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Geschichte von unten

Neu aufgelegt: „Die vielköpfige Hydra – die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks“
Werner Rätz

Um es gleich vorweg zu sagen: Auch beim zweiten Lesen nach vielen Jahren (die Originalausgabe erschien bereits im Jahr 2000 und dann 2008 auf Deutsch ebenfalls bei Assoziation A) hat die Studie der beiden US-amerikanischen Historiker nichts von ihrer Faszination verloren. Wer das Buch noch im Regal stehen hat, kann mit Gewinn noch einmal reinschauen, wer es damals verpasst hat oder zu jung war, um es wahrzunehmen, wird viel neues Wissen und eine umfassende Einladung zu einem anderen Blick auf scheinbar bekannte Ereignisse finden.

Zentrales Moment dieses anderen Blicks ist es, auf die Menschen und die Aktionen zu schauen, die sich der Entwicklung jener Geschichte entgegengestellt haben, die sich dann doch durchgesetzt hat und die wir manchmal zu kennen meinen. Die Autoren wählen dafür das Bild des „buntscheckigen Haufens“, der „motley crew“, auf die sich auch Marx einmal bezieht. Auch den (in unserer Vorstellung ebenfalls mit Marx verbundenen) Begriff des „Proletariats“ verwenden sie für dieses Phänomen, ohne dass ihr Denken und ihre Sprache deshalb „marxistisch“ wären – das Proletariat leiten sie ausdrücklich sprach- und verfassungsgeschichtlich aus dem frühen Römischen Reich her, wo damit Menschen gemeint waren, die durch ihre Armut nichts zum Gemeinwesen beisteuern als Kinder, also Soldaten (S. 110).

Linebaugh und Rediker sind im strengen Sinne gewiss keine Marxisten, auch wenn Marx‘ Erkenntnisse und Analysemethoden wichtige Hilfsmittel für ihre Arbeit sind. Ihr Blick auf die Geschichte ist aber immer von unten geprägt, von den Aktionen der Ausgeschlossenen, Ausgegrenzten, die trotzdem gebraucht wurden, um die Arbeiten zu machen, ohne die der Kapitalismus nicht siegen konnte. Das war keine zusammenhängende Gruppe, keine „Klasse“, schon gar kein sich seiner selbst bewusstes „historisches Subjekt“, sondern eben ein „buntscheckiger Haufen“.

Die Autoren beschreiben mehrfach, wer dazugehört. Zum Beispiel setzte sich „das Tabakproletariat von Chesapeake“ (eine erste Tabakpflanzung in der ersten englischen Kolonie in Nordamerika, Virginia) „in seiner Frühzeit aus Insassen von Newgate (einem Gefängnis in London, d. Red.), Quäkern, Renegaten, Seeleuten, Soldaten, Nonkonformisten, Leibeigenen auf Zeit und Sklaven zusammen“ (S. 154). Und „auf der Insel Roanoke im Albermale-Sund ... (begannen) europäische und afroamerikanische Sklavinnen und Sklaven (einige in befristeter Schuldknechtschaft, andere auf Lebenszeit), Verbrecher, landlose Arme, Vagabunden, Bettler, Piraten und Rebellen aller Art unter dem Schutz der Tuscarora … dort zu leben“. Dieser Versuch, ein freies und selbstbestimmtes Leben aufzubauen, ist recht gut dokumentiert, seine Anführer werden benannt, darunter ein Tuscarora-Kriegshäuptling, ein afroamerikanischer Lotse und John Culpeper, der andernorts zweimal an Rebellionen beteiligt gewesen war, weiterhin einmal „das Vorhaben ersonnen und den Versuch unternommen hatte, die armen Leute dazu zu bringen, die Reichen auszuplündern“ (S. 157).

Das muss für eine Besprechung ausreichen, die Leser*innen werden zahlreiche weitere Stellen finden, an denen sie Menschen begegnen, die sie dort, wo sie sind, und bei dem, was sie tun, nicht erwartet hätten. Und immer wieder werden nicht nur Personen wie Culpeper auftauchen, die ausreichend Widerstandswissen akkumuliert haben, um Befreiungsversuche anführen zu können, auch die Ideen werden bewahrt und recycelt. Die „Quäker“ in unserem obigen Zitat waren ein Hinweis darauf, dass radikale, christlich inspirierte Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft von Gleichen, wie sie in der englischen Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts weit verbreitet waren, in Irland beim englischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg, in Nordamerika und in der Karibik bei der Kolonialisierung oder auch beim transatlantischen Sklavenhandel immer als alternative Möglichkeiten präsent waren.

Der „buntscheckige Haufen“ war in allen Befreiungsversuchen und -kämpfen dabei, keine der tatsächlichen „Entwicklungen war unvermeidlich; jede einzelne von ihnen wurde angefochten“ (S. 117) und alle scheinbar unterlegenen und begrabenen emanzipatorischen Ideen kamen wieder, bis, ja bis es zwei scheinbar entscheidende Siege der Befreiungskräfte gab, die sich letztlich gegen sie wandten.

