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Von der Schweiz nach Argentinien

Das Leben von Nelly Meffert-Guggenbühl und Clément Moreau im Strudel der Weltgeschichte

In der ila 182 (Februar 1995) hatten wir in den Lebenswegen ein langes Interview mit Nelly Meffert-Guggenbühl veröffentlicht. Die damals 90jährige Schweizerin hatte nach 1933 in Zürich Flüchtlinge aus Nazideutschland unterstützt und war 1935 mit ihrem Lebensgefährten, dem deutschen Antifaschisten und Künstler Carl Meffert/Clément Moreau, nach Argentinien emigriert. Nelly starb im Jahr 2000 in St. Gallen (ein Nachruf siehe ila 228). Dort hat der Autor Bernhard Brack-Zahner nun ein spannendes Buch über das Leben der engagierten Schweizer Weltbürgerin veröffentlicht. Im folgenden Beitrag hat der Autor daraus ein Kurzportrait Nelly Meffert-Guggenbühls zusammengestellt.

Bernhard Brack-Zahner

Ungleicher konnten sie fast nicht sein: Nelly Guggenbühl und Carl Meffert, alias Clément Moreau. Sie stammte aus gutbürgerlichem St. Galler Haus: „In unserem Haus waren acht bis zehn Bedienstete beschäftigt: Frau Laib, die Wäscherin, die wir in Anspielung auf den Brotlaib Frau Zapfenbrot nannten, eine Büglerin, eine Weiss- und eine Buntnäherin, eine Putzfrau, ein Kindermädchen, eine Köchin, ein Gärtner und ein Hilfsgärtner. Die meisten waren Schwaben. Es hatte mich immer gestört, dass sie nicht bei uns, sondern in der Küche essen mussten. Ich bin dann jeweils abends zu ihnen in die Kammer gegangen und habe sie gefragt, woher sie kämen und was sie werden wollten. Die Gespräche mit ihnen haben mich hinter ihrer Bedienstetenrolle den Menschen erkennen lassen.“

Er wuchs als uneheliches Kind bei seiner Mutter auf. Mit elf Jahren wurde er von seinem Vater in die Fürsorge gesteckt.: „Die Erziehung zu einem kaisertreuen Untertanen übernahmen nun die ,Ehrwürdigen Brüder der christlichen Liebe', zuerst in der Anstalt Warburg und danach längere Zeit in ,Burgsteinfurth' in Westphalen. Die Zöglinge bekamen ein Minimum an Schulbildung. Anfänglich waren es drei Stunden täglich, später weniger, die restliche Zeit arbeiteten sie auf dem Feld oder wurden an umliegende Rüstungsfabriken ausgemietet. Carl lernte vor allem eines: ausreißen, abhauen, flüchten. Wenn ihm die Situation ausweglos erschien, lief er davon, meistens zu seiner Mutter. Die Bestrafungen danach waren fürchterlich. Er wurde in den Keller gesperrt: vierzehn Tage Dunkelhaft mit einem Teller Suppe pro Tag. Nach der Entlassung fiel seine Klasse über ihn her, weil auch sie bestraft worden war. Nur durchs Zeichnen konnte er sich eine gewisse Erleichterung verschaffen.“

Im Zürich der 30er Jahre arbeitete Nelly Guggenbühl bei den Architekten Hubacher und Steiger, die engen Kontakt zum Bauhaus in Dessau pflegten. Unter dem Deckmantel des Architekturbüros baute sie eine Hilfzentrale für deutsche Emigranten auf, die vor Hitler flüchteten. Sie half Leuten wie Ernst Toller, Heiner Hesse, Bernhard von Brentano, Thomas Mann und eben Carl Meffert, den sie zärtlich Jupp nannte.

Brief von Nelly an Jupp

zürich, den 22.10.1934
mein mann, mein lieber, du.
bist du auch immer noch so glücklich und so vergnügt? das strahlt so richtig fest vom sonntag her, und wenn man so im gehen in die strahlen hineingerät, dann muss man leise innerlich lachen, so recht glücklich und dem jupp was ganz liebes sagen und sich freuen. geht es dir gut? wackeln deine beinchen noch und wackelst und torkelst du noch? und fühlst du auch noch die nele überall wie ich den jupp? du alter musikaner, bist so ein lieber. (...)

