ila

Paz Total in Kolumbien?

Der Weg zum kompletten Frieden ist noch lang

Think Big! Dieser Devise scheint die kolumbianische Regierung in der Friedenspolitik zu folgen. Gleich nach dem Amtsantritt im August 2022 machte der neue Präsident Gustavo Petro den Frieden zur Chefsache. Dies bedeutete nicht nur eine Kehrtwende im Vergleich zu seinem Vorgänger im Präsidentenamt Iván Duque. Letzterer torpedierte während seiner Amtszeit (2018-2022) den Friedensprozess mit der ehemaligen Guerilla FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo) und sorgte damit für quälend langsame Fortschritte bei der Implementierung. Gustavo Petro repräsentiert das Gegenteil. Mehr noch: Seine Regierung möchte die Geschichte der Gewalt im Land beenden und den Friedensprozess komplettieren.

Stefan Peters

Die Regierung von Gustavo Petro greift eine der zentralen Forderungen aus der Ende Juni 2022 vorgestellten Abschlusserklärung der kolumbianischen Wahrheitskommission auf. Die Wahrheitskommission hatte unter dem Begriff „Paz Grande“ (großer Frieden) zur Suche nach Verhandlungslösungen mit sämtlichen Gewaltakteuren aufgerufen. Die kolumbianische Regierung strebt unter dem – nicht nur für deutsche Ohren gewöhnungsbedürftigen – Schlagwort „Paz Total“ (totaler Frieden) genau dies an. Gespräche mit den nicht-staatlichen Gewaltakteuren sollen mit dem Ziel geführt werden, dass diese die Waffen niederlegen. Im Vergleich zu den Friedensverhandlungen mit der FARC-EP (2012-2016) setzt die Regierung dabei auf eine diametral entgegengesetzte Strategie. Während damals unter Fortsetzung der bewaffneten Auseinandersetzung verhandelt wurde, hat diesmal der Abschluss von Waffenstillstandsabkommen Priorität, mit dem Ziel, so die Situation für die Zivilbevölkerung zu verbessern und weitere Opfer zu vermeiden.

Diese Zielsetzung ist ebenso notwendig wie ambitioniert. Schließlich erlebt Kolumbien einen gewaltsamen Friedensprozess. Keine Frage: Das Friedensabkommen mit der FARC-EP aus dem Jahr 2016 stellt einen Meilenstein in der Geschichte des Landes dar, hat die Gewalt insgesamt eingedämmt und bietet die Chance zum Aufbau einer stabilen Friedensordnung. Gerade im Bereich der „Transitional Justice“ setzt Kolumbien zudem neue Maßstäbe. Doch gleichzeitig hat sich die Sicherheitssituation in vielen Teilen des Landes in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert. Auch die Rekrutierung von Minderjährigen gehört in vielen Regionen zum Alltag. Ganze Landstriche befinden sich aktuell faktisch unter der Kontrolle nicht-staatlicher Gewaltakteure. Dies sind neben der ELN-Guerilla und verschiedenen Dissidenten-Gruppen der FARC auch und vor allem (neo-)paramilitärische Gruppen wie der „Clan del Golfo“ oder die „Autodefensas Conquistadoras de la Sierra Nevada“ an der kolumbianischen Karibikküste sowie teils internationale, teils lokale (Drogen-)Gangs. Kurz: Es ist dem Staat weder gelungen, im Anschluss an die Demobilisierung der FARC-EP das Machtvakuum zu füllen, noch hat die historisch marginalisierte Bevölkerung in den abgelegenen Regionen des Landes und in den urbanen Armenvierteln eine spürbare Friedensdividende erhalten. Im Ergebnis bleiben die Gewaltakteure attraktive Alternativen zu einem Leben ohne reelle Hoffnungen auf soziale Teilhabe. Die Stärke der nicht-staatlichen Gewaltakteure ist also insbesondere auf das Versagen bei der Flankierung des Friedensprozesses mit strukturellen Reformen zurückzuführen.

Gleichzeitig verringert gerade dieses Versagen des Staates nun die Erfolgschancen der neuen Friedenspolitik. Viele der Gewaltakteure können die Friedensinitiative der Regierung aus einer Position der relativen Stärke beobachten. De facto konnten gerade die (neo-)paramilitärischen Gruppen ihre Kontrolle über verschiedene Landesteile unter der Regierung von Iván Duque ausweiten und sich damit den Zugriff auf lukrative illegale Geschäfte sichern. Auch die verschiedenen Dissidenten-Gruppen der FARC-Guerilla konnten ihren Einfluss, etwa im Amazonasgebiet oder im Südwesten des Landes, festigen oder gar ausbauen. Die ELN konnte ihren Einfluss in vielen ihrer Hochburgen (etwa an der Grenze zu Venezuela und an der Pazifikküste) im Zuge des Friedensprozesses mit der FARC-EP mindestens konsolidieren. Vor diesem Hintergrund fragen sich viele Beobachter*innen, warum die Gewaltakteure gerade jetzt ein Interesse an Verhandlungslösungen mit dem Staat haben sollten und die aktuelle Konjunktur nicht vielmehr nutzen, um ihre Positionen zu stärken.