Am US-amerikanischen Unabhängigkeitskampf hatte der „buntscheckige Haufen“ selbstredend teilgenommen, in der Unabhängigkeitserklärung hatten seine Interessen noch einen Widerhall gefunden, aber in der späteren Verfassung der dann unabhängigen USA wurde die Institution der Sklaverei festgeschrieben. Zunehmend wurde sie von da an allerdings rassifiziert, eine schon bei den britischen Autoritäten vorhandene Neigung, den „Haufen“ zu spalten, indem „Weiße“ bessere Bedingungen bekamen als „Schwarze“, nahm deutlich zu. Und nachdem 1791 in Haiti schwarze Sklav*innen eine erfolgreiche Revolution durchführten, eine eigene Regierung etablierten und darauf bestanden, dass dem ganzen „Menschengeschlecht“ (mehrfach, als eigenes Kapitel ab S. 302) gleiche Rechte und gleiche Würde zukomme, war es mit der Geduld der Regierungen endgültig vorbei. Sowohl England als auch das revolutionäre Frankreich führten brutale Kriege gegen das freie Haiti, während in England selbst Menschen gehängt wurden, weil sie das „wilde und Gleichmacherische Prinzip Universeller Gleichheit“ (Originalschreibung; S. 312) vertraten.

Der uns im Wesentlichen als Philosoph erinnerliche Francis Bacon, der aber auch Generalstaatsanwalt und Lordkanzler Englands war, hatte 1622 eine Abhandlung verfasst („An Advertisement Touching an Holy War“ – „Bekanntmachung in Angelegenheiten eines Heiligen Krieges“), über die heute noch gestritten wird. Der Wikipedia-Eintrag zu Bacon diskutiert, ob er damit „einen Heiligen Krieg gegen Muslime befürwortet“ habe. Das ist mitten im Dreißigjährigen Krieg eine sehr unwahrscheinliche Interpretation, eindeutig ist aber, dass Bacon zwar grundsätzlich das Tötungsverbot der Bibel bekräftigte, aber gleichzeitig „sieben Beispiele für ‚Menschenmassen‘ an(führte), die es verdienten, vernichtet zu werden: Westinder, Kanaaniter, Piraten, Landstreicher, Meuchelmörder, Amazonen und Wiedertäufer“ (S. 53).

Mit ein wenig Bibel- und Geschichtskenntnis lässt sich diese scheinbar sinnlose, willkürliche Zusammenstellung von Entmenschlichung entschlüsseln; die Autoren helfen uns dabei (S.76-81):

1. „Westinder, eine Bezeichnung, die auf jeden amerikanischen Native, ob in der Karibik oder in Nord-, Süd- oder Mittelamerika, angewandt worden wäre“.

2. „Kanaaniter, die ihr Land an die Israeliten verloren hatten – kurz, besitzlose Commoners“, d. h. „Tausende von Enteigneten in England, die wilden Iren … und die Afrikaner“.

3. „Piraten, ‚der gemeinsame Feind jeder menschlichen Gesellschaft‘“. Das zielt auf nordafrikanische Korsaren, die alleine in den 1620er-Jahren 20000 Männer in England und Irland gefangen hatten, zu denen aber auch massenhaft arme Engländer und verfolgte Iren überliefen („Renegaten“).

4. „Vagabunden, von Wegelagerern bis zu Kleindieben, … all derer, die die Lohnarbeit verweigern“.

5. „Meuchelmörder“, also alle die, die sich in irgendeiner Weise gegen die Könige auflehnen, was seinerzeit als Tyrannenmord (auch theologisch, s. 7.) gerechtfertigt wurde.

6. „Amazonen, deren ‚gesamte Regierung im Öffentlichen wie im Privaten, ja sogar deren Militär in der Hand von Frauen lag‘ … Öffentliche Unruhen wurden zu Bacons Zeit häufig von bewaffneten Frauen angeführt.“

7. „Wiedertäufer, die im Münster des 16. Jahrhunderts die Ansicht propagiert hatten, dass alle Dinge rechtmäßig seien“ jenseits der Gesetze, gemäß der „Empfindungen des Geistes“, also des eigenen Gewissens. „Dies war das Gespenst des Kommunismus. Bacon wollte ‚sie vom Antlitz der Erde vertilgen‘.“

Hiermit haben wir eine vollständige Beschreibung des „buntscheckigen Haufens“, aber auch eine nach wie vor aktuelle Liste der nicht nur von autoritären Regierungen für Feinde der öffentlichen Ordnung gehaltenen Gruppen. Das im Titel verwendete und im Buch vielfach ausgeführte Bild der Hydra will sagen, dass deren „Köpfe“, diese rebellischen Gruppen, aber nicht ausgerottet werden können. Zwar wird Krieg gegen sie geführt, maßlose Gewalt gegen sie angewandt, aber die Köpfe wachsen nach, die Ideen kommen zurück, der Widerstand wird besiegt, aber nicht beendet.

Linebaugh und Rediker haben ein optimistisches Buch geschrieben, obwohl sie fast nur Entwicklungen schildern, die eher zum Fürchten als zum Freuen animieren. Zwar waren „die frühen 1780er-Jahre eine innovative Zeit, … in der die Definition dessen, was es bedeutete, ein menschliches Wesen zu sein, neu gefasst wurde“, aber gleichzeitig bildete „sich die biologische Kategorie der ‚Rasse‘ heraus“ und „die politische und wirtschaftliche Kategorie der Klasse entstand. … Was als Unterdrückung begann, entwickelte sich zu zwei einander ausschließenden narrativen Entwürfen, die unsere Geschichte verdeckt haben.“ (S. 388)

Linebaugh und Rediker sagen, dass der „Arm der Globalisierungsmächte lang und ihre Ausdauer endlos“ sei. Und so haben sie auch ein aktivistisches Buch geschrieben, denn nur wenn viele es sich zu eigen machen, kann eintreten, was sie im Schlusssatz schreiben: „Die Weltenwanderer vergessen nicht und sind – von Afrika über die Karibik bis Seattle (dort war unmittelbar vor Erscheinen des Buches eine Ministerkonferenz der WTO blockiert worden, d. Red.) – immer bereit, sich der Sklaverei zu widersetzen und das Gemeineigentum wiederherzustellen.“ (S. 389)