Aber so glücklich ihre Liebe war, so sehr wurden sie von den Nazis aus Deutschland und rechtsextremen Schweizer Gruppierungen bedroht. Jupp, der ohne Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz war und dem deshalb die Ausweisung nach Nazideutschland drohte, musste sich stets verstecken, mal in den Bergen, mal im Tessin in Fontana Martina oder in Genf. Sie konnten sich nur selten treffen. Einmal läuteten zwei Polizisten morgens um drei an Nellys Türe. „Sie zeigten mir einen Hausdurchsuchungsbefehl: Sie suchten einen gewissen Carl Meffert und sie hätten Hinweise, dass er sich in dieser Wohnung aufhalte. Sie öffneten Kästen und Schubladen, stellten die ganze Wohnung auf den Kopf und als sie schon gehen wollten, blieb ein Beamter im Gang vor einem Schnitt von Jupp stehen.
‚Genau diesen Mann suchen wir', sagte er und ich antwortete:
‚Ja, ja, dieser Mann ist einmal hier gewesen, er hat mit den Architekten zu tun gehabt wegen der künstlerischen Gestaltung eines Hauses. Ich habe ihm einen Kaffee gekocht und dafür hat er mir diesen Schnitt gegeben. Seither habe ich ihn nie wieder gesehen.'
Als die Beamten gegangen waren, zitterte ich am ganzen Körper.“

Jene Emigranten, die in Zürich blieben, trafen sich beim Dichter Humm oder bei Emmi und Emil Oprecht, manchmal standen bis zu dreißig Emigranten in ihrer Buchhandlung. Die Gespräche drehten sich oft um die Frage, wie lange das Naziregime noch dauern würde. Einige glaubten, es müsse bald zusammenbrechen, es könne sich nur um Wochen handeln, bis der Betrug der faschistischen Regierung aufgedeckt werde. Andere waren skeptisch und richteten sich auf das Emigrantenleben ein, diesen Schwebezustand, der schwer zu ertragen war. Ein weiteres Gesprächsthema war die Hilfe für die Daheimgebliebenen. Einige reisten nach Deutschland, um ihren Freunden und Angehörigen Pässe zu bringen. Nicht immer glückte die Flucht. Trotzdem empfand es Nelly als eine faszinierende Aufgabe, den Emigranten zu helfen, Wohnungen für sie zu finden, Papiere aufzutreiben und ihnen die Flucht nach Übersee zu ermöglichen. Sie arbeitete mit ihren Freunden an einer Art Immunsystem gegen den Faschismus.

Brief von Nelly an Jupp

zürich, den 11.11.1934
lieber mulgeslein
ich glaube nicht, dass der faschismus wie in deutschland hier eindringen kann, auf alle fälle nicht nazistisch. in deutschland war das alles doch eigentlich das erste mal, dass so etwas passierte, man konnte es einfach nicht begreifen, es gab kein gedächtnis, das einem geholfen hätte, dies einzuordnen. jetzt ist doch schon viel von dem schwindel ins volk gedrungen, es ist dahinter gekommen und wenn man immer wieder und bei jeder gelegenheit in starker weise darauf aufmerksam macht, wie das nun schon oft passiert ist, sei es in grafik (ich denke an dich), gesang, buch, theater oder mit zeitungsartikeln, nützt das auf die länge doch etwas. (...)

In Zürich wurde das Leben für die beiden zu gefährlich. Verdächtig oft blinzelte der Nachbar durch den Türspalt. Nelly gelang es dank ihrer Beziehungen zu der Fremdenpolizei, für Jupp einen Nansen-Pass für Staatenlose aufzutreiben. Am 26. März 1935 schiffte er nach Buenos Aires ein und sie folgte ihm einige Monate später.
Anfangs war Nelly sehr begeistert von dieser Stadt, in der das Leben bis tief in die Nacht hinein pulsierte. Doch wie sie sich in Saavedra, einem Außenquartier von Buenos Aires, einzuleben versuchte, spürte sie auch das Misstrauen, welches ihr die Einheimischen entgegenbrachten. Vor allem aber fühlte sie sich abgeschnitten vom Austausch mit ihren Freunden.

Brief von Nelly an Emil und Emmi Oprecht

buenos aires, den 10.8.1935
(...) ihr habt keine ahnung wie man durst hat nach briefen, besonders von euch, weil ihr so ganz stark verbunden seid mit allem, was uns interessiert und angeht. hier ist man in dieser beziehung wie abgeschnitten. von nirgendsher irgendeine anregung oder die möglichkeit mit jemandem zu reden, der bedeutend mehr orientiert ist über alles. das fehlt furchtbar, das kann ich euch sagen. die menschen hier machen mir am meisten zu schaffen. ich kann verstandesmässig sehr gut verstehen, dass das land so ist, dass die leute in geistiger beziehung keine tradition haben, dass das hauptinteresse das geldverdienen ist. all das verstehe ich gut, aber da ist doch etwas, was einem fehlt, wenn man von zürich kommt und mit den menschen zusammenlebte, die aktiv beteiligt waren an der entwicklung. jupp sagt, du musst nicht traurig sein, das hängt nur von uns ab. ich weiss das auch, aber es ist viel schwerer, wenn man keine richtlinien und keine anregungen hat. (...)