Die Beantwortung dieser Frage erfordert zunächst ein Verständnis der Ziele der Gewaltakteure. Klar ist, dass weder die ELN noch die Dissidentengruppen der FARC oder gar die (neo-)paramilitärischen Gruppen die Übernahme der Macht im Staat anstreben. Es geht ihnen eher um die faktische Kontrolle bestimmter Gebiete. Meist stehen diese in direktem Zusammenhang mit dem Zugriff auf lukrative Einnahmen aus illegalen Geschäften, von Drogen über illegalen Bergbau und Menschenhandel bis hin zu Schutzgelderpressung. Dies gilt umso mehr für die (neo-)paramilitärischen Gruppen und lokalen Gangs. Dennoch wäre es simplifizierend, diese Akteure als nicht-politische Gruppen zu klassifizieren. Die faktische Kontrolle von Landstrichen geht stets mit der gewaltsamen Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen einher. Diese beinhalten die Aufstellung und im Zweifel gewaltsame Durchsetzung von Regeln, die faktische Regelung von Alltagskonflikten und die illegale Besteuerung der Bevölkerung. Anders ausgedrückt: Die Gewaltakteure übernehmen in unterschiedlichem Ausmaß klassische staatliche Aufgaben. Es handelt sich also jeweils um eminent politische Akteure. Die ELN und auch die Dissident*innen der FARC schreiben sich darüber hinaus auf die Fahnen, für weitreichende gesellschaftspolitische Veränderungen zu kämpfen. Die tatsächliche Relevanz dieser Ziele unterscheidet sich innerhalb der bewaffneten Gewaltakteure teils deutlich. In der Praxis spielen sie in den Regionen jedoch kaum eine Rolle. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politischen Ziele auf der Ebene der Kommandeur*innen der ELN weiterhin von großer Bedeutung sind.

Letzteres ist ein zentraler Grund dafür, dass es der Regierung bereits kurz nach Amtsantritt gelang, die Friedensgespräche mit der ELN wieder aufzunehmen, welche Anfang 2019 vom damaligen Präsidenten Iván Duque nach einem fatalen Attentat der ELN gegen eine Polizeischule im Süden der Hauptstadt Bogotá abgebrochen worden waren. Der Dialog zwischen den Delegationen der Regierung und der ELN wird international unter anderem von der deutschen Regierung begleitet und auch von kirchlichen Akteuren unterstützt. Die Regierungsdelegation ist heterogen zusammengesetzt. Neben bekannten Politiker*innen aus unterschiedlichen Lagern der politischen Linken wie Otty Patiño, María José Pizarro und Iván Cepeda finden sich auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der Chef des mächtigen Viehzüchterverbandes FEDEGAN, José Félix Lafaurie, in der Delegation wieder. Im Rahmen von verschiedenen Verhandlungsrunden in Mexiko, Caracas und Havanna konnte im Juni 2023 mit der Vereinbarung eines beidseitigen Waffenstillstands ein entscheidender Durchbruch erzielt werden. Neben dem Waffenstillstand ist die Partizipation der Zivilbevölkerung das zentrale Thema der Friedensgespräche und der Markenkern der ELN, mit dem sie sich auch von der ehemaligen FARC-Guerilla abgrenzen möchte. Weitere Punkte betreffen die Verbesserung der humanitären Lage der Bevölkerung in den Konfliktgebieten, Verbesserungen der Haftbedingungen für ELN-Mitglieder in den staatlichen Gefängnissen sowie die Frage struktureller Veränderungen innerhalb der Gesellschaft.

Der Waffenstillstand zwischen der kolumbianischen Regierung und der ELN-Guerilla wird zu Recht als historisch bezeichnet. Allerdings bedeutet der Waffenstillstand leider in vielen Regionen keinesfalls eine Verbesserung der Sicherheitslage für die Bevölkerung. Hintergrund ist, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem kolumbianischen Militär und der ELN nur einen Teil der militärischen Aktionen ausmachen. Die Kämpfe zwischen der ELN und anderen nicht-staatlichen Gewaltakteuren gehen unvermindert weiter beziehungsweise haben sich teilweise intensiviert, mit entsprechenden Folgen für die Zivilbevölkerung, wie etwa massive Vertreibungen aufgrund von Kämpfen zwischen der ELN und FARC-Dissident*innen in Samaniego im südwestlichen Departement Nariño. Dies verdeutlicht die komplexe Situation in vielen abgelegenen Regionen des Landes, in denen verschiedene nicht-staatliche Gewaltakteure um die Kontrolle ringen, und es verdeutlicht gleichzeitig die Relevanz eines umfassenden Ansatzes für Friedensgespräche mit den verschiedenen nicht-staatlichen Gewaltakteuren.

