegeben wurde. In Venezuela sind drei Fälle bekannt, aus Ecuador vier konkrete Fälle aus den 60er- und 70er-Jahren, zwei der dafür verantwortlichen Priester wurden aus der Erzdiözese Guayaquil entfernt.

An dieser Stelle kommt für uns in Deutschland eine weitere Vernetzung ins Spiel, nämlich die Koordinierungsstelle Fidei Donum (lateinisch für „Geschenk des Glaubens“) der in Lateinamerika tätigen deutschen Priester, die von Adveniat in Essen betrieben wird und lange Jahre unter Leitung von Emil Stehle stand. In dem im Juli 2022 vorgelegten Abschlussbericht über Fidei Donum wird die Haltung von Stehle, der in Ecuador von 1983 bis 1987 Weihbischof in Quito und danach bis 2002 Bischof von Santo Domingo de los Colorados war, als Missbrauchender wie auch als Vertuscher in konkreten Fällen beleuchtet. Diese Haltung zeugt eindeutig von „klerikalem Korpsgeist“. Aufgrund einer männerbündischen Loyalität und im Dienst der klerikalen Gemeinschaft stehend „erhob er sich auch über staatliche Rechtsordnungen und -entscheidungen. Wie ausführlich beschrieben, half er Priestern, sich der Strafverfolgung zu entziehen (…). Oder er bat sein Netzwerk, die inszenierten Vertuschungstaten zu unterstützen (…). In seinem Denken waren Betroffene nicht existent.“2 (zu Emil Stehle vgl. „Viel Verständnis für den Monseñor“ in der ila 459)

Vor seinen Tätigkeiten bei Adveniat und in Ecuador war Stehle Pfarrer der deutschen Gemeinde in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. In diesem Land gab es bis 2023 bei der Staatsanwaltschaft 42 Anzeigen gegen Priester, davon befinden sich 21 in der Untersuchungsphase, 15 im Gerichtsverfahren; sechs Priester wurden bereits bestraft.3 Sehr bewegt hat mich in Rom am 30. September die Begegnung mit Marcos Torres, einem Rechtsanwalt aus Bogotá. Er selbst wuchs als Waise mit seiner Schwester im Elendsviertel von Buenaventura (Valle del Cauca) auf und kam in ein Don-Bosco-Internat, wo er mehrere Jahre missbraucht wurde. Nach einer Odyssee auf der Suche nach seinen leiblichen Eltern landete er in Bogotá, studierte Jura und arbeitet heute als CRIN-Anwalt für sich und andere Opfer sexueller Gewalt durch Kleriker. Sein Vergewaltiger lebt noch und ist bis heute nicht bestraft worden, aber Torres gibt nicht auf. Aktuell vertritt er rechtlich einen besonders schweren Fall systematischen Missbrauchs: Pedro wurde über 20 Jahre lang in der Diözese Villavicencio an 38 Priester quasi als „Sexobjekt“ immer wieder weitergegeben und „benutzt“. Diesen Leidensweg hat der Journalist Juan Pablo Barrientos trotz juristischen Widerstands der Bischofskonferenz in seinem Buch „Este es el cordero de Dios“ (Das ist das Lamm Gottes) 2021 öffentlich gemacht.4 Torres und andere Juristen von CRIN fordern vom kolumbianischen Parlament, eine Untersuchungskommission einzurichten. Es bedürfe einer unabhängigen Aufarbeitung, um weiterer Vertuschung und Vermeidung entgegenzutreten.

In Argentinien fand der Fall von Diego Pérez große Aufmerksamkeit. Auf der internationalen Pressekonferenz von ECA in Rom konnte er seine Geschichte erzählen. Seit 2008 kämpft er mit seinem Anwalt um Aufklärung, Gerechtigkeit und Entschädigung. Als sein Kleriker-Täter Eduardo Lorenzo 2019 verhaftet wurde, beging dieser Selbstmord, und sein Bischof zelebrierte eine „Misa de Memoria“ (Gedächtnisgottesdienst) in der Tatortkirche. Dieser Bischof, Victor Fernández, wurde gerade von Papst Franziskus zum Kardinal und Leiter der Glaubenskongregation befördert und ist damit oberster Beauftragter für Missbrauchsfälle. Sergio Salinas, Rechtsanwalt von Diego, stellt klar, dass die staatliche Justiz in diesen Fällen gefragt sei, weil die kirchlichen Instanzen und das Kirchenrecht nicht helfen. Salinas, seit kurzem Repräsentant von ECA in Lateinamerika, wurde durch die rechtliche Vertretung missbrauchter Gehörloser des Instituts Antonio Próvolo bekannt. Der argentinische Oberste Gerichtshof hat gerade im Fall Próvolo die Urteile gegen zwei Kleriker (42 und 45 Jahre Haft) und einen Gärtner (18 Jahre) bestätigt. Sie haben in dem Heim für Gehörlose in Mendoza zwischen 2005 und 2016 regelmäßig ihnen anvertrauten Kindern sexuelle Gewalt angetan.

Adrián Vitali, ein ehemaliger Priester, veröffentlicht in seinem Buch „El Secreto Pontificio – la Ley del Silencio“ (Das päpstliche Geheimnis – Das Gesetz des Schweigens) die Zahl von 650 Klerikertätern. „Für die Kirche ist der Missbrauch eines Kindes keine schwere, sondern nur eine lässliche Sünde, die mit einem Gebet vergeben wird“, erklärt er.

Auch der Fall von Sergio Decuyper5, der von seinem Onkel, dem Priester José Decuyper, missbraucht wurde, erregte in Argentinien Aufsehen. 2019 wurde Sergio von Papst Franziskus persönlich empfangen und dieser meinte: „Mach keine Anzeige. Dein Onkel ist verloren. Dein Onkel ist dement.“ Sergio zeigte seinen Onkel dennoch an und weiß, dass selbst die höchste kirchliche Autorität eher an Vertuschung als an Aufklärung interessiert ist.

Adalberto Méndez aus Mexiko, Anwalt von ECA, begrüßt sehr, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH im Dezember 2020 einen ersten Fall sexualisierter Gewalt durch Kleriker angenommen hat. Er war Mitglied einer Delegation von ECA, die dem UN-Kinderrechtskomitee in Genf und dem IStGH, dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, ihr Anliegen unterbreitete. Wegen systematischer Verbrechen stellt sich die Frage der Amtshaftpflicht, und dazu muss die Kirche als solche auf die Anklagebank.