Nelly und Jupp knüpften Kontakte zu anderen Emigranten in Buenos Aires und lernten auch Ernesto Alemann kennen, einen Verleger schweizerischer Abstammung, der das „Argentinische Tageblatt“ herausgab, das – anders als die pronazistische „Deutsche La Plata Zeitung“ – gegen den Faschismus schrieb. Jupp verdiente etwas Geld, indem er der Zeitung jede Woche antifaschistische Schnitte ablieferte. Gleichzeitig unterrichtete er an der Pestalozzi-Schule, die nicht den Nazis gleichgeschaltet war, und lernte dort August Siemsen kennen. Siemsen war Sozialist, Kopf der Bewegung „Das Andere Deutschland“ und Herausgeber der gleichnamigen Zeitung, welche versuchte, die Kräfte gegen den Faschismus zu vereinen. Da kamen oft die seltsamsten Leute zusammen, Kämpfer verschiedenster politischer Schattierungen. Siemsen war 1920 während der Niederschlagung der Räterepublik im Ruhrgebiet von einer Rednertribüne weg inhaftiert worden und drei Jahre im Gefängnis gewesen. Er arbeitete danach als Lehrer, blieb aber seinem politischen Engagement treu und wurde sozialistischer Reichstagsabgeordneter. 1933 floh er mit seiner Frau nach Argentinien, einige Jahre später folgte ihnen ihr Sohn Pieter (vgl. ila 275). Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten sie nach Deutschland zurück.

Brief von August Siemsen an Nelly und Jupp

Sutthausen, 6.1.1955
(...)
Was uns angeht, so haben wir uns reichlich mühsam durch das grausige Wetter des letzten Jahres durchgeschlagen. Niemand kann sich an ein solch beständig schlechtes Wetter erinnern. Und wir sind völlig dem bösen Westwind ausgesetzt, der uns so gar nicht bekommt. Der im Ganzen ziemlich miese Gesundheitszustand – immer müde – wurde durch wechselnde Krankheiten verschlechtert.(...)
Politisch bin ich völlig isoliert, da ich östlich, hier aber alles amerikanisch orientiert ist. Und das heisst Aufrüstung, Remilitarisierung, Klerikofaschismus, Kulturlosigkeit und eine unerträgliche verlogene Phrasendrescherei, hinter der plattester Materialismus und Egoismus steckt. Es ist keine Lust, in diesem Westdeutschland zu leben. Im Osten ist, was menschliche Qualitäten vor allem angeht – wie könnte das nach dem Tausendjährigen Reich und ohne eigene Revolution anders sein! – auch vieles unerfreulich. Pieter und Hilde hatten viel davon zu berichten. Aber beide sind überzeugt, dass trotz allem dort der Aufbau, hier die kapitalistische Versumpfung ist.
Emil Oprecht hatte recht, als er uns nach Buenos Aires schrieb: Viel schlimmer als die Zerstörung der Städte ist die der Menschen. (...)

Nelly fand Arbeit in der Universitätsklinik von Buenos Aires als Sekretärin einer Kinderpsychologin. Sie arbeitete sich in die Materie ein und durfte mit der Zeit selbstständig psychologische Tests durchführen und Beratungen übernehmen. Jupp wurde krank. Anfangs war es eine harmlose Grippe, doch dann verschlimmerten sich die Symptome. Er hatte Schüttelfroste mit hohem Fieber, schwitzte Tag und Nacht, so dass Nelly ihm das Bett zwei bis drei Mal täglich wechseln musste. Sie kam mit Waschen nicht nach, jeden Tag hängte sie die Leintücher im Patio auf. Eines Tages erzählte er ihr, dass er morphiumabhängig sei, schon seit der Berliner Zeit. Die Ärztin, die ihn 1930 unter Anleitung von Doktor Sauerbruch nach einem Selbstmordversuch behandelt habe, sei morphiumabhängig gewesen. Über sie sei er zum Morphium gekommen. 