Zusätzlich zum Waffenstillstand sehen die bisherigen Ergebnisse der Friedensgespräche zwischen der Regierung und der ELN einen umfassenden Prozess zivilgesellschaftlicher Beteiligung vor. Ein Partizipationskomitee mit 81 Organisationen aus 30 Sektoren der Gesellschaft wurde eingerichtet, das aktuell die Methoden des Beteiligungsprozesses diskutiert. Dieser soll 2024/2025 umgesetzt werden. Dabei werden bereits jetzt eine Reihe von Herausforderungen bezüglich der Einbindung historisch marginalisierter Bevölkerungsgruppen sowie vorhersehbarer Asymmetrien im Beteiligungsprozess deutlich. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern die Vorschläge aus dem Partizipationsprozess anschließend in die Friedensverhandlungen einfließen und die geschürten Erwartungen der zivilgesellschaftlichen Akteure entsprechend berücksichtigt werden. Die schwere Niederlage der Regierung bei den Regionalwahlen Ende Oktober 2023 hat das Panorama für die Umsetzung struktureller Reformen zusätzlich erschwert.

Zudem sind wichtige Aspekte für einen erfolgreichen Friedensprozess, wie etwa die Einnahme von (intersektionalen) Genderperspektiven in den Friedensverhandlungen – trotz der vergleichsweise hohen Präsenz von Frauen in beiden Delegationen – gerade in der ELN-Delegation keineswegs „Common Sense“. Ebenso stehen mit Blick auf die Rechte der Opfer noch große Fragezeichen hinter der Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen sowie den Verbrechen gegen die Natur und das Territorium. Dabei ist klar, dass erfolgreiche Friedensverhandlungen mit der ELN einen weiteren „Transitional-Justice“-Prozess erforderlich machen. Diese Fragen sind nicht nur für den Friedensprozess mit der ELN relevant, sondern betreffen perspektivisch auch die Verhandlungen mit weiteren Gewaltakteuren. Im Hinblick auf die (neo-)paramilitärischen Gruppen und Gangs wird aktuell zudem die Ausweitung des „Transitional-Justice“-Prozesses zu ihrer Demobilisierung diskutiert.

Die aktuelle Regierung von Gustavo Petro trägt mit der Politik des „Paz Total“ der Tatsache Rechnung, dass verschiedene nicht-staatliche Gewaltakteure breite Landstriche de facto ganz oder teilweise kontrollieren. Zentrales Ziel ist dabei die schnelle Eindämmung der Gewalt. Dies birgt zweifellos das Risiko, dass die Friedensabsichten der Regierung von den Gewaltakteuren zu ihrer eigenen Stärkung ausgenutzt werden. Zudem besteht die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit auf Verhandlungslösungen mit aktiven nicht-staatlichen Gewaltakteuren eine notwendige Fokussierung auf die Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC-EP erschwert.

Dessen ungeachtet konnten insbesondere mit dem Waffenstillstand und den Verhandlungen mit der ELN erste wichtige Erfolge erzielt werden. Doch selbst im Falle von erfolgreichen Friedensverhandlungen ist schon jetzt absehbar, dass es Dissident*innen innerhalb der Gruppierungen geben wird. Dennoch wäre die Demobilisierung eines Teils der aktuell mindestens 15 000 Kämpfer*innen der verschiedenen nicht-staatlichen Gewaltakteure zweifellos ein wichtiger Erfolg. Die Demobilisierung der Kämpfer*innen ist jedoch bei Weitem nicht ausreichend, um die bekannten Dynamiken bei der Reproduktion der Gewalt zu beenden. Der Staat muss das Machtvakuum auch mit sozialer Infrastruktur füllen und der Bevölkerung vor allem echte Perspektiven für ein würdevolles Leben bieten, um auf diese Weise den illegalen Gewaltakteuren ihre Attraktivität zu nehmen. Dies erfordert strukturelle Reformen, die teilweise bereits in den Empfehlungen der Wahrheitskommission benannt wurden. Darüber hinaus stellt sich die zentrale Frage, inwiefern die kolumbianischen Eliten bereit sind, für den Frieden auf einen Teil ihrer üppigen Privilegien zu verzichten. Der Weg zum kompletten Frieden ist weit und wird in der Amtszeit von Petro kaum erreicht werden; doch ein erster Anfang ist gemacht. Ein Scheitern der Politik des „Paz Total“ wäre nicht nur für die Regierung, sondern auch für das gesamte Land ein fataler Rückschlag.

Stefan Peters ist Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das Deutsch-Kolumbianische Friedensinstitut CAPAZ.