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Die Daheimgebliebenen tanzen

Der Film „12 Tangos – Adiós Buenos Aires“
Britt Weyde

Die Argentinier stammen von den Schiffen ab – doch aus dem Einwanderungs- ist ein Auswanderungsland geworden. Diese Wanderungsbewegungen waren für den Kölner Filmemacher Arne Birkenstock Ausgangspunkt für seinen Film „12 Tangos – Adiós Buenos Aires“, der Anfang Dezember in die deutschen Kinos kommt. Entwurzelung, Melancholie, Sehnsucht und Abschied – selbst wer die Texte nicht versteht, kann anhand der Musik die großen Themen des Tangos erahnen. Birkenstock begeistert sich schon seit längerem für das Genre. „Tango und soziale Realität sind untrennbar verbunden“ meint er – was liegt also näher, als beides in einem Film zu vereinen?

Auch wenn zum Zeitpunkt des Drehs (nur sechs Wochen im Oktober 2004) die schlimmsten Monate bereits vorbei waren, so ist doch in Argentinien nichts mehr wie vor der Krise 2001. Auswanderung nach Europa scheint angesichts hoher Arbeitslosigkeit nach wie vor eine verlockende Alternative zu sein. „Die Daheimgebliebenen tanzen“, bemerkt der Sprecher des Films zu Beginn. Der Tango sei heute bei den jungen Leuten so beliebt wie in seiner Hochphase in den 30er Jahren. Zur Zeit seiner Entstehung Anfang letzten Jahrhunderts wurde er vorwiegend von den Angekommenen getanzt und gesungen. 

Die Musik ist nicht Beiwerk, sondern hat ihren festen Platz in der Dramaturgie des Films. Jedes der zwölf für den Film ausgesuchten Stücke gibt in Text oder Stimmung Teile der aufgezeigten Geschichten wieder. Und diese Geschichten erzählen vom Fall der argentinischen Mittelklasse. Da ist zum einen die Familienmutter Yolanda, die nach Spanien reisen will, um als Putzfrau Geld für die Abzahlung ihres Hauses zusammenzukratzen. Auch die 20jährige Marcela will nach Europa, um dort als Tangolehrerin ihr Glück zu versuchen. Ihr 71jähriger Tanzpartner Roberto ist ein ehemaliger Berufstänzer, der viel um die Welt gekommen ist und sich ein kleines Vermögen geschaffen hatte. Im Zuge der Krise und Währungsabwertung 2001 verlor er seine angesparte Rente. Die in der Regierung sind „alles Verbrecher“, die nicht ganz unschuldig daran sind, dass Roberto einen Herzinfarkt bekam.

Die folgende Szene zeigt Schulkinder, wie sie den corralito, das Einfrieren der Konten im Zuge der Bankenkrise, erklären: „Es gab einen Fehler im System.“ Archivbilder rekonstruieren die Ereignisse vom Dezember 2001, die Wut der Leute, Straßenschlachten und Polizeigewalt. Dazu singt die Tango-Rockband Las Muñecas das eigens für den Film komponierte Stück corralito. Abgesehen von diesem Einschub, der den Hintergrund der Krise grob nachzeichnet, konzentriert sich der Film auf seine drei Hauptgestalten. 

Aber auch dem extra zusammengestellten 26köpfigen Tangoorchester kommt eine Hauptrolle zu. Wie bei den ProtagonistInnen des Films sind auch im Orchester verschiedene Generationen vereint. Orchesterleiter ist der Gitarrist und Komponist Luis Borda, selber Wanderer zwischen den Welten: Er lebt seit acht Jahren in München, kommt aber immer wieder zurück. Für den Film hat er bekannte und weniger bekannte Tangos und Milongas neu arrangiert. Einige der besten InterpretInnen Argentiniens geben dem Film seinen wunderbaren Soundtrack: José Libertella am Bandoneón, Gründer des berühmten Sexteto Mayor, der zwei Monate nach Ende der Dreharbeiten starb. Streicher Mauricio Marcelli ist ehemaliges Mitglied des Orchesters von Aníbal Troilo; auch der bekannteste argentinische Jazz-Trompeter Juan Cruz de Urquiza ist mit dabei. Lidia Borda, die „beste Tangosängerin der Gegenwart“, und die 93jährige María de la Fuente, die einst die Orchester von Francisco Canaro und Astor Piazzolla begleitete, schenken dem Film ihre Stimmen, sowie Jorge Sobral, der ebenso einige Monaten nach den Dreharbeiten verstarb. 

Am präsentesten ist Robertos Geschichte. Der alte Charmeur tanzte in seiner Blütezeit vor 4500 Personen in Washington. Heute ist er zufrieden, wenn er mit seinen Freunden zusammen ist, ein Schnitzel essen kann und natürlich wenn er tanzt. Seine Tanzpartnerin Marcela findet er begabt und hübsch. Aber „alle jungen Argentinierinnen sind hübsch. Ich bin keine Schwuchtel.“ Doch Hübschsein ist nicht alles: „Mit hübschen Frauen kann man sich schmücken, sie wissen aber nicht, wie man ein Bügeleisen benutzt.“ Ein so tiefer Griff in die Machosprüchekiste schreit nach einem Kommentar, der prompt von María de la Fuente geliefert wird: „En Carne Propia“ thematisiert Verletzungen und Rachegefühle der Liebe. Neben den Anekdötchen des alten tangueros Roberto ist die Geschichte von Yolanda und ihren vier Kindern beklemmend real. Ein Abschiedsessen in gedrückter Atmosphäre, die Verabschiedung am Flughafen und schließlich das Interview mit den beiden Töchtern nach ihrer Abreise beschönigen nichts. 

Zurück zu Roberto – seine Bemerkung „Der Tango ist sehr anziehend“ wird von einer beeindruckenden Tanzsequenz verstärkt, in der zunächst nur Fußarbeit gezeigt wird. Gerade diese Beschränkung auf das Wesentliche macht daraus eine starke Szene. Später driftet sie leider ein wenig ins Klischeehafte ab, zu viel Schatten und Gegenlicht geben der Szene etwas Inszeniertes. Abgesehen davon fährt der Film glücklicherweise keinen stilisierten Kitsch auf. Die Bühne für unsere ProtagonistInnen und andere Tango-LiebhaberInnen ist keine schicke, touristenkompatible Tanguería, sondern La Catedral, ein ehemaliger Kornspeicher, laut der Tageszeitung Página 12 eine angesagte, aber immer noch eher unkonventionelle Adresse. Bleibt zu hoffen, dass sie das auch noch nach Aufführung des Films bleibt.

Startdaten und weitere Infos unter: www.12tangos.com