Am 12.9.1936 kam ihre Tochter Tina zur Welt, sechs Jahre später ihr Sohn Claudio. Nelly fand immer wieder kreative Lösungen, um mit ihrer Doppelbelastung umzugehen. Sie nahm Emigranten bei sich auf, welche die Kinder hüteten, oder sie verlegte einige Beratungen zu sich nach Hause. Jupp war meistens weg von Zuhause, entweder um künstlerisch weiter zu kommen oder weil er von der Militärregierung verfolgt wurde. Immer wieder fiel er in ein Morphium-Loch und fühlte sich nach einer schöpferisch-kreativen Phase depressiv und gereizt. Sie versuchte ihm zu helfen, schrieb ihm, er müsse sich disziplinieren, er solle nicht ins Bett gehen, ohne etwas gemalt oder geschnitten zu haben, auch wenn es nur das Tischbein sei. Sie vermittelte ihm Ärzte in ganz Argentinien. Diese stellten mit ihm Programme zusammen, um die Morphiumdosis langsam zu reduzieren, aber alle Versuche scheiterten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten viele Nazis nach Argentinien und wurden von Perón nicht zuletzt des Geldes wegen sehr freundlich aufgenommen. Auch in Bolivien, Paraguay und Chile übernahmen Nazifunktionäre wichtige Posten. Der antifaschistischen Bewegung blies ein steifer Wind entgegen, die reichen Leute wollten nach der Niederlage Deutschlands kein Geld mehr ausgeben für sozialistische Kunst, sie orientierten sich an den USA. Jupp bekam immer weniger Aufträge, deshalb arbeitete Nelly vermehrt an der Universitätsklinik.

1955 stürzte die Militärjunta der Generäle Aramburó und Lonardi Peróns Regime. Bei dem blutigen Staatsstreich kamen Tausende von Menschen ums Leben. Die Löhne wurden um 35-50 Prozent angehoben. Dies setzte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang, die das Geld fortlaufend entwertete. Auch in der Universitätsklinik fehlte das Geld, um die Rechnungen zu bezahlen. Eine Wäscherei weigerte sich, ohne Bezahlung zu liefern, und nur dank der Hilfe von Ärzten, die in ihre persönlichen Taschen griffen, konnte der Betrieb überhaupt aufrecht erhalten werden. Nelly wurde finanziell abhängig von ihrem Vater, der in der Schweiz einen Direktorenposten bei einer Versicherung inne hielt.
Die Militärjunta verschärfte die Kontrollen. Jupp und Tina, die beide bei den linken Sozialisten mitwirkten und bei vielen Protestaktionen dabei waren, mussten einmal die Woche zur Polizei, um Daumenabdrücke abnehmen zu lassen. 1961 folgte ein weiterer Militärputsch. Aus den Radios erschallten Militärmärsche und überall hingen Plakate mit der Aufschrift, dass alles besser werden würde. Der Staat glitt in reinsten Faschismus und wirtschaftlichen Ruin. 1962 flüchtete Jupp in die Schweiz, 1964 folgten ihm Nelly, ihre Tochter Tina und die vor wenigen Monaten auf die Welt gekommene Enkelin. Ihr Sohn Claudio blieb in Argentinien.

Zurück in der Schweiz trennten sich Jupps und Nellys Wege. Er lebte bei einer anderen Frau in Zürich. Im Zuge der 68er-Bewegung wurde er als Künstler wieder entdeckt und er erhielt Preise vom deutschen und später auch vom schweizerischen Gewerkschaftsbund. Nelly lebte mit ihrer Tochter und der Enkelin in einem Dreifrauenhaushalt. Gemeinsam mit einem Psychiater baute sie den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst in St. Gallen auf und half vielen Jungendlichen und Kindern, ihren eigenen Weg zu finden. In einem der letzten Gespräche, das ich wenige Monate vor ihrem Tod führte, sagte sie mir: „Ich bin neugierig auf den Tod. Stell dir all die Menschen vor, die gestorben sind. Es gäbe ganze Berge, wenn man sie auftürmen würde. Sie sind zu Erde geworden und leben auf irgendeine Art weiter. Im Wurm. Im Gras. Aber wo ist das, was den Menschen bewegte, was ihm wichtig war? Was geschieht mit seinen Innenräumen, Wünschen und Träumen? Ich bin überzeugt, dass auch da etwas übrig bleibt. Da muss etwas sein, das weitergeht.“ 

Auszüge aus: Nichts Menschliches ist mir fremd, Bernhard Brack-Zahner, AppenzellerVerlag, Herisau 2004 (s. Besprechung in dieser ila 276)

Bernhard Brack-Zahner: Nichts Menschliches ist mir fremd – Das Leben von Nelly-Meffert Guggenbühl,  Appenzeller Verlag, St. Gallen 2004, 174 Seiten € 25, 38 sf